Der Irak und das neue Kalifat des „Islamischen Staates“ (ISIS)

Als ob die Kriegs­wir­ren im Mitt­le­ren Osten nicht schon genug wären, hat sich nun im Irak ein neuer Kri­sen­herd auf­ge­tan. Mit der Er­obe­rung Mos­suls hat sich der selbst­er­nann­te „Kalif“ Abu Bakr Ibra­him al Bagh­da­di, ein lang­jäh­ri­ger Dschi­ha­dist und un­be­strit­te­ner Füh­rer der ISIS („Is­la­mi­scher Staat von Irak und Sy­ri­en“) eine neue Macht­po­si­ti­on ge­schaf­fen. Nach der Er­obe­rung von Zumar, nahm er die Stadt Sin­jar und die Öl­fel­der Ain Zalah und Ba­ta­mar in der Nähe der Gren­ze zu Sy­ri­en ein, wel­ches von der ISIS schon zu gro­ßen Tei­len kon­trol­liert wird. Diese Er­fol­ge haben den „schwar­zen Ka­li­fen“ er­mun­tert einen „Is­la­mi­schen Staat“ aus­zu­ru­fen, ein „hei­li­ges“ un­ab­hän­gi­ges Ter­ri­to­ri­um, in dem die Scha­ria un­ein­ge­schränkt gel­ten und wel­ches als Aus­gangs­punkt einer Of­fen­si­ve gegen die be­nach­bar­ten schii­ti­schen Re­gime die­nen soll. Die Leich­tig­keit und Schnel­lig­keit mit der sich diese mi­li­tä­ri­schen Ge­län­de­ge­win­ne voll­zo­gen, hat die schii­tisch do­mi­nier­te ira­ki­sche Re­gie­rung und die kur­di­sche Re­gie­rung im Nor­den des Lan­des ge­nau­so über­rascht wie vor­her das sy­ri­sche Re­gime um Al Assad.

Woher kommt ISIS?

