Das deutsche Kapital und die Eurokrise – Ursachen und Grenzen eines Expansionsprojektes

Die Krise spitzt sich überall zu. Doch in Deutschland herrscht Friedhofsruhe. Warum ist das so? Diese Frage wird uns von GenossInnen aus anderen Ländern immer wieder gestellt. Der folgende Text wurde für ein internationales Publikum geschrieben und holt daher bewusst etwas weiter aus.

Während in der Eurozone die Angst vor Staatspleiten grassiert, meldet Deutschland günstige Konjunkturdaten. Kanzlerin Merkel behauptet sogar, Deutschland stünde „so gut wie lange nicht da“. Selbst das ansonsten eher zurückhaltende Fachblatt „Internationale Politik“ gibt sich triumphalistisch:

Die Monate der Eurorettung 2010 haben gezeigt: Angela Merkel ist so etwas wie die europäische Kanzlerin geworden. (…)In der Euro-Krise weiß jeder Gipfelteilnehmer, dass kein EU-Land gerettet werden kann, wenn Deutschland mit seinem wirtschaftlichen und finanziellen Potential und seinem guten Ruf auf den Finanzmärkten nicht sein OK gibt (1).

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Kann der deutsche Aufschwung trotz internationaler Krise tragfähig sein, oder gar als Brückenkopf eines neuen deutschen Expansionsprojektes dienen?

Das deutsche Exportmodell

Gegenüber Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Italien besteht der zentrale Vorteil Deutschlands darin, dass es gelungen ist eine industrielle Infrastruktur zu erhalten, und diese auch gegenüber den Erfordernissen des Weltmarktes kontinuierlich zu modernisieren. In Großbritannien ging die herrschende Klasse relativ spät und mit brachialer Gewalt gegen die Arbeiter der Kohle- und Stahlindustrie vor, um einen Umstrukturierungsprozess in Richtung Dienstleistungsgewerbe und Finanzsektor einzuleiten. Wir können heute sehen mit welchen Ergebnissen. In Deutschland vollzog sich der industrielle Strukturwandel nicht nur anders, sondern wesentlich früher. Als 1957 mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus der Taufe gehoben wurde, arbeiteten in der BRD bspw. 607 000 Beschäftigte im Bergbau. Mit dem Rückenwind des Nachkriegsbooms konnte diese Zahl in einem schleichenden aber dennoch rasanten Prozess reduziert werden, ohne wie Maggie Thatcher einen politische Konfrontation mit den industriellen Kernsektoren der Arbeiterklasse riskieren zu müssen. Durch Vorruhestandsregelungen, Umschulungen Sozialpläne und reichlich Subventionen wurde die Zahl der im Bergbau Beschäftigten in den Jahren 1957 bis 1966 fast halbiert. 2006 gab es in Deutschland nur noch acht Zechen (1957 waren es 153) mit insgesamt 35 000 Beschäftigten. Bergbau gilt in Deutschland mittlerweile weniger als Industrie sondern eher als eine von vielen Exporttechnologien. Ähnlich vollzog sich dieser Strukturwandel in der Stahl- und Textilindustrie. Zwar führte der industrielle Umbau und der Einsatz neuer Technologie zu verstärkter Arbeitslosigkeit, die Anfang der 80er Jahre die Zwei-Millionen-Marke überschritt, allerdings existierten noch genügend Spielräume um diesem Problem politisch und wirtschaftlich zu begegnen. Insbesondere die Kampagne der Gewerkschaften für die „35-Stundenwoche“ wurde vom Kapital geschickt aufgegriffen und gleichermaßen zur Arbeitsverdichtung wie zur Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse genutzt. Mit der Wiedervereinigung konnte Deutschland sein politisches Gewicht sowohl auf europäischer wie internationaler Ebene ausbauen. Doch der sog. „Wiedervereinigungsboom“ währte nur kurz. 1992 erhöhte die Bundesbank die Zinsen, um angesichts steigender Löhne und stärkerer Binnennachfrage inflationären Tendenzen entgegenzuwirken. Dies hatte jedoch gravierende Folgen für das Europäische Währungssystem. Aufgrund der schon damals grassierenden Währungsspekulation mussten das britische Pfund, die Lira und die spanische Peseta abwerten. Demgegenüber wertete die D-Mark massiv auf, was trotz günstiger Konjunkturdaten in den USA zum Einbruch der deutschen Exporte führte. Die deutschen Exporte sollten noch die ganzen 90er-Jahre an den Folgen der EWS-Krise leiden. Diese war und ist eine wichtige Lehre für die deutsche Bourgeoisie. Auch heute noch wird das Beispiel der EWS-Krise von 1992 gerne als Argument für die Stärkung des Euro ins Spiel gebracht.

