Streiks in Österreich gegen die Pensionsreform

Im Mai und Juni dieses Jahres streikten in Österreich an drei Tagen (6. Mai, 13. Mai und 3. Juni) eine dreiviertel Million Arbeiter und Angestellte, das sind ein Viertel der Beschäftigten, gegen die Pensionsreform (= Rentenreform) der rechten Regierung Schüssel. Am 13. Mai wurde eine zentrale Demonstration in Wien abgehalten, an der sich ca. 150.000 beteiligten. Diese Streiks fanden gleichzeitig zu den Streiks gegen die Pensionsreform in Frankreich statt.

Seit einem halben Jahrhundert kaum Streiks

In einem Land, das seit einem halben Jahrhundert fast keine Streiks gesehen hat und von fast absolutem sozialem Frieden gekennzeichnet war, stellen diese breiten Streiks doch etwas Neues dar. Wenn sie auch vom Gewerkschaftsbund (ÖGB - das Pendant zum DGB) durchgeführt wurden, so zeigen sie doch, dass die Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiter inzwischen ein solches Ausmaß angenommen haben, dass es sich die Gewerkschaften nicht mehr leisten können, ihre Streikvermeidungsstrategie ewig durchzuhalten.

Die letzte Streikwelle ereignete sich 1950 (!) - sie stand im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Wirtschaft nach dem Zweiten Imperialistischen Weltkrieg und wurde damals von stalinistischen und linken sozialdemokratischen Betriebsräten gegen den Willen der Gewerkschaftsführung durchgeführt. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung unterstützte damals den Lohnraub der Koalitionsregierung aus ÖVP und SPÖ (christlichsozial und sozialdemokratisch). Der Gewerkschaftsbund und die Sozialistische Partei (SPÖ) hatte die damalige Streikwelle übrigens als Kommunistenputsch verunglimpft.

Was steckt nun dahinter, dass der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) auf einmal breite Streiks in mehreren Sektoren gleichzeitig durchführt? Hat er sich nun plötzlich dazu aufgerafft, die Interessen der Lohnabhängigen kämpferisch wahrzunehmen? Möchte er sein Image in der Arbeiterklasse retten oder wiederherstellen, um die Kontrolle über die Arbeiter behalten zu können? Oder ist das Ganze nur ein Täuschungsmanöver zur Demoralisierung der Arbeiterklasse?

Die Pensionsreform: riesige Einschnitte

Zunächst einmal die Fakten.

Im März veröffentlichte die schwarz-blaue rechte Regierung Schüssel (bestehend aus der christdemokratischen ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ) ihr Konzept einer radikalen Pensionsreform, die tiefe Einschnitte in die künftigen Pensionen (= Renten) vorsah. Die Eckpunkte:

  • Sofortige Abschaffung der Frühpension
  • Erhöhung des Pensionsalters von 61,5 auf 65 Jahre, bei früherem Antritt Abschläge
  • Verminderung des Werts des einzelnen Versicherungsjahres um 11 %, sodass die volle Pension (80 % der Bemessungsgrundlage) statt nach bisher 40 Jahren erst nach 45 Versicherungsjahren erreicht wird. Bei der gleichen Anzahl von Versicherungsjahren wird die Pension durch diese Maßnahme um 11 % gesenkt.
  • Erhöhung des Durchrechnungszeitraums von 15 auf 40 Jahre. D.h. die Bemessungsgrundlage der Pension (80 %) ist nicht mehr der Lohn- oder Gehaltsdurchschnitt der besten 15 Jahren des Erwerbslebens (bei den Beamten bis vor kurzem noch das letzte Jahr), sondern der Durchschnitt von 40 Jahren. Diese Maßnahme soll schrittweise eingeführt werden, jedes Jahr soll der Durchrechnungszeitraum um 1 Jahr erhöht werden, 2028 soll er dann 40 Jahre betragen. Die Erhöhung des Durchrechnungszeitraums um 1 Jahr bedeutet im Schnitt eine Pensionssenkung von 1 %. Allein die vorgesehene Ausdehnung um 25 Jahre, gültig für die, die in 25 Jahren (2028) in Pension gehen (die heute unter 40-Jährigen), bedeutet also eine Pensionssenkung um 25 %!!

