Stalinismus ist Antikommunismus!

Wer heute die Frage sozialer Emanzipation aufwirft, kommt um eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus nicht herum. Auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR lasten die traumatischen Erfahrungen mit dem Stalinismus nach wie vor „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“. Es vergeht kein Tag, an dem nicht versucht wird, den Stalinismus als „real existierenden Sozialismus“ darzustellen, um die Botschaft in die Köpfe zu hämmern, dass der Kapitalismus bei all seinem Nachteilen nicht nur das beste, sondern das einzig mögliche Gesellschaftssystem sei. Nach wie vor gibt es noch immer eine beträchtliche Anzahl vorgeblich “linker“ Organisationen und Strömungen, die sich positiv auf den Stalinismus beziehen. Und auch wenn der Stalinismus zuweilen kritisch gesehen und reflektiert wird, hält sich in weiten Teilen der Restlinken die Vorstellung, dass die stalinistischen Regime in irgendeiner Form „sozialistisch“ oder zumindest „antikapitalistisch“ waren. Derweil lässt die kapitalistische Propagandamaschine nichts unversucht, um den Terror des stalinistischen Systems als logische Folge der Oktoberrevolution dazustellen.

Bevor wir auf den Stalinismus und die Degeneration der Russischen Revolution im Detail eingehen, ist es notwendig sich den analytischen Rahmen zu veranschaulichen, in dem diese Ereignisse eingeordnet werden müssen. Dieser Analyserahmen wurde in seinen Grundzügen von Marx entworfen und von der linkskommunistischen Opposition sowohl innerhalb wie außerhalb der bolschewistischen Partei in den 20er-Jahren in Russland weiterentwickelt. Karl Marx hatte bereits aufgezeigt, dass der Sozialismus ohne die Entwicklung der Produktivkräfte und ohne eine entwickelte Arbeiterklasse unmöglich ist. So gesehen gab es daher weder 1917 noch 1925 oder 1928 eine Möglichkeit im ökonomisch rückständigen und isolierten Russland eine sozialistische Entwicklung einzuleiten. Gleichwohl hatten sich aber auf internationaler Ebene die globalen Produktivkräfte und das globale Proletariat 1914 bereits zur Genüge entwickelt, um diese Aufgabe im Weltmaßstab anzugehen. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges hatte bereits eindringlich die Barbarei und historische Überlebtheit des Kapitalismus vor Augen geführt. Die Revolution von 1917 wurde mit der Perspektive begonnen, dass sie nur ein erster Schritt einer internationalen Revolution sein könne, um so die Voraussetzungen für eine weltweite sozialistische Transformation zu schaffen. Durch das Scheitern der Revolutionen in Europa zerschlugen sich jedoch diese Hoffnungen. Angesichts dieser Bedingungen konnte, wie Marx es erwartet hatte, die Rückschrittlichkeit Russlands nur auf dem Wege kapitalistischer Entwicklung überwunden werden. Das Regime, welches sich in Russland nach dem Zusammenbrach der revolutionären Aufstände von 1917 bis 1921 herausbildete, führte notwendigerweise die Aufgaben einer bürgerlichen Revolution, d.h. die Entwicklung des russischen Kapitalismus durch. Auch wenn diese Entwicklung durch einen Staatskapitalismus und nicht durch einen Privatkapitalismus durchgeführt wurde, was der Weg des europäischen Kapitalismus im 19. Jahrhundert gewesen war, war sie nichtsdestotrotz kapitalistisch. Dieser Text setzt sich zum Ziel, diesen Prozess näher zu beleuchten, um so die Unterschiede zwischen der Errichtung des Kommunismus und der barbarischen staatskapitalistischen Gesellschaftsstruktur, die durch den Stalinismus hervorgebracht wurde, deutlich herauszuarbeiten.

Der Mythos Stalin

Die Fragen, die durch den Stalinismus aufgeworfen wurden, sind so umfangreich, dass ein kurzer Text schwerlich auf alle Probleme einer modernen revolutionären Bewegung eingehen kann. Wir treffen immer wieder auf Menschen, die von sich behaupten, „Revolutionäre“ zu sein, aber keine Ahnung haben, was darunter zu verstehen ist. Einige von ihnen, die sich häufig auf den Maoismus beziehen, argumentieren, dass Stalin trotz „einiger Fehler“ dennoch „den Sozialismus“ aufgebaut und die Sowjetunion weiterentwickelt und modernisiert habe. Was diese Leute an Stalins (oder Maos) „Kommandowirtschaft“ bewundern, ist weniger die Tatsache, dass diese angeblich „sozialistisch“ gewesen sei, sondern der Umstand, dass es gelungen ist unter besonderen Bedingungen (dem Fehlen einer starken Privatbourgeoisie und dem Druck anderer Imperialismen) einen starken modernen Staat zu schaffen. Kurz gesagt bewundern sie Stalin (oder Mao) dafür, die bürgerliche Aufgabe eines forcierten Industrialisierungsprozesses durchgeführt zu haben. Wir werden auf die Frage des Klassencharakters dieses Gesellschaftssystems später zurückkommen. Schauen wir uns zunächst Stalins wirkliche „Verdienste“ in der Sowjetunion an.