Doch Al Bagh­da­di ist nicht vom Him­mel ge­fal­len. Sein Auf­tre­ten auf der kri­sen­ge­schüt­tel­ten Bühne des Mitt­le­ren Os­tens ist das Er­geb­nis jah­re­lan­ger in­nerim­pe­ria­lis­ti­scher Span­nun­gen und Aus­eina­der­set­zun­gen und hat das po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Kräf­te­ver­hält­nis in der Re­gi­on voll­kom­men ver­scho­ben. Die ISIS ent­stand 2003 in Fal­lud­schah, nach dem Sturz Sad­dam Hus­s­eins und der Er­obe­rung Bag­dads durch die al­li­ier­ten Trup­pen. Sie re­kru­tier­te sich aus an­fangs hun­der­ten spä­ter tau­sen­den ent­wur­zel­ter Män­ner und ka­na­li­sier­te den Unmut mit den üb­li­chen na­tio­na­lis­ti­schen und re­li­giö­sen Me­cha­nis­men. Aus einer Bande von Frei­schär­lern ent­wi­ckel­te sich mit der Zeit eine ef­fi­zi­en­te Armee, die im Nord­irak und Sy­ri­en Fuß fass­te und Ab­le­ger im Li­ba­non und Jor­da­ni­en auf­bau­te. Viele po­li­ti­sche Be­ob­ach­ter füh­ren die Stär­ke und Schlag­kraft der is­la­mi­schen Fa­na­ti­ker auf die Über­fäl­le und Aus­plün­de­run­gen er­ober­ter Städ­te und Ge­bie­te zu­rück. Das be­kann­tes­te Bei­spiel ist der Be­fehl des „Schwar­zen Ka­li­fen“ nach der Er­obe­rung Mo­suls, die Zen­tral­bank der Stadt und all ihre Fi­lia­len im Um­kreis von 50 Ki­lo­me­tern gründ­lich aus­zu­neh­men. Es stimmt auch, dass die Or­ga­ni­sa­ti­on auf Last­waa­gen Öl vom nörd­li­chen Sy­ri­en zu den Märk­ten der Tür­kei trans­por­tiert und dort ge­winn­brin­gend ver­scher­belt. Doch den Groß­teil ihrer Kriegs­kas­se be­zieht sie durch Un­ter­stüt­zungs­gel­der aus Sau­di-​Ara­bi­en und den Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­ra­ten. Es lässt sich schwer be­zif­fern wie groß diese Ein­kom­mens­quel­le ist. Doch sie scheint zwei­fel­los aus­rei­chend zu sein, um eine Armee zu un­ter­hal­ten, die den gan­zen Mitt­le­ren Osten in Angst und Schre­cken ver­setzt. Die­ser Groß­zü­gig­keit Sau­di-​Ara­bi­ens u.a. ge­gen­über Al Bagh­da­di liegt das Kal­kül Riads zu­grun­de, das Re­gime As­sads in Sy­ri­en sowie die schii­ti­sche Re­gie­rung im Irak zu schwä­chen, und so den ei­ge­nen Ein­fluss­be­reich in der Re­gi­on aus­zu­deh­nen. Das Ziel be­steht darin, per­spek­ti­visch die Öl­lie­fe­run­gen vom Mitt­le­ren Osten in den Mit­tel­meer­raum gänz­lich zu kon­trol­lie­ren. Doch damit kommt das Re­gime in Riad dem er­klär­ten Haupt­feind Iran di­rekt ins Ge­he­ge. Der Iran ist nicht nur im re­li­giö­sen Sinne ein Geg­ner, son­dern ge­ra­de im Öl­ge­schäft ein Haupt­ri­va­le. Unter dem Ban­ner des sun­ni­ti­schen Is­lams setz­ten die Sau­dis daher alle Hebel in Be­we­gung um das Feuer gegen „schii­ti­sche Hä­re­ti­ker“, seien sie nun Ira­ker, Ira­ner oder Ali­vi­ten wie Sy­ri­ens Prä­si­dent Baschar Al-​As­sad zu schü­ren. Dies ist ein will­kom­me­ner und ef­fi­zi­en­ter ideo­lo­gi­scher Deck­man­tel, um das ei­ge­ne im­pe­ria­lis­ti­sche Macht­stre­ben nach Öl und fi­nan­zi­el­ler wir po­li­ti­scher Vor­herr­schaft vom Mit­tel­meer­raum bis zum Kas­pi­schen Meer, von Kur­dis­tan über Sy­ri­en, Irak bis zum Li­ba­non zu ka­schie­ren.

Doch die ISIS ist wie an­de­re dschi­ha­dis­ti­sche For­ma­tio­nen nicht ein­fach nur ein Werk­zeug in den Hän­den der wa­ha­b­i­ti­schen sau­di­schen Mon­ar­chie. Si­cher­lich ist ihre de­sta­bi­li­sie­ren­de Funk­ti­on eng mit der Logik des im­pe­ria­lis­ti­schen Macht­kamp­fes zwi­schen Riad, Te­he­ran und Da­mas­kus ver­zahnt. Sie wird ihre mi­li­tä­ri­sche und po­li­ti­sche Kraft nur er­hal­ten kön­nen, wenn sie sich in die­ser Logik als funk­tio­nal er­weist. Doch damit ist noch lange nicht die Mög­lich­keit aus­ge­schlos­sen, dass die ISIS aus die­sen Rah­men aus­bre­chen und damit (wie es kürz­lich den An­schein hatte) das im­pe­ria­lis­ti­sche Kräf­te­ver­hält­nis voll­kom­men durch­ein­an­der­brin­gen könn­te.