Alle diese Maßnahmen zusammen bedeuten eine sofortige Senkung der Pensionen (für die, die nächstes Jahr in Pension gehen) um 12-15 %, die Verluste steigen aber durch die Erhöhung des Durchrechnungszeitraums auf bis zu 30 bis 40 % (in 25 Jahren). Und das trotz Verlängerung des Arbeitslebens! Kann man nicht bis zum 65. Lebensjahr arbeiten (wegen der Arbeitsmarktsituation o. Ä.), sind die Verluste wegen der Abschläge noch höher. Eine absolut brutale Reform also.

Breiter Unmut - Gewerkschaften unter Druck

Der Unmut über solche tiefe Einschnitte war bei den Arbeitern und Angestellten zum großen Teil gewaltig, auch bei solchen, die sich bis jetzt nicht viel Gedanken über den laufenden Sozialabbau gemacht haben. Die Gewerkschaften gerieten unter Druck. Innergewerkschaftlich drängten viele Mitglieder und Betriebsräte zum Streiken.

Die Gewerkschaftsführungen waren außerdem seit längerem frustriert über die Zurückdrängung ihres Einflusses unter der rechten Regierung Schüssel. Unter den sozialdemokratisch geführten Regierungen (1970-98) waren die Gewerkschaften zusammen mit der Arbeiterkammer und den Unternehmerverbänden in den Gesetzgebungsprozess stets eingebunden („Mitwirkung der Sozialpartner“), die Regierungen suchten den Konsens mit den Gewerkschaften. Die seit 1999 an der Macht befindliche Rechtsregierung verzichtete bei der Planung der sozialen Einschnitte (Gesundheitsreform usw.) auf die Mitwirkung der Gewerkschaften, vieles wurde trotz des Neins des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammern durchgezogen, um die „Reformvorhaben“ nicht zu verwässern. So auch bei der aktuellen Pensionsreform.

Die Gewerkschaften forderten nun, an der Pensionsreform mitwirken zu dürfen. Ansonsten werde gestreikt. Sie kritisierten die Regierung, die Sozialpartnerschaft aufgekündigt zu haben, und forderten deren Wiederherstellung - nur so könne „der soziale Friede gewahrt bleiben“. Der ÖGB bekannte sich zu einer Pensionsreform, kritisierte aber den überfallsartigen Charakter und die Radikalität der aktuellen Reform. Er forderte a) längere Übergangsfristen und b) eine generelle Abmilderung der Maßnahmen. Gleichzeitig forderte der ÖGB eine Harmonisierung der Pensionssysteme (mehr Gerechtigkeit) als Voraussetzung einer „echten Reform“. Interessanterweise wurde der Gewerkschaftsbund bei seiner Forderung nach Einbindung in die Reform von der Unternehmervertretung (Wirtschaftsbund) unterstützt. So forderten der Gewerkschaftsbund und der Wirtschaftsbund“ in sozialpartnerschaftlicher Gemeinsamkeit „die Mitwirkung der Sozialpartner“.

Die Streiks vom Mai

Da die Regierung, eine Verwässerung der Reform befürchtend, auf diese Forderungen nicht einging, waren die obersten gewerkschaftlichen Streikvermeider vom ÖGB um Fritz Verzetschnitsch zum Handeln und das heißt zum Streiken gezwungen, wenn sie nicht völlig das Gesicht verlieren wollten. Wie ungern sie es taten, zeigt, dass sie einen für Ende April angekündigten Streik zunächst wieder absagten.