Der Euro als deutsche Wunderwaffe?

Erst mit Einführung des Euro und den Wirtschaftsreformen der Schröderregierung kam die deutsche Exportwirtschaft 2007/2008 wieder richtig in Fahrt. Der Außenhandelsüberschuss betrug im Jahr 2007 198 Milliarden Euro. Im Jahr 2000 hatte er bei minus 17 Milliarden gelegen. Die mit dem Euro verbundenen Zinsen führten in anderen EU-Ländern zu Booms, von denen in letzter Konsequenz die deutsche Exportwirtschaft profitieren konnte. So wuchs das BIP von Spanien um 3,8 %, Irland um 6.8 %, Griechenland um 3.9%, Portugal im Schnitt um 2%. Demgegenüber sah das durchschnittliche Wachstum in der BRD mit 1.8% recht bescheiden aus. Dennoch eröffneten sich hierdurch Märkte, in die deutsches Kapital vorstoßen und die Stagnation der 90er-Jahre überwinden konnte. Die BRD fuhr nun Handelsbilanzüberschüsse ein, während die besagten EU-Länder mit Handelsbilanzdefiziten zu kämpfen hatten. Ihr Wirtschaftswachstum war zudem weitgehend kreditfinanziert und der Importüberschuss heizte die Verschuldungspirale weiter an. Alles in allem das Gemisch, aus dem Blasen entstehen. Doch nicht nur die importierten Waren waren „Made in Germany“, auch die Kredite stammten größtenteils von deutschen Banken. Flankiert wurde dies durch eine deutsche Wirtschaftspolitik, die verstärkt auf die Deregulierung der Finanzbranche und umfangreiche Steuervergünstigungen für Unternehmer und Kapitaleigner abzielte. 2005 machte der Anteil der Unternehmenssteuern im EU-Durchschnitt 2.4. % aus. In Deutschland waren es hingegen ganze 0,6%! Durch die Steuerreform von 2008 fielen die Steuersätze für Unternehmer unter 30% und damit hinter die Frankreichs, Belgiens oder Italiens zurück. Einige Übermütige gaben damals sogar die Parole aus London als Finanzschauplatz zu beerben. Die Bankenkrise von 2008 bereitete diesen Träumen und lang gehegten neoliberalen Gewissheiten ein jähes Ende. Milliardenschwere Rettungspakete mussten aufgefahren werden, um den schlimmsten Auswirkungen der Krise zu begegnen, bzw. eine Ausdehnung der Finanzkrise auf die Realwirtschaft zu verhindern. Im Unterschied zu anderen Ländern (besonders Großbritannien) waren diese Staatsinterventionen jedoch keine ausschließlichen „Bankenrettungen“.

