Die "Belfast Flag Riots" - Nation oder Klasse?

Der Nationalismus wurde und wird von der herrschenden Klasse überall auf der Welt zur Spaltung und Manipulation der Klasse eingesetzt. In Nordirland sitzt jedoch die Identifikation mit der Nation, bzw. dem „Loyalismus“ und „Republikanismus“ besonders tief. Seit der Zeit von Carsons „Ulster Volunteer Force“ vor dem Ersten Weltkrieg, aber besonders nach der Gründung der Irischen Republik wurde der protestantischen ArbeiterInnenklasse eingehämmert, dass sie etwas Besonderes sei. Verknüpft wurde das mit dem Mythos der „Orange Order“. Selbst in den Zeiten des Nachkriegsbooms war das Leben der protestantischen ArbeiterInnen alles andere als rosig. Allerdings war sie noch besser dran als die ArbeiterInnen der diskriminierten katholischen Minderheit. Damals war es immer möglich über allerlei Verbindungen und verwandtschaftliche Beziehungen eine Wohnung zu ergattern oder in irgendeinem Unternehmen unterzukommen. Alles was man tun musste, war die Unionisten zu wählen und an den diversen Paraden teilzunehmen. Auch wenn die Löhne für die gleiche Arbeit niedriger waren als die der ArbeiterInnen in Glasgow oder Liverpool, konnte man sich als Teil einer „überlegenen Kultur“ fühlen. Ende der 60er Jahre hatte sich der Nachkriegsboom jedoch erschöpft. Eine Folge davon war, dass sich die ArbeiterInnenklasse der katholischen Minderheit nicht mehr mit den Diskriminierungen abfand und für mehr „ Bürgerrechte“ auf die Straße ging. Die gewaltsame Reaktion des protestantischen Mobs führte zum Ende des unionistischen Regimes und zur direkten Intervention Londons. Die britische Regierung, die die Geschicke von Ulster über Generationen den Protestanten überlassen hatte, sandte nun Truppen, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Es dauerte nicht lange bis sie von der katholischen Minderheit als Unterdrücker und Besatzer wahrgenommen wurden. Die irische republikanische Bewegung ging nun mit Terroranschlägen gegen die protestantische Bevölkerung und die britische Armee vor. In dem darauf folgenden Krieg starben 3500 Menschen. Über 100000 wurden in den nächsten drei Jahrzehnten schwer verletzt.

Doch parallel zu den nationalistischen Auseinandersetzungen und Unruhen spitzte sich auch die soziale Krise zu, was für Nordirland einschneidende Folgen hatte. Wie überall im Vereinigten Königreich litt auch Nordirland unter der einsetzenden Deindustralisierung. Die Eskalation der Gewalt beschleunigte die Kapitalflucht aus der Region zusätzlich. Auf der Suche nach Arbeit wanderten immer mehr ArbeiterInnen aus Ulster ab. Mit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft wurde die Irische Republik zum beliebten Investitionsziel US-amerikanischer Firmen. Die althergebrachten Verhältnisse begannen sich zu ändern. Die einst agrarisch geprägte Wirtschaft der Irischen Republik holte gegenüber dem industrialisierten Norden erheblich auf.

Nichtsdestotrotz weigerten sich die Unionisten energisch Zugeständnisse zu machen und sabotierten alle Verhandlungsbemühungen. Gebetsmühlenartig wiederholten sie ihren alten Standpunkt: „Wir sind die Mehrheit“. Doch auch für die IRA wurde die Luft immer enger. Mit dem Ende des Kalten Krieges gingen die Lieferungen von Waffen und Sprengstoff aus Libyen und Osteuropa spürbar zurück. Auch in den USA wurde die finanzielle Unterstützung des Bürgerkrieges durch die irische Community stärker sanktioniert. Figuren wie Martin McGuinness und Gerry Adams wandelten sich nun plötzlich zu verhandlungsbereiten Politikern, die immer deutlicher ein Ende der Gewalt in Aussicht stellten.

Im protestantischen Lager verlor jedoch jeder, der gegenüber den Republikanern Zugeständnisse machte, spürbar an Unterstützung und Wählerstimmen. Die traditionelle UUP (Ulster Union Party) wurde von der radikalen DUP (Democratic Union Party) verdrängt. Doch auch die DUP konnte sich der demographischen Entwicklung nicht verschließen. Angesichts der rasanten Abwanderung der Protestanten und der höheren Geburtenraten der katholischen Bevölkerung, musste sie sich eingestehen, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in den nächsten Jahrzehnten spürbar ändern würden. Beide Seiten mussten sich also widerstrebend auf einen „Friedensprozess“ einlassen. Die letzte Hoffnung der unionistischen Bourgeoisie ihre Autorität in den nächsten Jahren nicht völlig zu verlieren, bestand nun in einer geordneten Machtverteilung. Der bizarre Fahnenstreit in Ulster zeigt geradezu symbolisch, wie es um die Zukunft des Loyalismus bestellt ist. Belfast war einst überwiegend loyalistisch geprägt. Doch mittlerweile liegt das Kräfteverhältnis bei 50:50. Die republikanischen Nationalisten wollen den Union Jack vollständig loswerden. Allerdings waren sie durchaus in der Lage Zugeständnisse machen zu können, und so stimmten sie dem Kompromissvorschlag der Alliance Partei zu, die britische Fahne 18 Mal im Jahr wehen zu lassen. Damit konnten sich wiederum die loyalistischen Ultras nicht abfinden, die nun geltend machten, dass die britische Fahne über ein Jahrhundert täglich auf dem Rathaus geweht hatte. Doch die Abstimmung vom 3. Dezember machte geradezu symbolisch deutlich, dass die Zeiten der unionistischen Dominanz vorbei sind.

