Anarchismus im Rückblick: Unsere Suche nach einer revolutionären Praxis

Der An­ar­chis­mus ist nicht sel­ten die Stra­fe für die op­por­tu­nis­ti­schen Sün­den der Ar­bei­ter­be­we­gung.

W. I. Lenin

Wir wol­len die­sen Text mit einer Vor­be­mer­kung be­gin­nen: Dies ist kein An­griff auf die Mi­li­tanz un­se­rer li­ber­tä­ren Ge­nos­sIn­nen. Sie legen ein äu­ßerst ernst­haf­tes re­vo­lu­tio­nä­res En­ga­ge­ment an den Tag und wir haben gro­ßen Re­spekt vor dem Mut, den sie in un­se­ren ge­mein­sa­men Kämp­fen gegen die An­grif­fe der Bour­geoi­sie unter Be­weis ge­stellt haben. Die­ser Text ist der Ver­such un­se­re Pra­xis zu klä­ren, ohne die his­to­ri­schen Feh­ler der Ar­bei­te­rIn­nen­be­we­gung zu wie­der­ho­len. Auch wenn wir un­se­re Kri­tik hart und prä­gnant for­mu­lie­ren, wol­len wir ver­su­chen dabei so kon­struk­tiv wie mög­lich zu blei­ben. Die Au­to­rIn­nen die­ses Tex­tes sind beide ehe­ma­li­ge An­ar­chis­tIn­nen, bzw. um ge­nau­er zu sein li­ber­tä­re Kom­mu­nis­tIn­nen in der Tra­di­ti­on des Platt­for­mis­mus 1. Wir haben uns also an einer Strö­mung be­tei­ligt, die ver­sucht den An­ar­chis­mus zu einer re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gung mit dem Ziel der Über­win­dung des Ka­pi­ta­lis­mus zu „ver­än­dern“. Wir waren in der Pe­ri­ode 1998-​2010 als An­ar­chis­tIn­nen aktiv. Da­mals wurde es für klas­sen­kämp­fe­ri­sche Strö­mun­gen mög­lich, die He­ge­mo­nie in­di­vi­dua­lis­ti­scher und li­be­ra­ler Ten­den­zen, die den nord­ame­ri­ka­ni­schen An­ar­chis­mus über 30 Jahre do­mi­niert hat­ten, in­fra­ge zu stel­len und zu kri­ti­sie­ren. Das Schei­tern die­ser In­itia­ti­ven brach­te uns schließ­lich in Ver­bin­dung mit der Ita­lie­ni­schen Kom­mu­nis­ti­schen Lin­ken, einer Strö­mung die auf eine lange Tra­di­ti­on der Kri­tik an der of­fi­zi­el­len „kom­mu­nis­ti­schen“ Be­we­gung zu­rück­blickt. Wir mei­nen, dass un­se­re Ent­wick­lung nicht von un­ge­fähr kam, und an­de­re Ge­nos­sen, die die glei­chen oder ähn­li­che Er­fah­run­gen durch­ma­chen bzw. durch­ge­macht haben, zu ähn­li­chen Schluss­fol­ge­run­gen kom­men kön­nen. In den letz­ten Jah­ren ist uns auf­ge­fal­len, dass sich auch an­de­re in ähn­li­cher Rich­tung äu­ßern, so z.B. auf Libcom.​org, wo kri­ti­sche Strö­mun­gen aus dem an­ar­chis­ti­schen und mar­xis­ti­schen Spek­trum zu­sam­men­tref­fen. Wir hof­fen an­de­ren die lange und be­schwer­li­che Ent­wick­lung, die bit­te­ren Er­fah­run­gen, Ent­täu­schun­gen und Sack­gas­sen er­spa­ren zu kön­nen, die wir er­lebt haben. Un­se­re Bi­lanz zeigt, dass die post­mo­der­nen De­for­ma­tio­nen des An­ar­chis­mus nicht zu­fäl­lig zu­stan­de kom­men. Sie sind ein in­te­gra­ler Be­stand­teil die­ser Be­we­gung. Dies hat zur Folge, dass selbst jene li­ber­tä­ren Kom­mu­nis­tIn­nen, die schein­bar eine dem an­ar­chis­ti­schen Li­be­ra­lis­mus ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung ein­schla­gen, letzt­end­lich in einem Theo­rie­ge­bäu­de ohne jedes re­vo­lu­tio­nä­res Po­ten­ti­al be­haf­tet blei­ben.