Durch Kurzarbeitergeld, „Abwrackpremie(3) und Finanzspritzen für kleine und mittelständische Unternehmen sollte gezielt die industrielle Infrastruktur gestützt und die Konjunktur am Laufen gehalten werden. Maßnahmen die sich letztendlich auszahlten. Doch weitaus mehr kamen der deutschen Exportwirtschaft in dieser Phase die gewaltigen Konjunkturprogramme in den USA und China zugute. Durch sie konnten die deutschen Exporte nicht nur konstant gehalten, sondern sogar gesteigert werden. Im Jahr 2010 steigerte sich der deutsche Export nach China um 40%. Ein besonderer Profiteur war hierbei die deutsche Automobilindustrie, die einen wahren Boom durchlebte. Ebenso waren und sind die Rettungspakete für Griechenland und Irland aber auch der sog. „Eurorettungsschirm“ wichtige Stützungsaktionen für die deutsche Exportkonjunktur. In der Rolle des „verantwortlichen Zahlmeisters der EU“ konnte Deutschland nicht nur ökonomisch profitieren sondern seinen politischen Führungsanspruch in und außerhalb der EU entscheidend ausbauen. Der Euro-Stabilisierungsmechanismus und die weitgehende Kontrolle über die EZB bieten Spielräume eines noch direkteren Eingriffs in die Wirtschaftspolitik anderer EU-Staaten. Zwar erweist sich der Euro derzeit als äußerst kostspielig. Er ist jedoch ein langfristig angesetzter Hebel, um die Vorherrschaft des Dollar auf den internationalen Märkten zu brechen, und somit für die Expansionsstrategie des deutschen Kapitals weiterhin zentral, wie auch die folgende Äußerung des Vorstandschefs der „Allianz“, Michael Dieckmann unterstreicht:

Mit dem Euro haben wir Europäer in der Weltwirtschaft Gewicht. Kein Euroland, auch nicht Deutschland, würde mit nationaler Währung so viel Macht auf die Waage bringen. Dass 26 Prozent der Weltwährungsreserven auf den Euro lauten, zeigt das große Vertrauen in Europa und seine Mitgliedsländer (2).

Vom Wellfare zum Workfarestate – Die ArbeiterInnenklasse im Zangengriff

Der Euro hat sich als wichtiger Motor der deutschen Exportkonjunktur erwiesen. Aber er rollt nicht von allein. Die Konkurrenzvorteile gegenüber anderen EU-Ländern sowie Deutschlands Stellung als Mega-Exportkapital basiert auf einer seit Jahren betriebenen Lohndumpingpolitik. In den Jahren 2000 bis 2010 stiegen die Lohnstückkosten in den Euroländern im Schnitt um 20 Prozent. In Deutschland hingegen jedoch nur um sechs Prozent! Die Bourgeoisie hat die im Zuge der Wiedervereinigung in Ostdeutschland entstandene Massenarbeitslosigkeit geschickt genutzt, um den Zangengriff auf die Arbeiterklasse zu erhöhen. Systematisch wurden in den letzten Jahren Löhne und Sozialleistungen gekürzt und die Beschäftigungsverhältnisse dereguliert. Die Lohnentwicklung ist in den letzten 20 Jahren rückläufig. Seit 1993 nimmt die Lohnquote ständig ab. Dies ist in erster Linie eine Folge der Ausweitung der Teilzeitarbeit. Allerdings sinken seit 2003 auch die regulären Stundenlöhne stetig. Mit der Durchsetzung der sog „Agenda 2010“ konnte die deutsche Bourgeoisie einen bedeutenden strategischen Sieg verzeichnen. Durch diese „Reform“ der Arbeitslosen- und Sozialhilfegesetzgebung wurde der Druck auf die Arbeitsverhältnisse verschärft und die Klassenspaltung vertieft. „Hartz IV“ ist umgangssprachlich zum Synonym für Armut und sozialen Ausschluss geworden. Für die Betroffenen kommt „Hartz IV“ einem Offenbarungseid gegenüber dem Staat gleich. Sämtliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse müssen gegenüber dem Amt offen gelegt werden. Das bezieht zuweilen auch die Vermögensverhältnisse der Familie, des Lebens- und zuweilen auch selbst des Wohnungspartners ein. Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes müssen erst etwaige Ersparnisse und Immobilien „verbraucht“ werden, um Anspruch auf Auszahlung des Hartz IV-Regelsatzes zu haben. Dieser beträgt für volljährige Alleinstehende sowie Alleinerziehende 364 Euro im Monat. Die Auszahlung dieses Regelsatzes ist an den Zwang gebunden jede „zumutbare Arbeit“ anzunehmen. Hartz IV- Empfänger müssen nicht nur monatlich gegenüber dem Amt ihre Bemühungen nachweisen Arbeit zu finden, sie können auch im Rahmen sog. 1-Euro-Jobs für „gemeinnützige Arbeiten zwangsverpflichtet werden. Im Falle einer „Arbeitsverweigerung“ drohen „Sanktionen“ bzw. entschiedene Kürzungen des Regelsatzes (4).