Zunächst muss man feststellen, dass Stalin mit seiner Auffassung, dass die isolierte Sowjetunion zügig industrialisiert werden müsse nicht alleine da stand. Alle Debatten in den Führungszirkeln der Kommunistischen Partei drehten sich im um die Entwicklung der Industrie. Die Frage war nur, wie mit dem dominierenden Sektor der Gesellschaft, der Bauernschaft, umzugehen sei. In den früheren 20er-Jahren hatten Trotzki und seine Anhänger für eine stärkere Besteuerung der Bauernschaft argumentiert, um so eine „primitive sozialistische Akkumulation“ (die Formulierung kam von Preobrashenski, einem zeitweiligen Weggefährten Trotzkis,) einzuleiten. Die sog. „Rechte Opposition“ um Nikolai Bucharin trat dem entgegen. Sie argumentierte, dass die Neue Ökonomische Politik (NEP) weiter fortgesetzt werden müsse, um in beschränktem Maße der Bauernschaft eine private Warenproduktion zu erlauben. Stalin hielt sich in diesen Debatten zunächst zurück. 1928 hatte er aber seine Machtbasis im Partei- und Staatsapparat ausreichend befestigt, und ging daran sein eigenes Industrialisierungsprogramm gewissermaßen im Eiltempo und auf dem Rücken der Arbeiterklasse umzusetzen. Um aus den Bauern mehr Profit herauszupressen, forcierte er auf eine Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die in einer absoluten Katastrophe endete. Viele Bauern (und nicht nur die reichen Kulaken) widersetzten sich den brutalen Zwangsmaßnahmen, indem sie ihr Getreide verbrannten, ihr Vieh schlachteten und sich weigerten neues Saatgut zu pflanzen. 1930 erkannte Stalin die Fehlentwicklungen und machte in einem Artikel in der Parteizeitschrift „Prawda“ erfolgsbesessene Bürokraten für das Desaster verantwortlich. Das bedeutete jedoch nicht, dass der Katastrophe Einhalt geboten wurde. Das Programm der Kollektivierung wurde nur kurzzeitig außer Kraft gesetzt, um dann mit der gleichen Brutalität wieder aufgenommen zu werden.

Es wird geschätzt, dass 1932 ca. 60% der Bauern in Kolchosen zusammengefasst waren. Gleichzeitig war aber die landwirtschaftliche Produktion nahezu eingebrochen. Millionen Menschen starben durch Massenexekutionen, Deportationen und Hungersnöte. 1934 wurde das Gebiet der Ukraine, der wichtigsten Getreideanbaufläche der UdSSR militärisch abgeriegelt, um zu verhindern, dass Informationen über die Massen an Hungertoten an die Öffentlichkeit drangen.

Selbst in westlichen Schulbüchern, die zu Hochzeiten des Kalten Krieges verfasst wurden, wurden die beachtlichen Erfolge des Fünfjahresplans lobend hervorgehoben, die dazu geführt hätten, dass sich die Sowjetunion von einem rückschrittlichen Land zu einer Supermacht gewandelt habe. Allerdings sollte man sich genau ansehen, wie und unter welchen Bedingungen diese angeblichen „Erfolge“ erreicht wurden. 1931 stellte Stalin in einer Rede seinen Untertanen die rhetorische Frage, warum das alte Russland immer wieder gegen „mongolische Khans, türkische Beys, englisch-französische Kapitalisten und japanische Barone“ verloren habe und lieferte die Antwort gleich mit:

Wir sind hinter den fortgeschritteneren Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir es zuwege, oder wir werden zermalmt (1).

Unter dieser Prämisse wurde die gesamte sowjetische Gesellschaft mobilisiert, um die staatlicherseits festgelegten (unrealistischen) Planziele zu erfüllen. Konsumgüter verschwanden aus dem Läden, endloses Schlangestehen für die notwendigsten Dinge des Lebens wurde zum Alltag, Rationalisierungen griffen immer weiter um sich, die Löhne wurden drastisch gekürzt, während die Preise ins Unermessliche stiegen. Die Lohnunterscheide und soziale Ungleichheit wurden so offenkundig wie in den westlichen Ländern.

Um die Ziele des Fünfjahresplans zu erfüllen, mussten Maschinen und technische Ausrüstung aus dem Ausland gekauft und mit Export von Getreide, das aus den Bauern herausgepresst wurde, bezahlt werden. Hunger und weitere Verelendung der Bevölkerung stellten die Grundlage dieser forcierten Kapitalakkumulation dar. Unpünktlichkeit und Fernbleiben vom Arbeitsplatz wurden als kriminelle Vergehen verfolgt. Die Geheimpolizei NKWD stellte die Einhaltung und Steigerung der Arbeitsdisziplin sicher, indem sie sog. „Saboteure“, d.h. Menschen die ihre Planziele nicht erfüllt hatten verhaftete und hinrichtete. Während Terror, Ausbeutung und Elend den Alltag bestimmten, versicherte Stalin seinen Untertanen, dass „das Leben leichter, fröhlicher“ werde.

Der Terror

Der Personenkult nahm derweil die bizarrsten Formen an. Ein Gedicht in der Parteizeitung Prawda pries 1936 Stalin „als die Sonne, die Millionen Herzen strahlen lasse“. 1934 feierte die Partei die Ergebnisse des Fünfjahresplans, indem eine lange Liste völlig übertriebener Zahlen verlesen wurde. Auf diesem Parteikongress „der Sieger“ bahnte sich die nächste Katastrophe an: In einer geheimen Abstimmung zur Wahl des Zentralkomitees hatten der äußerst populären Parteifunktionär Sergej Kirow mehr Stimmen als Stalin erhalten. Eine beispiellose Kränkung für Stalin. Wenige Monate später, am 1. Dezember 1934 wurde Kirow in Leningrad ermordet aufgefunden. Als Attentäter wurde ein enttäuschtes Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes verhaftet, und unter mysteriösen Umständen ohne Prozess hingerichtet. Stalin nutzte dieses Attentat um eine gigantische Terrorwelle gegen potentielle Rivalen im Partei- und Staatsapparat einzuleiten. 1936 wurden die einstigen Verbündeten Stalins Kamenew und Sinowjew in einem Schauprozess abgeurteilt. Es setzte eine Repressionswelle ein, der in erster Linie Mitglieder der Kommunistischen Partei zum Opfer fielen. Sie wurden durch Folter zu allerlei kruden Geständnissen gezwungen, in Schauprozessen abgeurteilt und „verschwanden“ in den Straflagern des GULAG. Doch der Terror der Säuberungswellen traf nicht nur tatsächliche oder vermeidliche Konkurrenten Stalins sondern auch ganz normale langjährige Parteimitglieder. 15 bis 20 Millionen Menschen wurden in die Arbeitslager des GULAG verschleppt. Durch die faktische Ausrottung einer ganzen Generation von KommunistInnen schuf sich Stalin einen Staatsapparat, dessen Funktionäre und Kader ausschließlich ihm persönlich ergeben waren. Wer den Terror überlebt hatte, verdankte sein Leben und seine Privilegien Stalin.