Die­ses Pa­pier ist daher nicht ein­fach nur eine wei­te­re Kri­tik am Li­ves­tyle-​An­ar­chis­mus oder dem sog. „In­sur­rek­tio­na­lis­mus”. Der­ar­ti­ge Kri­ti­ken wur­den in der an­ar­chis­ti­schen Szene schon „in­tern“ ge­leis­tet und wir wol­len dem hier nichts hin­zu­fü­gen. Die­ser Text rich­tet sich nicht an jene, die glau­ben die Welt durch „Con­tai­nern“, selbst­ver­wal­te­te Wohn­pro­jek­te und Frei­räu­me ver­än­dern zu kön­nen. Viel­mehr wen­det er sich an alle Ge­nos­sIn­nen, die an­fan­gen eine Syn­the­se aus Mar­xis­mus und An­ar­chis­mus zu ent­wi­ckeln. Wir wer­den an vie­len Punk­ten an­set­zen und den Text in vier Teile glie­dern. Dabei wer­den wir nicht mit Kri­tik spa­ren. Denn mit Rosa Lu­xem­burg sind wir der Mei­nung:

Selbst­kri­tik, rück­sichts­lo­se, grau­sa­me, bis auf den Grund der Dinge ge­hen­de Selbst­kri­tik ist die Le­bens­luft und Le­bens­licht der pro­le­ta­ri­schen Be­we­gung.

Eine (große) Vor­lie­be für den Li­be­ra­lis­mus – trotz des kom­mu­nis­ti­schen Eti­ketts

An­fangs be­stand das we­sent­li­che Ziel der NEFAC („Nor­the­as­tern Fe­de­ra­ti­on of Com­mu­nist An­ar­chists“) darin, die Es­senz des An­ar­chis­mus wie­der zu sei­nen Ur­sprün­gen zu­rück­zu­füh­ren und ein pro­le­ta­ri­sches klas­sen­kämp­fe­ri­sches Pro­jekt zu ent­wi­ckeln. Die­ser An­satz (der weit­ge­hend auf his­to­ri­schen Be­trach­tun­gen ba­sier­te) zog sich schon immer den Zorn jener An­ar­chis­tIn­nen zu, die die li­be­ra­le Tra­di­ti­on im An­ar­chis­mus hoch­hiel­ten bzw. hal­ten. Von einem Kampf zwei­er ant­ago­nis­ti­scher Klas­sen zu spre­chen im­pli­ziert eine Re­fle­xi­on über Macht­ver­hält­nis­se, also die Frage, wer die Macht hat und wie man sie über­neh­men, bzw. kna­cken kann. Von einem re­vo­lu­tio­nä­ren Sub­jekt zu reden, einer ge­sell­schaft­li­chen Klas­se, die das Po­ten­ti­al hat ei­gen­stän­dig für ihre In­ter­es­sen und ihr so­zia­les Pro­jekt ein­zu­tre­ten, er­for­dert na­tür­lich in letz­ter Kon­se­quenz auch, sich von einer ne­bu­lö­sen Mul­ti­tu­de und dem be­que­men Sze­ne­rah­men zu ver­ab­schie­den. All dies wurde kur­zer­hand als etwas Au­to­ri­tä­res ab­ge­tan.

Die Mi­li­tan­ten der Grün­dungs­grup­pe mach­ten den Feh­ler in­ner­halb des An­ar­chis­mus einen “Kampf der Ideen” an­zu­zet­teln. An­statt in so­zia­len Kon­flik­ten und Ar­beits­kämp­fen mit pro­le­ta­ri­schen Sek­to­ren in einen Dia­log über kon­kre­te Pro­ble­me wie die Si­tua­ti­on am Ar­beits­platz, die Woh­nungs­not und Mi­gra­ti­on zu tre­ten, be­stand der Haupt­be­stand­teil un­se­rer Ar­beit darin An­ar­chis­tIn­nen davon zu über­zeu­gen we­ni­ger „an­ar­chis­tisch“ zu sein. Es wurde viel zu viel En­er­gie dar­auf ver­wen­det, die li­ber­tä­re kom­mu­nis­ti­sche Tra­di­ti­on in­ner­halb des An­ar­chis­mus zu ver­tei­di­gen. Texte von Ma­la­tes­ta, der „Dielo Truda“ Grup­pe und Ge­or­ge Fon­te­nis wur­den bes­ten­falls denen von Stir­ner, Proud­hon und Bob Black ent­ge­gen­ge­stellt – im schlimms­ten Fall je­doch ein­fach neben sie ge­stellt. His­to­ri­sche Or­ga­ni­sa­tio­nen wie die FCL, die FORA oder die CNT/FAI wur­den als leuch­ten­de Bei­spie­le ver­wen­det um Leute daran zu er­in­nern, dass der An­ar­chis­mus ein­mal tau­sen­de von Ar­bei­te­rIn­nen in sei­nen Struk­tu­ren or­gan­sier­te. Das war der Stoff un­se­rer Träu­me, wäh­rend zu Ver­an­stal­tun­gen ma­xi­mal 50 und zu Demos viel­leicht 500 Leute kamen.