Dadurch hat sich der Trend hin zu immer mehr prekärer Beschäftigung im Niedriglohnsektor rapide ausgeweitet. Die Lohnquote wurde weiter nach unten gedrückt. Mittlerweile arbeiten ca. ein Viertel der Beschäftigten im Niedrigsektor. Es verwundert daher nicht, dass die Bourgeoisie die Hartzgesetze als bahnbrechenden Erfolg feiert, der zu einer „Trendwende“ auf dem Arbeitsmarkt geführt habe. Doch die offiziellen Arbeitslosenzahlen (Ende 2010: 3,15 Millionen) sind stark geschönt. Die wirkliche Arbeitslosigkeit wird derzeitig auf ca. 6 Millionen geschätzt. Ca. zwei Millionen davon sind sog. „Langzeitarbeitslose – ohne jede Chance überhaupt eine prekäre Beschäftigung zu bekommen. Offiziell arbeitet heute jeder fünfte Erwerbstätige, also etwa 8 Millionen, im „Niedriglohnsektor“ und verdient damit weniger als 10 (Westen) bzw. 7 (Osten) Euro die Stunde. Ebenso hat sich die sog. „Leiharbeit“ ausgeweitet. Im November 2010 arbeiteten 900 000 Menschen (ein Rekordwert in der Geschichte der Bundesrepublik) in dieser Form prekärer Beschäftigung. Leiharbeiter sind Arbeitskräfte, die von speziellen Zeitarbeitsfirmen und privaten Arbeitsvermittlungen an bestimmte Unternehmen „verliehen“ werden. Sie haben weniger Kündigungsschutzrechte und verdienen (selbst wenn sie Vollzeit arbeiten) im Durchschnitt lediglich ca. 50% vom Lohn eines Vollzeitbeschäftigten. Ungefähr 100 000 Leiharbeiter sind derzeit gezwungen „aufzustocken“, d.h. zusätzliche Sozialleistungen beim Amt zu beantragen um über die Runden zu kommen. Die Zahl dieser sog. „Aufstocker“ erhöhte sich von 2005 bis 2009 um knapp 400 000 auf fast 1,3 Millionen Menschen. 390 000 von ihnen arbeiten mit Vollzeitjobs! Eine der zentralen Säulen dieses deutschen Erfolgsmodells ist die Einbindung und enge Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit Kapital und Staat. Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren nicht nur Lohnzurückhaltung geübt, sondern die Politik der Agenda 2010 und den Trend zur Flexibilisierung weitgehend mitgetragen. Ihre Organisationsstrategie zielt darauf ab, sich vorrangig auf die Kernbelegschaften zu stützen, während dem Bereich der Leiharbeit und prekären Beschäftigung nur wenig Bedeutung beigemessen wird. Politisch konnte diese Strategie bisher aufgehen, da trotz der Ausweitung des Niedriglohnsektors die mittleren und höheren Lohnsegmente noch nicht direkt angegriffen wurden. Zur Sicherung der industriellen Basis setzen Kapital und Gewerkschaften weiterhin darauf, eine Schicht hochqualifizierter Facharbeiter zu halten und weitestgehend ruhig zu stellen.