Den Massakern an KommunistInnen folgte die fast vollständige Liquidierung des Offizierskorps der Roten Armee. 1939 schloss Stalin mit den Nazis den berüchtigten Nachtangriffspakt. Der sog. „Hitler-Stalin-Pakt“ war eine herbe Enttäuschung für all jene ArbeiterInnen und KommunistInnen, die Stalins „Antifaschismus“ für bare Münze genommen hatten. Als besonderer Treuebeweis an Hitler wurden deutsche KommunistInnen, die vor den Nazis in der UdSSR Zuflucht gesucht hatten, an die Gestapo ausgeliefert. Aber auch dieser Schachzug stand auf tönernen Füßen. Stalin hatte Hitlers Versprechungen ernsthaft Glauben geschenkt. Als die Nazis am 22. Juni 1941 die UdSSR angriffen, war er wie vor den Kopf geschlagen. Er weigerte sich die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und gab über zwei Tage keine Befehle zur militärischen Verteidigung heraus. Als sich das Politbüro zu einer Sitzung versammelte, fürchtete er ernsthaft abgesetzt zu werden. Seine Macht war jedoch ungebrochen und so konnte er 11 Tage nach der deutschen Invasion eine Politik der verbrannten Erde verkünden. Zu dieser Zeit waren jedoch schon tausende Menschen von der Wehrmacht getötet worden oder auf dem Weg in die Konzentrationslager der Nazis. Es verwundert kaum, dass Stalin die Überlebenden der Nazilager nach 1945 in den GULAG deportiert ließ, um lästige Zeugen seiner kriminellen Torheit loszuwerden. Die Sowjetunion überlebte den deutschen Angriff trotz und nicht wegen Stalin. Es war weniger der „Genius Stalin“ sondern die barbarischen Methoden des „Vernichtungskrieges“ der Nazis, die die SowjetbürgerInnen zur Verteidigung von „Mütterchen Russland“ mobilisierten. Der Nationalismus, mit dem in Russland für den „Großen Vaterländischen Krieg“ getrommelt wurde, war jedoch für Stalins Politik konstitutiv. Gegenüber westlichen Journalisten bezeichnete er die Bestrebung zur Weltrevolution als ein „tragikkomisches Missverständnis“ (2). 1943 ließ Stalin als Zugeständnis an die westlichen Alliierten die Kommunistische Internationale auflösen, was einmal mehr zeigte, inwieweit die UdSSR zum Bestandteil des imperialistischen Machtgefüges geworden war.

Produktionsweise

Es gibt heute eine neue Generation von politisch aktiven Menschen, die sich als AntikapitalistInnen verstehen aber davor zurückschrecken eine klare Alternative zum Kapitalismus zu formulieren. Diese Menschen, die sich gegen Umweltzerstörung, Krieg und „Globalisierung“ engagieren, stehen oft unter dem Einfluss von Leuten wie bspw. Naomi Klein, die glauben, dass der Kapitalismus dazu gebracht werden könne zum Wohle der Menschen zu funktionieren. Was sie nicht verstehen ist, dass nur eine Veränderung der Art und Weise wie wir die Dinge, die wir zum Leben brauchen, produzieren, d.h. nur eine Veränderung der Produktionsweise wirkliche Veränderungen bringen kann. Der Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung von Lohnarbeit. Nur menschliche Arbeit schafft den Wert, den sich das Kapital aneignet und die Arbeitskraft zu einer Ware macht. Die einzige Perspektive aus dieser Tretmühle ist der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, in der nicht für den Profit, sondern für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert wird. Davon war der Stalinismus jedoch weit entfernt. Stalin schuf zu seinen Lebzeiten nicht nur eine wahre Hölle für KommunistInnen, sondern unterwarf die ArbeiterInnenklasse einer beispielslosen Ausbeutung. Es reicht nicht aus Stalin und den Stalinismus einfach nur politisch zurückzuweisen, wie es bspw. die TrotzkistInnen tun. Eine kohärente Kritik des Stalinismus kann nur auf der Wiederaneignung der marxistischen Definition des Kommunismus basieren:

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung (3).

Als Ausdruck der Selbstemanzipation der Ausgebeuteten und Unterdrückten richtet er sich der Kommunismus gegen die Idee eines Staates, der angeblich das Recht hätte über uns zu entscheiden und uns zu unterdrücken. Gerade aus den Erfahrungen der Russischen Revolution, die so tragisch im Stalinismus endete, lassen sich jedoch wichtige Lehren für eine zukünftige kommunistische Perspektive ziehen. Besonders das Entstehen von Räten zeigte, wie Millionen Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und selber bestimmen können. Die russischen Räte scheiterten. Aber dieses Scheitern war weder geplant noch unvermeidlich. Nur ein genaues Verständnis der Ursachen und des Verlaufs der Konterrevolution kann uns in die Lage versetzen, Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Der Verlauf der Konterrevolution

Die Russische Revolution war eine einzigartige Erfahrung in der Geschichte. Niemals zuvor hatte das Proletariat die bürgerliche Staatsmacht in einem ganzen Land geschlagen. Der Sieg der russischen ArbeiterInnenklasse schien für einen kurzen Zeitraum die Perspektive einer Gesellschaft der Freien und Gleichen zu eröffnen. Als die deutsche ArbeiterInnenklasse jedoch geschlagen wurde (und dies war nach der Märzaktion 1921 der Fall, auch wenn das Ausmaß der Niederlage damals noch nicht ganz gesehen wurde), fing diese Perspektive an zu verblassen. Die Bolschewiki hatten den Sturz der Provisorischen Regierung mit der Erwartung vorangetrieben, dass fortgeschrittene Teile der internationalen ArbeiterInnenklasse ihrem Beispiel folgen würden Im Januar 1917 schrieb Lenin:

Sicher werden die Formen sowie auch die Anlässe der kommenden Kämpfe in der kommenden europäischen Revolution von denen der russischen Revolution in mancher Hinsicht verschieden sein. Aber trotz alledem bleibt die russische Revolution – eben wegen ihres proletarischen Charakters in dem besonderen Sinne des Wortes, von dem ich schon gesprochen habe – ein Vorspiel der kommenden europäischen Revolution. Es ist nämlich insofern unbestreitbar, dass diese kommende Revolution auch nur eine proletarische – und zwar in viel tieferer Bedeutung, auch ihrem Inhalt nach – eine proletarische, sozialistische Revolution sein kann! Diese kommende Revolution wird noch in viel größerem Umfang zeigen einerseits, dass nur harte Kämpfe und namentlich Bürgerkriege die Menschheit von dem Joche des Kapitals zu befreien vermögen, anderseits, dass nur die klassenbewussten Proletarier als Führer der großen Mehrheit der Ausgebeuteten auftreten können und auftreten werden. Wir dürfen uns nicht von der jetzigen Kirchhofruhe in Europa täuschen lassen. Europa ist schwanger mit der Revolution. Die furchtbaren Greul des imperialistischen Krieges, die Schrecknisse der Teuerungen erzeugen überall revolutionäre Stimmung, und die herrschenden Klassen, die Bourgeoisie, und ihre Vertrauensleute, die Regierungen, sie geraten immer mehr und mehr in die Sackgasse, aus der sie überhaupt ohne größere Erschütterungen keine Ausweg finden können (4).

In ihren Untersuchungen über die Entwicklung Russlands waren bereits Marx und Engels zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen:

Ob von dieser Gemeinde noch so viel gerettet ist, dass sie gegebenenfalls, wie Marx und ich 1882 noch hofften, im Einklang mit einem Umschwung in Westeuropa zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung werden kann, das zu beantworten maße ich mir nicht an. Das aber ist sicher: Soll noch ein Rest von dieser Gemeinde erhalten bleiben, so ist die erste Bedingung dafür der Sturz des zarischen Despotismus, die Revolution in Russland. Diese wird nicht nur die große Masse der Nation, die Bauern, aus der Isolierung ihrer Dörfer, die ihren „mir“, ihre „Welt“ bilden, herausreißen und auf die große Bühne führen, wo sie die Außenwelt und damit sich selbst, ihre eigne Lage und die Mittel zur Rettung aus der gegenwärtigen Not kennen lernt, sondern sie wird auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoß und neue, bessere Kampfesbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Russland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann (5).

Gleichwohl verlief die politische Entwicklung 1917 bis 1918 anders. Der Ausbruch der Russischen Revolution beschleunigte das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Krieg führenden Mächte wurden durch ausbrechende ArbeiterInnenkämpfe erschüttert Entgegen den Behauptungen bürgerlicher Historiker (wie bspw. Evan Mawsdley in seinem Buch The Russian Civil War“), die die Möglichkeit einer Weltrevolution 1918 als Mythos abtun, hatte der Ausbruch der Russischen Revolution eine enorme Signalwirkung. In der französischen und britischen Armee brachen Meutereien aus, und in Deutschland kam es zu zahlreichen Streiks. Das Ende des Krieges wurde vom Ausbruch von Revolutionen in Berlin, Ungarn und Bayern begleitet, die jedoch allesamt militärisch niedergeschlagen wurden. Ebenso endete die weltweite Welle von Klassenkämpfen in Niederlagen. Die Herrschenden hatten untereinander Frieden geschlossen, um nun gemeinsam den Klassenkrieg gegen das Proletariat in ihren jeweiligen Ländern zu führen. Die Erfolge, die sie dabei erzielten, führten zur weiteren Isolation des Räteexperiments in Russland. Das russische Proletariat befand sich nun in einer historisch einzigartigen Situation. Was passiert in einem Land in dem die ArbeiterInnen zwar die eigene herrschende Klasse gestürzt haben, sich aber isoliert in einer feindlich gesonnen kapitalistischen Welt wieder finden? Auch wenn frühere Klassenkämpfe (wie bspw. die Pariser Commune) vor ähnlichen Problemen gestanden hatten, gab es keine befriedigende Antwort auf dieses neuartige Problem. In seiner Schrift „Der deutsche Bauernkrieg“ hatte Engels das Dilemma des Sozialrevolutionäres Thomas Münzer folgendermaßen umschrieben:

Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine eigne Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassenkampfs und seiner Bedingungen; er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen, die wieder nicht aus der momentanen Stellung der gesellschaftlichen Klassen gegeneinander und aus dem momentanen, mehr oder weniger zufälligen Stande der Produktions- und Verkehrsverhältnisse hervorgehn, sondern aus seiner größeren oder geringeren Einsicht in die allgemeinen Resultate der gesellschaftlichen "industriellen" und politischen Bewegung. Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren (6).

Genau dies war das Problem, mit dem sich die Bolschewiki und die russische ArbeiterInnenklasse als ganzes konfrontiert sahen. Die Lage war in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht nahezu aussichtslos. Zwar waren sich die Bolschewiki über die Notwendigkeit der internationalen Ausweitung der Revolution im Klaren, aber die richtigsten Ideen helfen nicht weiter, wenn die notwendigen materiellen Voraussetzungen fehlen. Mit der Stabilisierung des Kapitalismus begann sich das Blatt zunehmend gegen die ArbeiterInnenklasse zu drehen.

Bürgerkrieg und imperialistische Intervention

Die bolschewistische Partei sah sich in die Lage versetzt in einem ökonomisch rückständigen Land, indem die Mehrheit der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, Staatsfunktionen auszuüben. Ihre Kader wurden unweigerlich in den Staatsapparat absorbiert. Der Widerstand konterrevolutionärer „weißer“ Truppen sowie die Intervention imperialistischer Interventionsarmeen führten zu einem blutigen Bürgerkrieg, der das Land verwüstete und Hunderttausende Todesopfer kostete. Hungersnöte und Seuchen waren die Folge. 1920/21 fasste Lenin angesichts von Bauernrevolten und Arbeiterstreiks den Entschluss auf „ökonomischem Gebiet“ einen taktischen Rückzug anzutreten. Im März 1921 verkündete der X. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands eine „Neue Ökonomisch Politik“ (NEP). Im begrenzten Maße wurden nun freier Handel und marktwirtschaftliche Elemente zugelassen, um so die landwirtschaftliche Produktion wieder anzukurbeln.