Der Kampf um Ideen fand weder (wie er­war­tet) in den so­zia­len Be­we­gun­gen statt, noch schlug er sich auf theo­re­ti­scher Ebene in­ner­halb der an­ar­chis­ti­schen Be­we­gung nie­der. Doch wo dann? Fak­tisch fand so etwas von Zeit zu Zeit nur in­for­mell zwi­schen ver­schie­de­nen In­di­vi­du­en und Grup­pen statt, die all darum be­müht waren, ihre ei­ge­ne Tra­di­ti­ons­li­nie zu ver­tei­di­gen, ohne dabei je­doch die Fas­sa­de der Ei­nig­keit auf­zu­bre­chen. Letzt­lich führ­te das stets zu einem Kom­pro­miss zwi­schen den sich ent­wi­ckeln­den stra­te­gi­schen und pro­gram­ma­ti­schen An­sät­zen des Neo-​Platt­for­mis­mus und den ewi­gen un­ver­än­der­li­chen Wer­ten der li­be­ra­len Tra­di­ti­ons­li­nie im An­ar­chis­mus. Dies war zum Schei­tern ver­ur­teilt.

Was ist die li­be­ra­le Rich­tung im An­ar­chis­mus? Sie ist in ers­ter Linie wie der klas­si­sche Li­be­ra­lis­mus eine Phi­lo­so­phie, die der in­di­vi­du­el­len Frei­heit und dem mensch­li­chen Ver­hal­ten in einer mehr oder we­ni­ger be­stimm­ten Grup­pe gro­ßes Ge­wicht bei­misst. Auf der an­de­ren Seite steht sie für die Ak­zep­tanz ri­va­li­sie­ren­der, für ein po­li­ti­sches Pro­jekt schäd­li­cher Ten­den­zen unter dem Deck­man­tel eines fal­schen „Be­we­gungs­plu­ra­lis­mus“ Ein klas­si­sches Bei­spiel dafür ist die Ko­exis­tenz von pri­mi­ti­vis­ti­schen und klas­sen­kämp­fe­ri­schen An­ar­chis­tIn­nen (wie bspw. im Buch­la­den „In­so­u­mi­se“) aber es gibt noch viel an­de­re Bei­spie­le. Auf die Spit­ze ge­trie­ben führt der li­be­ral an­ar­chis­ti­sche Ge­dan­ke zu ab­sur­den Po­si­tio­nen. So z.B. die Vor­stel­lung, dass man in einer zu­künf­ti­gen Ge­sell­schaft auch die Exis­tenz einer ka­pi­ta­lis­ti­schen „Kom­mu­ne“ ak­zep­tie­ren könne, so­lan­ge sie in ihrem Ter­ri­to­ri­um ver­blei­be und mit ihrer Or­ga­ni­sa­ti­ons-​ und Pro­duk­ti­ons­tä­tig­keit uns nicht in die Quere komme. Letzt­lich läuft das po­li­ti­sche Pro­jekt auf der Er­stre­ben di­ver­ser Frei­räu­me hin­aus, wobei ver­ges­sen wird, dass eine ein­zi­ge Klas­se die Welt be­herrscht und diese ge­stürzt wer­den muss, um alle so­zia­len Klas­sen ab­zu­schaf­fen. Letzt­end­lich wird die Per­spek­ti­ve der Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats ab­ge­lehnt, bzw. zu­guns­ten di­ver­ser Fa­cet­ten li­be­ra­ler To­le­ranz auf­ge­ge­ben. Der Be­griff der „De­mo­kra­tie“, der stets zwi­schen bür­ger­li­cher und di­rek­ter De­mo­kra­tie hin und her pen­delt tri­um­phiert über den Be­griff des Kom­mu­nis­mus.