In Wirklichkeit hat die sog. „Friedensdividende“ der ArbeiterInnenklasse, sei sie nun katholisch oder protestantisch, republikanisch oder loyalistisch wenig gebracht. In beiden Communities ist die Arbeitslosigkeit höher und die Löhne sind niedriger als anderswo im Vereinigten Königreich. Ebenso leidet die ArbeiterInnenklasse gleichermaßen unter den kapitalistischen Kürzungsprogrammen. Doch aufgrund der Politik von Unionisten und irischen Nationalisten ist sie heute gespaltener als jemals zuvor. Beide nationalistische Lager setzen weiterhin alle Hebel in Bewegung, um die Kontrolle über ihre Basis nicht zu verlieren.

In den 70er Jahren versuchten uns Trotzkisten und andere linke Gruppen davon zu überzeugen, dass die irisch-nationalistische ArbeiterInnenklasse unterdrückter und daher unterstützenswerter sei, als die protestantische ArbeiterInnenklasse. Oberflächlich betrachtet mag der Republikanismus ein wenig progressiver erscheinen als der Monarchismus. Faktisch ist jedoch die Situation auf beiden Seiten die gleiche. Egal mit welcher nationalistischen Fraktion die Arbeiter sich identifizieren, es ist immer die Identifikation mit den eigenen Ausbeutern. Oder wie es der irische Sozialist James Conolly 1910 in Hinblick auf alle Nationalismen formulierte:

„Eine Bewegung, die den Klassenkampf zugunsten nationaler Ziele zurückstellt, ermöglicht es der Bourgeoise die Arbeiterklasse zu kontrollieren.“

Bedauerlicherweise kapitulierte Conolly später vor dem Nationalismus, aber seine oben zitierten Worte sind heute aktueller denn je. Heute argumentieren selbst einige derselben Trotzkisten – genau wie wir-, dass die ArbeiterInnenklasse kein Vaterland habe, und dass es sich um eine Klassenfrage handle und keine nationale. Das mag begrüßenswert sein, allerdings ist es nicht leicht diese Position zu verbreiten. Das haben schon unsere GenossInnen in Belfast erfahren, als sie versuchten internationalistische Positionen zu propagieren und dafür mit dem Tode bedroht wurden.

Einige Linke bezeichnen die protestantischen Randalierer schlichtweg als Faschisten. Zweifellos sind die Drahtzieher der Krawalle protestantischer Paramilitärs. Ebenso ist klar, dass die BNP und die EDL aus der Sache Kapital schlagen wollen. Doch die wirkliche Ursache liegt im System an sich. Die meisten derjenigen, die sich an den Krawallen beteiligen, sind zu jung, um die nationalistischen Schrecken der Vergangenheit bewusst miterlebt zu haben. Viele von ihnen bezichtigen die Unionisten nun des „Verrats“. Was sie nicht sehen, bzw. sehen wollen ist, dass dieselben Leute sie schon lange an die Agenda der Bosse verkauft haben. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist der Kampf für eine Gesellschaft ohne nationalistische Abgrenzungen, ohne Grenzen, Ausbeutung und Unterdrückung. Um dies zu erreichen müssen wir uns unabhängig und gegen alle bürgerlichen Fraktionen als Klasse begreifen und gemeinsam für unsere Interessen kämpfen. Es gibt dabei keine Abkürzungen und auch keine „kleineren Übel“ vorzuziehen. Der Kampf gegen die reaktionären Ideologien der herrschenden Klasse wird nicht einfach werden. Er kann nur Gestalt annehmen, wenn RevolutionärInnen das Vertrauen derjenigen gewinnen, die Opfer dieser Ideologien wurden, wenn es gelingt sie von einem eingeschränkten Lokalismus weg für eine weitergehende Perspektive zu gewinnen. Dies wird jedoch perspektivisch nur durch eine langwierige und geduldige Basisarbeit international organisierter KommunistInnen in Betrieben und Stadtteilen möglich sein.

Sunday, January 20, 2013