Die Bolschewiki erhofften sich von diesem taktischen Rückzug eine Atempause in ihrer nach wie vor verzweifelten Situation. Zwar hatten die Bolschewiki auf militärischer Ebene den Bürgerkrieg gewonnen, dabei allerdings ihre proletarische Basis und Verankerung verloren. Die Revolte von Kronstadt war nur ein weiterer Indikator dafür, inwieweit die Räte zu leeren Fassaden geworden waren. 1921 hatten 57% der FabrikarbeiterInnen von 1917 ihre Betriebe verlassen, um entweder in der Roten Armee gegen die Weißen zu kämpfen oder aufs Land zurückzukehren. Lenin musste sich zu dieser Zeit eingestehen, dass die bolschewistische Partei die Repräsentantin einer Klasse war, die aufgehört habe zu existieren. Aus der proletarischen revolutionären Partei von 1917 war ein bürokratischer Staatsapparat geworden. Als Stalin 1922 Generalsekretär der Partei wurde, war aus der Diktatur des Proletariats bereits eine Diktatur der Partei geworden. Durch den Bürgerkrieg hatten sich die Dinge grundlegend geändert. In seinem Verlauf waren aus früheren Revolutionären energische Staatsfunktionäre geworden, die daran arbeiteten das Überleben des Sowjetstaates zu sichern. Das auf dem 10. Parteikongress beschlossene Fraktionsverbot zielte auf die Ausschaltung der linkskommunistischer Fraktionen wie der „Arbeiteropposition“ um Kollontai und Schljapnikow, der „Demokratischen Zentralisten“ um Sapronow und Ossinkski oder die „Arbeitergruppe“ um Mjasnikow. Diese Leute fungierten bis dahin sozusagen als „proletarisches Gewissen“ der Partei. Gleichwohl muss betont werden, dass es von 1921 bis 1928 noch fraktionelle Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei gab. Doch der 1921 gefasste Beschluss eines Fraktionsverbots gab Stalin eine mächtige Waffe in die Hand. Während verschiedene Fraktionen heftig über die Zukunft der Partei diskutierten, hielt er sich vornehm zurück oder nahm eine Mittlerposition ein. Auf diese Weise pflegte er sein Image als loyaler Diener der Partei, während etwaige Gegner als fraktionelle Spalter denunziert wurden. Es gelang ihm so seine Gegenspieler systematisch zu diskreditieren und seine Machtbasis auszubauen. In den 20er-Jahren waren viele Bolschewiki über den Kurs der Partei und ihre mangelnde proletarische Verankerung sichtlich beunruhigt. Andere wie bspw. Sinowjew gingen dazu über die „Diktatur der Partei“ geradezu zu verherrlichen. Vor diesem Hintergrund gewann Stalin ein Ausmaß an Kontrolle über den Parteiapparat, den viele zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Generalsekretär niemals für möglich gehalten hatten.

Lenins letzter Kampf

Gegen Ende seines Lebens wurde sich Lenin der Gefahr der Degenration und des Aufstiegs Stalins immer mehr bewusst. In seine letzten Schriften forderte er mehrmals Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen. Sein Schlaganfall und früher Tod 1924 rettete Stalin, da sich die Kämpfe im Zentralkomitee zu dieser Zeit vorrangig darauf konzentrierten Trotzkis Machtposition zu untergraben, und Sinowjew Stalin verteidigte. Gegen Ende seines Lebens musste Lenin sich eingestehen, dass die fortschreitende Bürokratisierung der Partei die revolutionären Impulse von 1917 vollständig erstickt hatte. In der Kommunistischen Partei tummelten sich tausende Karrieristen, von denen viele frührer zaristische Beamte gewesen waren. In einer Rede auf dem 11. Kongress der Kommunistischen Partei im März 1922 bracht Lenin die Situation folgendermaßen auf den Punkt:

Es mangelt der Schicht von Kommunisten, die leitende Funktionen in der Verwaltung ausüben, an Kultur man nehme doch Moskau - die 4700 verantwortlichen Kommunisten - und dazu dieses bürokratische Ungestüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten: um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet (7).

Da die Kommunistische Partei faktisch den Staatsapparat darstellte, sprach Lenin hier eine ernsthafte Gefahr an. Seine berühmte Forderung Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen war in der Geschichte der Partei geradezu ein Präzedenzfall. Lenin klebte geradezu an Menschen, die etwas für die Partei geleistet hatten. (So weigerte er sich bspw. solange zu glauben, dass der einstige Wortführer der bolschewistische Dumafraktion, Malinowski, ein Agent der zaristischen Orchana war, bis er die diesbezüglichen Dokumente und Beweise gesehen hatte.) Ebenso wurde Kamenew und Sinowjew nachgesehen, dass sie 1917 die Umsturzpläne der Bolschewiki in der Parteipresse ausgeplaudert hatten. In Anbetracht der Massenunterstützung, die die Bolschewiki damals hatten, war dieses „streikbrecherische Vorgehen“, wie Lenin es nannte, nicht relevant. Seine Forderung Stalin wegen seiner großen Machtfülle als Generalsekretär abzusetzen, war wohlgemerkt nicht mit der Forderung verbunden ihn aus dem Politbüro auszuschließen. In seinem letzten Testament gab er sich der Hoffnung hin, dass es möglich sei eine kollektive Leitung zu entwickeln, die in der Lage wäre die schwierige Lage zu meistern. Die Spaltung hatte jedoch schon längst stattgefunden, da Sinowjew, der gerade dabei war eine Fraktion gegen Trotzki aufzubauen, sich dafür stark machte Lenins Warnungen zu ignorieren. Stalin wurde so in einer Funktion belassen, die es ihm erlaubte örtliche Parteisekretäre zu ernennen und damit die Zusammensetzung des Zentralkomitees entscheidend zu beeinflussen. Da das Zentralkomitee das Politbüro wählte, gab ihm dies genau die enorme Machtfülle, vor der Lenin so eindringlich gewarnt hatte. Zu diesem Zeitpunkt zog es Stalin jedoch noch vor auf Zeit zu spielen. Allerdings sollte es nicht mehr lange dauern, bis er die vollständige Kontrolle über den Apparat hatte.