Für 6. Mai rief der Gewerkschaftsbund dann zum breit angelegten Streik auf: Es streikten die Beschäftigten der öffentlichen Verkehrsmittel (Eisenbahn, Busse, U-Bahn Wien, Flughafen), die Beschäftigten von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Arbeitsämter, Müllabfuhr und zentrale Postämter sowie von größeren Industriebetrieben (z.B. VÖEST-Alpine, Vereinigte Edelstahlwerke oder BMW Steyr, aber auch hunderte andere) und einigen Banken und Versicherungen. Vielerorts wurden überbetriebliche Betriebsversammlungen auf öffentlichen Plätzen und Straßen durchgeführt, was den Verkehr blockierte. Es gab vereinzelte Klagen und Disziplinarmaßnahmen gegen einzelne Betriebsräte, z.B. wegen Blockierung eines zentralen Verteilungspostamts durch die dortigen Beschäftigten.

Der ÖGB vermied aber einen Generalstreik und sorgte dafür, dass die Wirtschaft nicht zu stark durch den Streik getroffen wurde. Schließlich sei der Gegner nicht „die Wirtschaft“, sondern die Regierung. Weite Teile der Privatwirtschaft, vor allem die kleinen und mittleren Betriebe und der gesamte Handel, streikten nicht, obwohl die Beschäftigten genauso von der Reform betroffen waren.

Zweiter Streiktag 13. Mai

Als die Regierung nach dem ersten Streiktag nicht einlenkte, führte der Gewerkschaftsbund eine Woche später, am 13. Mai, einen weiteren Streiktag durch. Es streikten wieder dieselben Sektoren. In Wien wurde an diesem Tag eine zentrale Großdemonstration abgehalten - mit gewerkschaftlichen Sonderzügen und Bussen aus den Bundesländern. Ca. 150.000 nahmen an der Demonstration teil. Genau an diesem Tag erreichten übrigens die Streiks und Demonstrationen gegen die Pensionsreform in Frankreich einen Höhepunkt, und diese Gleichzeitigkeit wurde von vielen auch wahrgenommen. Auf der Demonstration spuckten die Gewerkschaftsoberen wie immer große Kampftöne. Die Stimmung war generell kämpferisch, viele Demonstrationsteilnehmer bzw. Arbeiter forderten eine Fortführung der Streiks. Wir verteilten Flugblätter auf der Demo.

Gespräche Regierung - Gewerkschaft und nochmals Streik

Der ÖGB setzte die Streiks am nächsten Tag aus, denn nun willigte die Regierung endlich in Gespräche ein. Ein sogenannter Runder Tisch wurde ins Leben gerufen, an dem Vertreter der Regierung und der Sozialpartner (Gewerkschafts- und Unternehmervertreter) die Reform aushandeln sollten. Die Arbeiter waren wieder in die Rolle von Zuschauern von Verhandlungen verbannt. Nun „rebellierte“ plötzlich auf Betreiben von Jörg Haider der populistische Flügel der FPÖ, der sich wieder einmal als Vertreter des „kleinen Mannes“ profilieren wollte. Einige FPÖ-Vertreter verweigerten also der Reform ihre Zustimmung. Auch sie forderten Abmilderungen der Einschnitte bzw. eine „Solidarabgabe“ auf sehr hohe Pensionen, z.B. Politikerpensionen. Die Reform hätte also keine Mehrheit mehr im Parlament gefunden. Somit mussten die beinharten Reformer um Bundeskanzler und ÖVP-Chef Schüssel ein wenig nachgeben. Für einige Maßnahmen wurden nun Übergangsfristen eingeführt, und die Pensionsverluste wurden mit 10 % begrenzt. Diese Verlustbegrenzung soll zumindest 20 Jahre gelten. (Eine Garantie für diese ganze Zeitspanne wollte jedoch kein Regierungsvertreter abgegeben.)

Der Gewerkschaftsbund stimmte rein äußerlich dem Kompromiss nicht zu, beendete die Gespräche mit der Regierung und veranstaltete einen dritten Streiktag: am 3. Juni (auch das übrigens wieder ein Tag der Demonstrationengegen die Pensionsreform in Frankreich). Wieder streikten die öffentlichen Verkehrsmittel, Teile des öffentlichen Diensts, die Schulen und die großen Industriebetriebe. Am nächsten Tag erklärte der Gewerkschaftsbund die Streiks für beendet. Innerlich stimmte er vermutlich den Kompromissen zu, ohne dies offen zuzugeben. Die Regierung ließ die Reform in der veränderten Fassung im Parlament beschließen. Die ÖVP-Gewerkschafter (z.B. Beamtenvertreter) stimmten der Reform im Parlament zu, nachdem die Verlustbegrenzung von 10 % zugesagt wurde.