Grenzen und Dilemmata des deutschen Expansionsprojektes

“Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei“, lautet ein geläufiges deutsches Sprichwort. Noch im März 2011 erreichten die deutschen Exporte ein Volumen von 100 Milliarden Euro. Dies war der höchste Wert seit 1950. Doch bereits im Folgemonat April fiel der Wert exportierter Waren mit 84,3 Milliarden Euro deutlich geringer aus. Dies ist ein Indikator dafür, dass dem deutschen Exportmodell Grenzen gesetzt sind. Der sog. „Aufschwung“ in der BRD hing ausschließlich am Export. Er war nicht selbsttragend, und konnte die Binnenkonjunktur nicht beleben. Durch Außenhandel allein lassen sich jedoch nur in sehr begrenztem Masse Wachstumseffekte erzeugen. Bisher ist es dem deutschen Kapital gelungen Spielräume zu finden und zu nutzen, um auf den Konjunkturprogrammen und wirtschaftlichen Erholungsphasen der BRIC-Staaten zu „surfen“. Doch diese Spielräume werden immer enger. Die weltweite Verschärfung der Krise stellte gerade eine exportabhängige Ökonomie wie die deutsche vor schier unlösbare Herausforderungen. Trotz moderner industrieller Infrastruktur ist auch Deutschland nicht gegen das Problem wachsender Verschuldung gefeit. Die gegenwärtige Staatsverschuldung betrug Ende 2010 80% des BIP. Damit ist die in den Maastrichter Verträgen vereinbarte „Stabilitätsgrenze“ von 60% weit überschritten. Ebenso lag die Neuverschuldung bei 7,6 Prozent des BIP. Nach den Maastrichter Verträgen liegt die Grenze des Erlaubten bei 3% gemessen am BIP. All dies führt in der herrschenden Klasse zu zunehmender Nervosität. Verstärkt melden sich in den politischen Auseinandersetzungen sog. Euro-Skeptiker zu Wort, die gegen eine Aufblähung der Rettungsschirme und das Modell der Eurobonds mobil machen. Diese Stimmen spiegeln in erster Linie die wachsende Verunsicherung des Kleinbürgertums und des Mittelstands wieder. Die Bourgeoisie kann diese Stimmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt agieren lassen, da sie nützlich sind um den Nationalismus zu zementieren und die deutschen Expansionsbestrebungen ideologisch zu kaschieren. Gleichwohl ist sich die herrschende Klasse ihrer Grenzen durchaus bewusst. Mögliche Staatspleiten in Portugal, Spanien oder Italien werden offen als „worst case“- Szenario diskutiert, die den Rahmen des derzeitigen europäischen Projektes sprengen würden. Über die Auswirkungen eines möglichen Platzens der Finanzblasen in China wagt niemand öffentlich zu spekulieren. Die deutsche Bourgeoisie ist sich einig, dass sie den Euro als Eckpfeiler ihrer Expansionsstrategie halten muss, einen wirklichen Masterplan hat sie dafür jedoch nicht. Dies wird nicht zuletzt am sehr wechselhaften Agieren der Regierung Merkel deutlich, die gegenwärtig eher wie eine Getriebene wirkt. Noch nie hat eine Bundesregierung so schnell an Zuspruch verloren. Ihre bisherige Bilanz liest sich wie eine ganze Aneinanderreihungen von Pleiten, Pech und Pannen. Eine der größten strategischen Fehleinschätzungen bestand darin die gesamte Tragweite der arabischen Revolten zu spät begriffen zu haben. Dies führte in letzter Konsequenz zu dem höchst ungeschickten Agieren Deutschlands während der Libyenkrise. Die deutsche Bourgeoisie musste hier schmerzhaft lernen, dass Großbritannien zuweilen schneller schießt als die Preußen und dass Frankreich mitunter ein strategischer Partner mit ganz eigenen Ambitionen ist. Zeitweilig ist Deutschland im arabischen Raum ins Hintertreffen geraten, und muss dies nun auf der internationalen Bühne durch eine härtere und resolute Verteidigung der deutschen Position wieder wettmachen. Die gegenwärtige Regierungskoalition ist zutiefst instabil und könnte jederzeit von der parlamentarischen Opposition gestürzt werden. Angesichts der Turbulenzen auf den Finanzmärkten schreckt man jedoch vor einem solchen Schritt zurück. Allerdings deuten alle Indikatoren dahin, dass bedeutenden Teile der herrschenden Klasse auf eine möglichst baldige Einbindung der SPD in die Regierungsgeschäfte setzen.