Die Ökonomie

Die Konterrevolution war jedoch nicht nur auf der politischen sondern auch auf der ökonomischen Ebene auf dem Vormarsch. Wie schon früher ausgeführt, kann nicht in Ansätzen davon geredet werden, dass die Bolschewiki die Produktionsverhältnisse grundlegend geändert hatten. Unter dem sog. „Kriegskommunismus“ hatte die ArbeiterInnenklasse keinerlei Kontrolle über die Betriebe. Die Abschaffung der Fabrikräte, die Einsetzung von Fabrikleitern durch die Regierung, die Einführung tayloristischer Produktionsmethoden, die Privilegierung und besserer Bezahlungen von bürgerlichen Spezialisten spiegelten den allgemeinen Rückzug der Revolution wieder. Sicher waren all diese Rückzüge nicht einem im vornherein geplanten Programm sondern konkreten Umständen geschuldet, dennoch blieben sie Rückzüge bzw. Rückschläge. 1921 zwang die Hungersnot, der über eine Million Menschen zu Opfer fielen, zur Annahme der Neuen Ökonomischen Politik, die weitgehende Zugeständnisse an die Bauernschaft vorsah. Die bolschewistischen Führer waren keineswegs Ignoranten. Sie waren sich darüber im Klaren, dass die NEP ein Rückzug darstellte. In einem weitgehend bäuerlich geprägten Land sahen sie es als ihre Aufgabe an, durchzuhalten und die Voraussetzungen für eine zukünftige sozialistische Entwicklung zu schaffen. Das politische Klima in der Sowjetunion war damals noch ein anderes als unter Stalin. Alac Nove, keinesfalls ein Freund des Bolschewismus, beschreibt die Situation in den 20er Jahren folgendermaßen:

Die Zwanziger Jahre waren eine spannende intellektuelle Periode. Es gab nicht nur Debatten zwischen den bolschewistischen Führern und Intellektuellen unter denen es Menschen mit großer Eloquenz und Verstand gab, es wurden von Leuten die nicht den Bolschewiki angehörten unabhängige Ideen auf den Weg gebracht. Zu den GOSPLAN und VSNKh-Experten gehörten auch frühere Menschewiki die später angeklagt wurden Putschisten und Saboteure zu sein. Männer wie Groman, Bazarov und Ginzburg leisteten bedeutende Beiträge in den politischen Debatten. Ehemalige Populisten, ehemalige Sozialrevolutionäre waren ebenfalls aktiv, wie der berühmte Ökonom Kondratiev oder die Agrarexperten Chayanov und Chelintsev. Selbst Nicht-Sozialisten wie Litishenko und Kutler konnten ihre Stimme erheben. Es gab einen Ein-Parteienstaat, es gab keine legalen Möglichkeiten eine Opposition zu bilden, aber die Bedingungen waren von den monolithischen Dreißiger Jahren weit entfernt (8).

Jede/r, der die internen Debatten der bolschewistischen Partei in den 20er-Jahren nachliest, wird Zeuge einer Tragödie. Es gab hunderte von Reden und Papieren, die dafür argumentierten, bis zum Ausbruch der Weltrevolution durchzuhalten, doch die Bedingungen der fortschreitenden Isolation triumphierten über den individuellen Willen der KommunistInnen. Selbst der große Enthusiast der „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“, Preobrashenski, musste zugeben, dass diese ohne Außenkapital kaum möglich sei.

Unter der NEP begannen sich jedoch die Institutionen des Staatskapitalismus weiter zu verfestigen. Lenin hatte sich mehrmals gegen die Gleichsetzung der Begriffe „Verstaatlichung“ und „Sozialisierung“ gewandt, aber nun wurden diese Begriffe mehr und mehr zu Synonymen. Ebenso begannen die früher von Lenin hervorgehobenen Unterschiede zwischen „Sozialismus“ und „Staatskapitalismus“ zu verschwimmen.

Diejenigen, die behaupten, dass es in Russland zu einer grundlegenden Veränderung der Produktionsverhältnisse gekommen sei, haben stets das Problem zu erklären, wann dies überhaupt genau passiert sein soll. Einige behaupten, dass diese Veränderung während der Periode des „Kriegskommunismus“ (1918-21) stattgefunden haben soll. Aber gerade zu dieser Zeit kam es zur größten Ausweitung des kleinbäuerlichen Landbesitzes in der russischen Geschichte. Die alten Kapitalisten waren geflüchtet und hatten die Betriebe dem Proletariat überlassen, das Geld hatte seinen Wert verloren, so dass Rationierung und Tauschhandel zur Regel wurden. Es ist jedoch absurd diese Notmaßnahmen, die lediglich auf das nackte Überleben des Regimes abzielten, als substantielle Schritte zum Aufbau des Sozialismus zu verstehen.