Eine Or­ga­ni­sa­ti­on im stän­di­gen Wie­der­auf­bau

An­fangs er­schien es uns als gute Idee in einer li­ber­tä­ren kom­mu­nis­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­on an­zu­fan­gen, um uns re­vo­lu­tio­nä­re Theo­rie an­zu­eig­nen, Er­fah­run­gen in so­zia­len Kämp­fen zu ma­chen und eine Grup­pen­stra­te­gie zu ent­wi­ckeln. Wir glaub­ten die Grund­la­ge ge­legt zu haben, zu der neue dazu sto­ßen­de Ak­ti­vis­tIn­nen, ihren Bei­trag leis­ten könn­ten. Doch das war kaum der Fall. Die Or­ga­ni­sa­ti­on ver­än­der­te sich fort­lau­fend, und brach nach Ein­tritts­wel­len in den Jah­ren 2003 und 2007 wie­der ein. Die Struk­tur war zwar hy­per­ho­ri­zon­tal – aber auf der an­de­ren Seite von der Ar­beit ei­ni­ger Se­kre­tä­rIn­nen (für In­ter­nes, Kam­pa­gnen und Pu­bli­ka­tio­nen etc.) ab­hän­gig. Der Zu­strom neuer Mit­glie­der brach­te die heik­le Frage po­li­ti­scher Schu­lun­gen auf die Ta­ges­ord­nung, führ­te aber auch dazu, dass sich die po­li­ti­schen Prio­ri­tä­ten fort­lau­fend än­der­ten. Neue Pro­jek­te, In­itia­ti­ven und Bünd­nis­se die ur­sprüng­lich ab­ge­lehnt wor­den waren, wur­den nun auf ein­mal auf Grup­pen­tref­fen für gut be­fun­den und an­ge­gan­gen. Es ist nicht über­ra­schend, dass viele die­ser Ideen uns wie­der enger an die “mi­li­tan­te” Szene von Mon­tre­al her­an­führ­ten, und uns für die Prot­ago­nis­tIn­nen einer Syn­the­se aus An­ar­chis­mus und Li­be­ra­lis­mus at­trak­ti­ver mach­ten. Wenn man auf die Ge­schich­te der NE­FAC-​UCL(„Nor­the­as­tern­Fe­de­ra­tio­nof An­ar­chist Com­mu­nist/ Union Com­mu­ni­ste­Li­ber­taire“) in Mon­tre­al zu­rück­blickt, kann man mit ei­ni­gen Mühen drei “ge­mein­sa­me Kam­pa­gnen“ aus­ma­chen: Eine Ju­gend­kam­pa­gne, ver­ein­zel­te an­ti­par­la­men­ta­ri­sche Kam­pa­gnen sowie spo­ra­di­sche In­ter­ven­tio­nen in der Stu­die­ren­den­be­we­gung. Doch es ging nicht nur um neue Pro­jek­te, man braucht auch die Kräf­te sie durch­zu­füh­ren. Diese Kräf­te hät­ten auf eine star­ke Or­ga­ni­sa­ti­on kon­zen­triert wer­den müs­sen, die mit Ele­men­ten der Klas­sen­be­we­gung im Dia­log steht. Doch das war nicht der Fall. Die Wei­ter­ga­be von Wis­sen und Er­fah­run­gen war man­gel­haft und die glei­chen Feh­ler wur­den immer wie­der­holt. An­statt un­se­re Ak­ti­vi­tä­ten kri­tisch aus­zu­wer­ten, nah­men wir sie ein­fach nur zur Kennt­nis, was zur Folge hatte, dass sie alles in einem Klima des laissez faire und der Kon­fu­si­on stän­dig wie­der­hol­te. Wir wur­den zwar Jahr für Jahr zahl­rei­cher und be­ka­men An­se­hen in der an­ar­chis­ti­schen Szene, doch umso mehr ent­fern­ten wir uns von der wirk­li­chen Be­we­gung des Klas­sen­kamp­fes. Wir waren da­mals auch sehr weit von Marx ent­fernt, der 1851 ge­schrie­ben hatte:

Die Men­schen ma­chen ihre ei­ge­ne Ge­schich­te, aber sie ma­chen sie nicht aus frei­en Stü­cken, nicht unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter un­mit­tel­bar vor­ge­fun­de­nen, ge­ge­be­nen und über­lie­fer­ten Um­stän­den

Je mehr die Or­ga­ni­sa­ti­on „idea­ler“, re­spek­ta­bler und stär­ker wurde, desto mehr ent­fern­te sie sich von ihren ur­sprüng­li­chen Zie­len.