Streiks standen unter der Kontrolle der Gewerkschaften

Die Tatsache, dass mit dem „Streik Ende“-Aufruf des ÖGB die Streiks tatsächlich beendet waren, zeigt, dass die Gewerkschaften die Kontrolle über die Streikenden voll behalten hatten. Die Arbeiter hatten zwar den ÖGB zum Streiken gedrängt, doch dem Verfasser ist zumindest keine Situation bekannt, in der Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften vorgegangen wären. (In Westösterreich gab es eine Demonstration einer Unabhängigen Lehrergewerkschaft, die sich schon 2 Jahre zuvor vom ÖGB losgelöst hatte.) Somit konnten auch keine Erfahrungen in Richtung auf einen weiter gehenden Klassenkampf gemacht werden. Es fehlte eine stärkere revolutionäre Organisation, die kampfbereite Arbeiter in Richtung auf eigenständige Aktionen unterstützen hätte können. Die allgemeine Botschaft nach dem Ende der Streikbewegung (aus dem ÖGB und in den Medien) war: „Die Gewerkschaften haben versucht, die Reform zu verhindern, mehr als diese Abmilderungen war aber eben nicht drin, für mehr hat die Mobilisierungsfähigkeit nicht gereicht. Es war zwar eine Niederlage, aber eben nur eine partielle. Auch die Regierung hat eine Lektion erhalten, ihr ist klar gemacht worden, dass sie nicht alles radikal durchsetzen kann.“ In Wirklichkeit sind die Mobilisierungsmöglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft worden. - Außerdem sagen auch viele Arbeiter und Angestellte: Aufgrund der demographischen Entwicklung (immer mehr alte Menschen) ist eine Reform unumgänglich - aber eben in Maßen.

Die angepeilte „Harmonisierung der Pensionssysteme“ - ÖGB arbeitet mit

Eine Hauptforderung des Gewerkschaftsbundes während der Streiks war, wie oben bereits angedeutet, eine „gerechte“ „Harmonisierung der verschiedenen Pensionssysteme“, d.h. die Zusammenlegung der Pensionssysteme der Arbeiter und Angestellten, der Beamten, der Bauern und der Gewerbetreibenden - wobei die höheren Beamtenpensionen nach unten angepasst werden sollten. Dies war auch die kapitalistische Hauptforderung in den Medien. Unter dem Titel „Pensionsharmonisierung“ hecken die Regierung, der Gewerkschaftsbund und die Unternehmervertreter gegenwärtig sozialpartnerschaftlich wie in alten Tagen ein neues Pensionssystem für die unter 35-Jährigen aus. Dieses soll genau die tiefen Einschnitte (minus 30 bis 40%) bringen, gegen die der ÖGB gerade streiken ließ. D.h. der Gewerkschaftsbund fordert aufgrund der demographischen Situation für die heute jüngere Generation genau die Eckpunkte einer Reform, die er für die über 40-Jährigen gerade noch bekämpft hat. Für die Jüngeren soll nämlich die jetzt ausverhandelte 10%-ige Verlustbegrenzung nicht mehr gelten. Die Generation der unter 35-Jährigen ist zwar genauso wie die Älteren den Streikaufrufen des ÖGB gefolgt, sie muss aber riesige Pensionsverluste, die vom ÖGB unterstützt werden, hinnehmen.

Wenn die Streiks auch vom ÖGB geführt und kontrolliert wurden, so geben die Streiks doch Anlass zur Hoffnung, dass die Zeit des sozialen Friedens aufgrund der kapitalistischen Angriffe mehr und mehr zu Ende geht.

Im Oktober streikten für einige Tage die Piloten der nationalen Fluglinie AUA (gegen drastische Lohnkürzungen), bei den Eisenbahnen wird aufgrund der großen Umstrukturierungen durch die Regierung und den Bahnvorstand ein Streik gefordert.