Perspektiven

Die ArbeiterInnenklasse hat für das deutsche Exportmodell einen hohen Preis gezahlt, allerdings wenig Anstalten gemacht sich gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen zu wehren. Dies hat mehrere Gründe. Arbeitslosigkeit und Hartz IV wirken weiterhin als effektive Disziplinierungsinstrumente. Die Klassenspaltung in weitgehend abgesichert Kernbelegschaften, einen Niedriglohnsektor und ein mittleres Lohnsegment, welches zunehmend zerrieben wird, funktioniert, und stellt ein Zusammenkommen zum gemeinsamen Widerstand vor viele Probleme und Herausforderungen. Ferner hat es die deutsche Bourgeoisie bisher tunlichst vermieden die Arbeiterklasse als Ganzes frontal anzugreifen. Sie ging und geht äußerst geschickt Sektor für Sektor, Branche für Branche vor. Es ist ihr nicht nur gelungen, Spaltungslinien in der Klasse zu nutzen, sondern sogar neue zu ziehen. Die lange Periode relativen Klassenfriedens hat ihre Spuren hinterlassen. Es gibt wenig Kampferfahrungen und keine verankerten Widerstandstraditionen. Individualisierungstendenzen greifen auch in der Klasse mehr und mehr um sich. Jobverlust und Arbeitslosigkeit werden oftmals als individuelles Schicksal, zuweilen sogar als Folge eigenen Versagens gesehen. Die Ideologie der Sozialpartnerschaft und der Standortsicherung sind zwar angekratzt, finden aber immer noch (besonders in den industriellen Kernbelegschaften) Akzeptanz. Nach wie vor fungieren die Gewerkschaften als wichtigste Garanten dieser sozialen Friedhofsruhe. Ihre Mitgliederentwicklung ist rückläufig. Nach Jahren des Lohnverlustes ist eine gewisse Desillusionierung eingetreten. Die meisten Kollegen verlassen die Gewerkschaften jedoch eher in Richtung Arbeitslosigkeit und politischer wie sozialer Passivität. Einige Abwehrkämpfe sind in den letzten Jahren frontal mit den Gewerkschaften zusammengestoßen. Es ist ihnen aber nicht gelungen über den gewerkschaftlichen Rahmen hinauszugehen, und sich politisch zu verallgemeinern. Sie blieben Episoden, die von den beteiligten ArbeiterInnen größtenteils als Niederlagen bilanziert wurden. Die Zuspitzung der internationalen Krise wird zwar mit Interesse und Besorgnis verfolgt, allerdings eher aus der Perspektive eigener Ohnmachtserfahrungen betrachtet. Angesichts der derzeitigen Rahmenbedingungen sind den Entwicklungsmöglichkeiten revolutionärer Minderheiten Grenzen gesetzt. Eine der vordringlichsten Aufgaben besteht gegenwärtig darin politische Klärungsprozesse voranzutreiben, um so substantielle Schritte zu einem neuen revolutionären Organisationsansatz zu machen. Angesichts der sich verschärfenden Krise erweist sich dies jedoch als ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit – und KommunistInnen starten nicht gerade von der „pole-position“ in dieses Rennen.

J.W.

(1) Internationale Politik vom 21.1.2011. Die Zeitschrift wird von dem Regierungs-Think Tank „Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik“ herausgegeben.

(2) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.6.2011.

(3) Um die Automobilindustrie zu stützen beschloss die CDU/SPD- Regierung in Januar 2009 eine Verschrottungsprämie von 2.500 Euro für bestimmte Fahrzeuge (Der Wagen mindestens 9 Jahre alt, und mindestens 1 Jahr auf dem aktuellen Halter zugelassen sein). Damit bezweckte sie eine Konjunkturbelebung. Zunächst wurden 1,5 Milliarden Euro Fördermittel bereitgestellt. Später wurde das Projekt um weitere 3,5 Milliarden Euro aufgestockt.

(4) Von Amtswegen wurde für die sog 1 Eurojobs die Orwellsche Bezeichnung „Mehraufwandsentschädigung“ erfunden. Die Regierung begründet diese Maßnahmen damit, dass Langzeitarbeitslosen der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert werden soll. Im Grunde handelt es sich um ein Zwangsarbeitsprogramm. Arbeitslose werden verpflichtet für einen Euro die Stunde „gemeinnützige Arbeiten“ zu leisten. Dadurch wurde ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor geschaffen, der die die Löhne insgesamt unter Druck setzt.

Monday, April 15, 2013