Theo­rie­feind­li­che At­ti­tü­den und prak­ti­sche Sack­gas­sen

Einer der wich­tigs­ten Grün­de für un­se­ren Bruch mit dem An­ar­chis­mus war die Ver­ach­tung die­ser Strö­mung für theo­re­ti­sche Ko­hä­renz und den dar­aus re­sul­tie­ren­den Fol­gen auf die täg­li­che Pra­xis eines/r Mi­li­tan­ten. Der Fall der UCL, die von sich be­haup­tet, dass die Ein­heit in der Theo­rie zu ihren wich­tigs­ten Or­ga­ni­sa­ti­ons­prin­zi­pi­en ge­hö­re, in der es aber keine ge­mein­sa­me theo­re­ti­sche Schu­lungs­ar­beit gab, ist hier­für ein gutes Bei­spiel. Prak­tisch führt das dazu, dass die UCL in alle Rich­tun­gen lief. In ihrem in­ter­nen In­ter­net­fo­rum wurde die Or­ga­ni­sa­ti­on per­ma­nent durch ät­zen­de Dis­kus­sio­nen über Grund­satz­fra­gen zer­ris­sen. Ein Zu­sam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl zur NEFAC war im Kol­lek­tiv von Mon­tre­al nur schwach bis gar nicht vor­han­den. Die Ge­schich­te des „Wor­kers` So­li­da­ri­ty Net­work“, die Er­fah­run­gen mit den Kon­tak­ten mit On­ta­rio und po­li­ti­schen Kol­lek­ti­ven in den USA und der Zeit­schrift „Le Trou­b­le“- nichts von dem wurde an die nächs­te Ge­ne­ra­ti­on wei­ter­ge­ge­ben. Der Man­gel an theo­re­ti­scher Klar­heit spreng­te die De­bat­ten. Ei­ni­ge ver­tra­ten eine Art Ent­ris­mus in so­zia­len Be­we­gun­gen, an­de­re tra­ten für eine halb­au­to­no­me in­sur­rek­tio­na­lis­ti­sche Ak­ti­vi­tät ein, wäh­rend an­de­re auf post­mo­der­ne Iden­ti­täts­po­li­tik setz­ten. All dies un­ter­mi­nier­te zu­neh­mend die Or­ga­ni­sa­ti­on, die schließ­lich kaum zwei Jahre nach ihrer Grün­dung droh­te aus­ein­an­der zu fal­len. Es gab kein Ge­fühl mehr zu einer ge­mein­sa­men Or­ga­ni­sa­ti­on zu ge­hö­ren. Eine fal­sche de­mo­kra­ti­sche le­ga­lis­ti­sche De­zen­tra­li­sie­rung ver­schärf­te die Span­nun­gen zwi­schen Mon­tre­al und an­de­ren Kol­lek­ti­ven. Die Mit­glied­schaft ba­sier­te vor­wie­gend auf so­zia­len und per­sön­li­chen Be­zie­hun­gen und einer un­be­stimm­ten Vor­lie­be für den An­ar­cho-​Kom­mu­nis­mus der of­fen­kun­dig nichts für Punks und Aka­de­mi­ker war. Der Man­gel theo­re­ti­scher Schu­lun­gen führ­te zu der Vor­stel­lung in kür­zes­ter Zeit und um jeden Preis un­mit­tel­ba­re Er­geb­nis­se zu er­zie­len zu kön­nen. Kam­pa­gnen wur­den schnell ab­ge­bro­chen, wenn sie nicht schnell genug Er­geb­nis­se zei­tig­ten. Der Man­gel an his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve ver­un­mög­lich­te mit­tel-​ und lang­fris­tig aus den Er­fah­run­gen zu ler­nen. Eines der schlimms­ten Er­geb­nis­se die­ser Kurz­sich­tig­keit war das Be­stre­ben er­fah­re­ne Ak­tivs­tIn­nen zu ge­win­nen, die sich mit dem An­ar­chis­mus und der Ar­beits­wei­se der ak­ti­vis­ti­schen Szene aber nicht in der Ar­bei­te­rIn­nen­be­we­gung aus­kann­ten. Ab­ge­se­hen davon, dass die­ses Kon­zept schei­ter­te, stand es auch jedem Ver­such ent­ge­gen, sich an pro­le­ta­ri­sche Sek­to­ren zu wen­den. Die ganze Kul­tur der Grup­pe war auf das Zu­sam­men­füh­ren von Er­fah­run­gen an­ar­chis­ti­scher Ak­ti­vis­tIn­nen und nicht von Men­schen aus der Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se aus­ge­rich­tet. Dies zeich­ne­te maß­geb­lich das Kol­lek­tiv der UCL in Mon­tre­al aus. Neue Mit­glie­der und Un­ter­stüt­zer kamen und gin­gen, ohne dass sich etwas grund­le­gend än­der­te. Die Ge­schich­te der Grup­pe war von einer schnel­len Ent­wick­lung ge­kenn­zeich­net, der ein eine mehr oder we­ni­ger un­mit­tel­ba­rer Auf­lö­sungs­pro­zess folg­te. Was am Ende übrig blieb war eine ent­täu­schen­de Er­fah­rung, ein un­be­deu­ten­des Ka­pi­tel in der Ge­schich­te der ra­di­ka­len Lin­ken in Que­bec. Ein Ka­pi­tel, wel­ches mehr oder we­ni­ger von Li­ber­tä­ren ge­prägt wurde, die fak­tisch aus dem Nichts kamen, um das Va­ku­um, wel­ches die Mar­xis­ten-​Le­ni­nis­ten in den 70er Jah­ren hin­ter­las­sen hat­ten, aus­zu­fül­len. Die Tat­sa­che, dass die nu­me­risch be­deu­tends­te links­ra­di­ka­le Or­ga­ni­sa­ti­on der letz­ten 25 Jahre, im Früh­ling 2012 kaum Ein­fluss in der größ­ten so­zia­len Be­we­gung Que­becs aus­üben konn­te, un­ter­streicht die­ses Schei­tern.