Andere behaupten, dass während der Periode der NEP (als die GOSPLAn und VSENKh unter die direkte Kontrolle des Staates kamen) eine funktionierende Planwirtschaft errichtet wurde. Die NEP wurde jedoch nicht von ungefähr von vielen Bolschewiki ironisch als „Neue Proletarische Ausbeutung“ bezeichnet. Unter der NEP stieg die Arbeitslosigkeit um 25% an, während die Löhne sanken und die Preise in die Höhe schnellten. Als die Naturalsteuer, die die Bauernschaft zahlen musste bevor sie ihr Getreide verkaufen konnten, durch eine Geldsteuer ersetzt wurde, kam dies gewissermaßen einer Währungsreform gleich. Die Staatsbank wurde nun zum finanzkapitalistischen Monopolisten der neuen Ordnung. Wieder einmal waren die ArbeiterInnen die Leidtragenden. Der Sozialismus setzt die gesellschaftliche Dominanz und politische Kontrolle der ArbeiterInnenklasse voraus. Selbst 1918 als die Räte noch funktionierten und sich ausweiteten, konnte im isolierten Russland davon nicht gesprochen werden (und deswegen beharrten die Bolschewiki so auf einer internationalen Ausweitung der Revolution). Die von Stalin in die Wege geleitete Annahme der Losung des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ markierte letztendlich den totalen Bruch mit jedem marxistischen Sozialismusverständnis. Als aber die realen Perspektiven einer Weltrevolution schwanden, stellte sich die Frage was aus der UdSSR werden sollte immer dringlicher. Wenn die NEP fortgesetzt werden würde, argumentierte ein Teil der bolschewistischen Führung, würde Russland unter die Herrschaft kapitalistischer Kleinproduzenten fallen. Andere, wie Bucherin, argumentierten, dass nur eine langsame Akkumulation von Staatskapital durch eine schonende Besteuerung der Bauernschaft die Grundlagen für eine spätere industrielle Entwicklung legen könnte. Die ökonomische Rückständigkeit Russlands stand zunehmend im Zentrum der Diskussion. Die eigentliche Schlüsselfrage begann sich zu verschieben. Es ging faktisch nicht mehr um die Frage des Aufbaus des Sozialismus, sondern um die Industrialisierung Russlands.

Stalin hielt sich wie bereits erwähnt in diesen Debatten vornehm zurück, da er auch kaum als ernstzunehmender Theoretiker anerkannt wurde. Er formulierte die Idee des „Sozialismus in einem Land“ erstmals in seinem 1924 erschienen Buch „Grundlagen des Leninismus“, in dem er einige Ideen Lenins in verkürzter und vereinfachter Form darstellte. Stalins Schrift spiegelte in Gänze die Konfusionen in der Partei wieder, die er sich letztendlich zu Nutze machen konnte. Indem er in den Debatten des Politbüros stets eine Mittlerposition einnahm, war es ihm möglich alle anderen als „Linke“, „Rechte“ oder „Vereinigte Opposition“ abzutun. Die Tatsache, dass Menschen wie Sinowjew ihre Positionen stets änderten und einen Tag für und an einem anderen Tag gegen Trotzki waren, macht es Stalin leicht sich als Mann der Partei zu präsentieren, der über dem Gezänk der Fraktionen stehe. Die Idee der Rätemacht war zu diesem Zeitpunkt schon in Vergessenheit geraten. Faktisch spielten die Räte im gesellschaftlichen und politischen Leben keine Rolle mehr. Maßgeblich Sinowjew entwickelte nun die Theorie, dass die Partei das Proletariat sei. Ein Konstrukt mit dem man bequem den Umstand verschleiern konnte, dass die Diktatur des Proletariats längst der bürokratischen Kontrolle der Partei erlegen war. Auch Trotzki trug nicht unerheblich zu diesen Konfusionen bei, indem er erklärte, dass man „nicht gegen die Partei Recht haben“ könne. Ein blanker Unsinn, der zudem Stalin die Steilvorlage bot, sich publikumswirksam in Szene zu setzen und in alter „leninistischer“ Manier zu erklären, dass die Partei fraglos Fehler mache, es aber darauf ankomme aus diesen Fehlern zu lernen. Stalin konnte nun aus dem 1921 beschlossenen aber weitgehend ignorierten Fraktionsverbot Nutzen zeihen und erste disziplinarische Maßnahmen gegen oppositionelle Strömungen durchsetzen. Ferner nutze er seine Macht über die Delegierten des Zentralkomitees, um seine Gegner nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen und durch seine eigenen Kreaturen wie bspw. Ordshonikidse, Kaganowitsch, Molotow und Mikojan zu ersetzen.

1928 hielt er alle Fäden in Partei- und Staatsapparat in der Hand und fühlte sich stark genug, um die Zwangskollektivierung und den Fünfjahresplan in Angriff zu nehmen. Viele StalinistInnen sehen hier den Zeitpunkt, an dem die „sozialistische Transformation“ der sowjetischen Produktionsweise einsetzte. Sie behaupten, dass das Programm der Zwangskollektivierung zur nachdrücklichen Enteignung der Bauernschaft, der Beseitigung der Privatwirtschaft und der Verstaatlichung der Betriebe geführt habe. Ihnen zufolge habe das Industrialisierungsprogramm des Fünfjahresplanes die „Anarchie der kapitalistischen Produktion“ aufgehoben.

Verstaatlichung = Sozialismus?

Das zentrale Problem hierbei ist die Gleichsetzung von Verstaatlichung (d.h. die Überführung von Produktionsmittel in Staatsbesitz) und Sozialisierung, d.h. die Übernahme der Produktion durch die Produzenten. Letztere zielt auf die Überwindung des Staates und staatlicher Strukturen ab. Der Umstand, dass der Staat nicht einfach über Nacht verschwinden wird, heißt noch lange nicht, dass der „Sozialismus“ mit dem Aufbau eines noch zentralisierten Staatsapparats kompatibel ist. Die Stalinisten waren freilich nicht die einzigen, die Staatseigentum mit dem Sozialismus gleichsetzten. In der Vorkriegssozialdemokratie war dies eine weit verbreitete Sichtweise, gegen die Marx und Engels energisch zu Feld zogen:

… weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktionsmittel auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trust liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiterbleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben (9).

Durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel wurde in der UdSSR nur die Möglichkeit der Ausbeutung durch Einzelkapitalisten an einen kollektiven Kapitalisten, den Staat, übertragen. Nach wie vor hatten die LohnarbeiterInnen (und nach Marx ist die Existenz von Lohnarbeit für den Kapitalismus bestimmend) keinen Einfluss auf den Produktionsprozess, keine Kontrolle über die Produktionsmittel, geschweige denn das erwirtschaftete Mehrprodukt.

Während des Fünfjahresplans stiegen die Lebenshaltungskosten enorm an. Ebenso führte das Desaster der Zwangskollektivierung zu einer drastischen Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel. Die Löhne wurden gedrückt und die Arbeitsverdichtung gesteigert. Durch die Einführung von Lohndifferenzierungen und anderen „Arbeitsanreizen“ konnten Lohnunterschiede zwischen gelernten und ungelernten ArbeiterInnen in einigen Industrien das Vierzigfache betragen. Es geht hier weniger um die Frage ob es dem sowjetischen Proletariat besser oder schlechter als den ArbeiterInnn in den westlichen Ländern ging (die zu dieser Zeit unter einer schweren Arbeitslosigkeit zu leiden hatten). Es geht darum zu verstehen, dass sie faktisch den gleichen Produktionsverhältnissen unterworfen waren.