Die Ab­leh­nung der Theo­rie ist kei­nes­wegs nur ein Pro­blem des an­ar­chis­ti­schen Mi­lieus in Mon­tre­al. Welt­weit ver­fügt der An­ar­chis­mus über wenig bis gar keine theo­re­ti­sche Ko­hä­renz. Wäh­rend mar­xis­ti­sche Grup­pen mit ganz un­ter­schied­li­cher Aus­rich­tung zu­min­dest an einem ge­mein­sa­men Kern iden­ti­fi­ziert wer­den kön­nen, ist der An­ar­chis­mus im All­ge­mei­nen ein schwar­zes Misch­masch, in dem jeder sein ei­ge­nes Denk­sys­tem ent­wi­ckeln kann. Er ba­siert auf einer Kom­bi­na­ti­on aus Re­bel­li­on, In­di­vi­dua­lis­mus, Li­be­ra­lis­mus und Ar­bei­ter­tü­me­lei. Das Pro­blem be­steht in einer vor­geb­lich „an­ti­au­to­ri­tä­ren“ At­ti­tü­de, die jeden Schu­lungs­pro­zess, bzw. die kri­ti­sche Aus­wer­tung von Er­fah­run­gen als Herr­schafts­ver­hält­nis an­sieht. Re­vo­lu­tio­nä­re Theo­rie zielt auf die Aus­wer­tung der Er­fah­run­gen der pro­le­ta­ri­schen Be­we­gung. Theo­rie außen vor zu las­sen, be­deu­tet stän­dig von vorne an­fan­gen zu müs­sen. In ihrer Wei­ge­rung die Wei­ter­ga­be von Er­fah­run­gen zu ak­zep­tie­ren, ver­sucht die li­ber­tä­re Be­we­gung sys­te­ma­tisch ihre ei­ge­ne Ver­gan­gen­heit zu ver­ges­sen und muss die Er­fah­run­gen ver­lo­re­ner Ge­ne­ra­tio­nen von Mi­li­tan­ten immer von Neuem er­ler­nen. Mit einem ge­wis­sen Zy­nis­mus müs­sen wir fest­stel­len, dass nur jene Li­ber­tä­ren, die ein ei­ni­ger­ma­ßen trag­fä­hi­ges theo­re­ti­sches Rüst­zeug ver­fü­gen, jene sind, die sich um eine Syn­the­se aus An­ar­chis­mus und Mar­xis­mus be­mü­hen. In den meis­ten Fäl­len ar­gu­men­tie­ren diese bei po­li­ti­schen Fra­gen als An­ar­chis­tIn­nen und als Mar­xis­tIn­nen, wenn es um öko­no­mi­sche Ana­ly­sen geht. Doch diese Zwei­tei­lung in Öko­no­mie und Po­li­tik ist falsch.

Re­fle­xi­on und Per­spek­ti­ven ver­sus Prin­zi­pi­en und Werte

Es wäre nütz­lich sich die Dif­fe­ren­zen zwi­schen An­ar­chis­mus und Mar­xis­mus ins Ge­dächt­nis zu rufen. Dies ist eine Frage von Me­tho­den und po­li­ti­schen Pra­xen. An­ar­chis­tIn­nen gehen in der Regel von einer be­stimm­ten Ethik aus, die strik­te An­wen­dung von Prin­zi­pi­en zu jeder Zeit, völ­lig los­ge­löst vom po­li­ti­schen Kon­text und theo­re­ti­scher Re­fle­xi­on. Ihre Nie­der­la­gen er­klä­ren sie aus­schließ­lich durch die Ab­kehr ei­ni­ger Li­ber­tä­rer vom an­ar­chis­ti­schen Ver­hal­tens­ko­dex oder die Ak­ti­vi­tä­ten an­de­rer po­li­ti­scher Strö­mun­gen. Dies führt letzt­lich zu einem Fe­ti­schi­sie­ren der Form. Kürz­lich waren wir mehr als über­rascht als ei­ni­ge An­ar­chis­ten die Riots in der Ukrai­ne wegen ihres an­geb­lich spon­ta­nen Cha­rak­ters und ihres Mas­sen­ge­halts ab­fei­er­ten. Doch die­ses Phä­no­men trifft nicht nur auf die Riot­fan­ta­si­en ei­ni­ger „In­sur­rek­tio­na­lis­ten“ zu. Der Fe­tisch der De­mo­kra­tie be­son­ders in ihrer di­rek­ten ho­ri­zon­ta­len, spon­ta­nen Form ist nur ein As­pekt der Ver­klä­rung einer kon­fu­sen Or­ga­ni­sa­ti­ons­form.

Als Kom­mu­nis­tIn­nen wis­sen wir, dass das Pro­le­ta­ri­at seine ei­ge­nen Or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men her­vor­brin­gen muss: Au­to­no­me Ver­samm­lun­gen, Streik­ko­mi­tees und Räte. Diese sind je­doch nicht aus sich selbst her­aus re­vo­lu­tio­när. Das haben viele his­to­ri­sche Bei­spie­le ge­zeigt, wie bspw. die mas­si­ve Do­mi­nanz der So­zi­al­de­mo­kra­tie in den Ar­bei­ter­rä­ten in Deutsch­land 1918-​1919. Ama­deo Bordi­ga brach­te dies fol­gen­der­ma­ßen auf den Punkt:

Es gibt (des­halb) keine Or­ga­ne die auf­grund ihrer Form re­vo­lu­tio­när sind. Es gibt nur so­zia­le Kräf­te, die durch die Rich­tung in die sie wir­ken re­vo­lu­tio­när sind und diese Kräf­te trans­for­mie­ren sich in eine Par­tei, die für ihr Pro­gramm kämpft (2).

Das Fe­ti­schi­sie­ren der Form fin­det sei­nen prä­gnan­tes­ten Aus­druck in der Be­trach­tung und Be­wer­tung zwei­er pro­le­ta­ri­schen Be­we­gun­gen der Ver­gan­gen­heit: Der Rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on und dem Spa­ni­schen Bür­ger­krieg. Hier kris­tal­li­sie­ren sich die Ge­gen­sät­ze zwi­schen An­ar­chis­tIn­nen und Mar­xis­tIn­nen be­son­ders deut­lich her­aus. Wäh­rend den Bol­sche­wi­ki (aus an­ar­chis­ti­scher Per­spek­ti­ve) vor­ge­wor­fen wird, die au­to­ri­tä­re Zer­schla­gung der Pro­vi­so­ri­schen Re­gie­rung vor­an­ge­trie­ben zu haben, wird die Re­gie­rungs­be­tei­li­gung der Li­ber­tä­ren im Rah­men der Spa­ni­schen Re­pu­blik ge­recht­fer­tigt. Ele­men­te der bür­ger­li­chen De­mo­kra­tie wer­den ge­gen­über der re­vo­lu­tio­nä­ren Dik­ta­tur be­vor­zugt. Wäh­rend der an­geb­lich von einer Avant­gar­de durch­ge­führ­te „Putsch“ im Ok­to­ber 1917 wegen sei­ner akri­bi­schen Vor­be­rei­tung ver­ur­teilt wird, wird die spon­ta­ne Er­he­bung der Mas­sen zur Ver­tei­di­gung einer bür­ger­li­chen Re­gie­rungs­form (der Re­pu­blik) zur re­vo­lu­tio­nä­ren Apo­theo­se ver­klärt. Ver­su­che die Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se in Russ­land um­zu­wäl­zen wer­den ver­ur­teilt, eine weit­ge­hend vom ka­pi­ta­lis­ti­schen Markt pa­ra­ly­sier­te Selbst­ver­wal­tung je­doch als ul­ti­ma­ti­ve re­vo­lu­tio­nä­re Ge­sell­schafts­ver­än­de­rung ab­ge­fei­ert. Auch die Er­klä­rungs­an­sät­ze für das Schei­tern der bei­den Re­vo­lu­tio­nen fol­gen die­sem Mus­ter. Wäh­rend wir Mar­xis­tIn­nen die Nie­der­la­ge des Pro­le­ta­ri­ats in Russ­land als Er­geb­nis der in­ter­na­tio­na­len Iso­la­ti­on und der dar­aus re­sul­tie­ren­den un­wei­ger­li­chen De­ge­ne­ra­ti­on an­se­hen, und das Schei­tern des Pro­le­ta­ri­ats in Spa­ni­en 1936-​37 auf die Un­fä­hig­keit zu­rück­füh­ren den bür­ger­li­chen Staat an­zu­grei­fen, er­klärt die Mehr­heit der An­ar­chis­tIn­nen die Grün­de für die Nie­der­la­ge mit den Um­trie­ben ri­va­li­sie­ren­der le­ni­nis­ti­scher Ten­den­zen. Was die An­ar­chis­tIn­nen als Ab­kehr von den Prin­zi­pi­en der rei­nen Lehre be­trach­ten, ist für uns eine bit­te­re his­to­ri­sche Lehre aus der es zu ler­nen gilt. Was für sie eine Ver­let­zung des Eh­ren­ko­dex ist, ist für uns Aus­druck eines tief­grei­fen­den or­ga­ni­sa­to­ri­schen und po­li­ti­schen Schei­terns. Die Kom­mu­nis­ti­sche Linke hat sich stets be­müht die Er­fah­run­gen der Klas­sen­kämp­fe in den letz­ten 150 Jah­ren zu ver­ste­hen und zu bi­lan­zie­ren. Der An­ar­chis­mus hat sich das­sel­be Ziel ge­setzt, ist je­doch „wie durch ein Wun­der“ zu ganz an­de­ren Er­geb­nis­sen ge­kom­men.