StalinistInnen (und einige TrotzkistInnen) argumentieren, dass Russland nicht kapitalistisch gewesen sein könne, da keine Bourgeoisie im klassischen Sinne existierte. Ein „Argument“ welches im Wesentlichen ihrer antiquierten und falschen Vorstellung einer Bourgeoisie entspringt. Diese Leute sind nach wie vor dem Klischee eines typischen Unternehmers im 19. Jahrhundert verhaftet, der ohne Frage männlich ist, Zylinder trägt und Zigarre raucht. Doch solche Figuren gehörten schon zu Zeiten des Ersten Weltkrieges der Vergangenheit an. Heute ist es unübersehbar, dass sich der Monopolkapitalismus des späten 19. Jahrhunderts in einen korporativen Kapitalismus verwandelt hat, indem der Staat eine bedeutende Rolle im Akkumulationsprozess spielt, und sich die herrschende Klasse den Mehrwert in weitaus kollektiverer Form aneignet.

Wir haben die zwei Faktoren die zur Herausbildung der herrschenden Klasse in der UdSSR führten bereits aufgezeigt:

  1. Die zunächst politische und dann physische Vernichtung aller potentiellen DissidentInnen in der Partei
  2. Die Herausbildung einer jungen und neuen Klasse aus der Nomenklatur, die oftmals Kinder von ArbeiterInnen waren (ein ironischer Kommentar der damaligen Zeit lautete, dass man unter der „Diktatur des Ex-Proletariats lebe) und während des ersten Fünfjahresplans ausgebildete worden war. Diese Klasse hatte besondere, privilegierte Wohnungen, Einkaufsläden, Datschas und Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen. Sie konnte zwar nicht so ungezügelt Privatbesitz aneignen wie ihr Konterpart im Westen, aber es war ihnen sehr wohl möglich ihre Privilegien an ihre Kinder weiterzugeben, die stets ihren Platz in der herrschenden Klasse fanden.

Diese Klasse eignete sich kollektiv den von der ArbeiterInnenklasse geschaffenen Mehrwert an, und investierte ihn in die jeweiligen vom Apparat festgelegten Planziele. Dies führte unweigerlich auch zu Wettbewerbsdruck im sowjetischen System, was die langläufige Vorstellung einer angeblichen „sozialistischen Planung“ einmal mehr Lügen straft. Um ihre Planziele zu erreichen, mussten die Manager und Verwaltungsdirektoren für ihre jeweiligen Bereiche und Projekte Mittel abzweigen und allerlei Lügen erzählen um die Unterstützung der Zentralbanken für ihre Vorhaben zu gewinnen. Die Zentralbank und das Finanzministerium war für jeden Sektor ungemein wichtig, unabhängig davon was „der Plan“ gerade vorsah.

Es versteht sich von selbst, dass dieses marode Gesellschaftssystem keinen einzigen Schritt hin zur Abschaffung des Geldes unternahm. Vielmehr kam dem Geld immer größere Bedeutung zu. Auch wenn wir hier nicht tiefer ins Detail gehen können, spielt Geld im Kapitalismus bei der Verwertung von Kapital eine zentrale Rolle. Diejenigen, die die Produktion finanzieren oder über die Währung bestimmen, kontrollieren folgerichtig die wichtigsten Ebenen der Wirtschaft. Der Wert von Waren drückt sich in Geld aus und solange dies der Fall ist, wird eine Gesellschaft vom Wertgesetz bestimmt. Der Schritt zum Sozialismus kann nicht vollzogen werden, solange das Geld nicht abgeschafft und die Arbeit ihren Warencharakter nicht verloren hat. Eine solche Gesellschaft setzt auch voraus, dass es keine ausbeutende herrschende Klasse gibt. Der Stalinismus konnte in Russland triumphieren, weil es sich um ein besonders rückschrittliches kapitalistisches Land handelte. In gewisser Hinsicht nahm er Elemente der nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen entstandenen „gemischten Wirtschaftssysteme“ vorweg. Auch hier wurde behauptet, dass sich die verstaatlichten Industrien in „Volkseigentum“ befänden. In erster Linie war er jedoch eine besondere kapitalistische Formation, die sich in einen einzigartigen Kontext herausbildete. Er wurde zum Orientierungsmodell einer Reihe von Staaten wie bspw. China oder Kuba, aber auch diverser politischer Strömungen und nationalistischer Bewegungen, die dem Proletariat schwere Niederlagen zufügten. Als Herrschaftsform wie als politische Strömung agierte der Stalinismus auf der Basis eines nationalistischen Programms: Unterwerfung des Proletariats unter den Staat, Terror, Revolutionsverzicht und Massenmord an KommunistInnen. Er war kein irgendwie gearteter „sozialistischer“ Versuch, sondern der Totengräber der Revolution, eine besonders perfide Variante des Antikommunismus.

(1) Zit. nach Alan Wood: Stalin und der Stalinismus, Mainz 1995, Seite 46.

(2) Stalin in einem Interview mit R.Howard, in Rundschau Nr. 11, 5.3.1936. Siehe dazu auch Victor Serge: Die sechzehn Erschossenen, Hamburg 1977, Seite 74.

(3) Marx, Dt Ideologie, MEW 3, Seite 35.

(4) W.I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in Ausgewählte Werke Bd. II, Seite 821.

(5) Friedrich Engels: Soziales aus Russland, in Ausgewählte Werke Bd. IV, Seite 373.

(6) Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1989, Seite 135.

(7) Lenin: Gesammelte Werke, Berlin 1984, Bd. 33 Seite 275.

(8) Alec Nove: An Economic History of the USSR. 1992, Seite 131.

(9) Friedrich Engels. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), Berlin 1983, Seite 260.