Fazit: Eine dop­pel­te Wette auf einen or­ga­ni­sa­to­ri­schen und pro­gram­ma­ti­schen An­satz

Die­ser Text soll nicht ein­fach ein Bruch, bzw. eine sim­ple Ab­gren­zung von or­ga­ni­sa­to­ri­schen und theo­re­ti­schen Ver­kür­zun­gen, vom Li­be­ra­lis­mus und den Schwä­chen des An­ar­chis­mus sein. Wenn wir eines Tages die schwarz-​ro­te Fahne auf­pflan­zen, dann weil wir ein ge­mein­sa­mes Ziel haben. Ein Ziel wel­ches nichts mit dem mör­de­ri­schen so­zia­len Frie­den der So­zi­al­de­mo­kra­ten oder der mit roter Soße gar­nier­ten ka­pi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lung eines Sta­lin, Mao oder Cas­tro zu tun hat. Die­ses Ziel war von jeher der Kom­mu­nis­mus, eine Ge­sell­schaft ohne Klas­sen, Staa­ten und Herr­schaft, eine ega­li­tä­re und ge­rech­te Ge­sell­schaft. Dass un­se­re Fahne mehr und mehr röt­li­che Töne an­nimmt, liegt daran, dass es eine weit­ge­hend un­be­kann­te und miss­ver­stan­de­ne po­li­ti­sche Tra­di­ti­on in der Ar­bei­te­rIn­nen­be­we­gung gibt, die uns mo­ti­viert hat uns po­li­tisch wei­ter zu ent­wi­ckeln. Die Ita­lie­ni­sche Kom­mu­nis­ti­sche Linke, die sich en­er­gisch da­ge­gen ver­wahr­te das Kind mit dem Ba­de­was­ser aus­zu­schüt­ten, hat es letzt­lich ver­stan­den eine Kri­tik an den Kämp­fen un­se­rer Klas­se, so­wohl ihren Nie­der­la­gen als auch ihren kur­zen und be­grenz­ten Er­fol­gen zu ent­wi­ckeln. Es ist diese Tra­di­ti­on mit der wir über­ein­stim­men und die es uns er­mög­licht un­se­re Zeit in der Wild­nis zu be­en­den, bzw. eine Hand­lungs­un­fä­hig­keit zu über­win­den, die von viel zu vie­len An­ti­ka­pi­ta­lis­tIn­nen als Aus­weis po­li­ti­scher Rein­heit aus­ge­ge­ben wird. Wir haben uns in die „In­ter­na­tio­na­lis­ti­sche Kom­mu­nis­ti­sche Ten­denz“ (IKT) ein­ge­reiht, um uns mit den be­wuss­tes­ten pro­le­ta­ri­schen Ele­men­ten um­zu­grup­pie­ren, und das re­vo­lu­tio­nä­re In­stru­ment zu ent­wi­ckeln, das wir brau­chen: Eine im Feuer des Klas­sen­kamp­fes auf dem Am­boss der re­vo­lu­tio­nä­ren Theo­rie ge­schmie­de­te in­ter­na­tio­na­le pro­le­ta­ri­sche Par­tei. Eine Or­ga­ni­sa­ti­on, die in der Lage ist, die po­li­ti­sche Au­to­no­mie un­se­rer Klas­se zu ver­tei­di­gen und das kom­mu­nis­ti­sche Pro­gramm zum Herz­stück des Kamp­fes für eine in­ter­na­tio­na­le, so­zia­le und li­ber­tä­re Re­vo­lu­ti­on zu ma­chen.

Liam und Ma­xi­mi­li­an

Liam und Ma­xi­mi­li­an sind in der GIO (Grou­pe In­ter­na­tio­na­lis­te Ou­vri­er) aktiv

Tuesday, August 26, 2014