Die Po­li­tik des Iran

Der “neue Kurs” des ira­ni­schen Prä­si­den­ten Ro­ha­ni ist der Po­li­tik der Sau­dis genau ent­ge­gen­ge­setzt. Te­he­ran schwenkt das Ban­ner des schii­ti­schen Is­lams (ge­nau­so wie es die Sau­dis im Namen der Sun­ni­ten tun) und ist sich voll­kom­men im Kla­ren, dass sich die ver­hee­ren­de Logik des mi­li­tan­ten Fun­da­men­ta­lis­mus ge­gen­wär­tig her­vor­ra­gend in die ei­ge­nen im­pe­ria­lis­ti­schen In­ter­es­sen ein­passt. Dabei be­lässt man es nicht ein­fach nur mit po­li­ti­scher und fi­nan­zi­el­ler Un­ter­stüt­zung für die di­ver­sen mi­li­tä­ri­schen Grup­pen, die sich der­zeit um Te­he­rans schüt­zen­den Man­tel sam­meln. Genau wie Saudi Ara­bi­en die Grün­dung der Ta­li­ban in Af­gha­nis­tan und Pa­kis­tan, der Al Kaida und jetzt der ISIS im Irak und Sy­ri­en er­mu­tigt und un­ter­stützt hat, zeig­te und zeigt sich der Iran ge­gen­über schii­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen wie der His­bol­lah in Li­ba­non aber zu­wei­len auch der (sun­ni­ti­schen) Hamas im Ga­za­strei­fen er­kennt­lich. Dem lie­gen we­sent­li­che stra­te­gi­sche Ziel­set­zun­gen zu­grun­de: 1. Den Iran aus der Iso­la­ti­on zu brin­gen, in die das Land nach Kho­me­nis „ Is­la­mi­scher Re­vo­lu­ti­on“ ab­ge­drif­tet war. 2. Wirt­schaft­li­che und po­li­ti­sche Be­zie­hun­gen zu „ähn­li­chen“ Re­gimes zu knüp­fen, bzw. zu ver­tie­fen. 3. Sich selbst als Kon­kur­rent Saudi Ara­bi­ens im Öl­ge­schäft ins Spiel zu brin­gen.4. Die Er­rich­tung ab­hän­gi­ger und wohl ge­son­ne­ner Re­gime zu er­mu­ti­gen und zu be­för­dern. 5. Län­der wie den Irak und Sy­ri­en die der­zeit im Fokus der ISIS und damit Riads ste­hen auch unter Ein­satz von Waf­fen­ge­walt en­er­gisch zu ver­tei­di­gen.

Im­pe­ria­lis­ti­sches „Great Game“ im Namen der „Hu­ma­ni­tät“

Bei all dem soll­te man nicht aus dem Augen ver­lie­ren, dass neben den re­gio­na­len Strip­pen­zie­hern auch die im­pe­ria­lis­ti­schen Groß­mäch­te zen­tra­le Ak­teu­re im „Great Game“ um die Öl und En­er­gie­res­sour­cen des Mitt­le­ren Os­tens sind. Seit Jahr­zehn­ten lei­den die Men­schen in der Re­gi­on unter den Fol­gen ihrer zy­ni­schen Macht­po­li­tik. Wäh­rend Russ­land und China im ge­gen­wär­ti­gen Macht­spiel auf der Seite des Irans und sei­ner Ver­bün­de­ten ste­hen, um ihre In­ter­es­sen an den Kri­sen­her­den des Mitt­le­ren Os­tens zu ver­tei­di­gen, set­zen die USA un­ver­dros­sen auf Saudi Ara­bi­en, von jeher ein alter Ver­bün­de­ter in der Golf­re­gi­on und letzt­end­lich auch eine selbst­ge­schaf­fe­ne Krea­tur. Nach­dem die ISIS die Stadt Mosul und einen wich­ti­gen Stau­damm am Ti­gris er­obert hat­ten, sahen die USA sich je­doch zum mi­li­tä­ri­schen Ein­grei­fen ge­nö­tigt und bom­bar­dier­ten mit F18 Kampf­flug­zei­gen Stel­lun­gen der Is­la­mis­ten. Of­fi­zi­ell wurde dies mit der Not­we­nig­keit einer hu­ma­ni­tä­ren In­ter­ven­ti­on zur Un­ter­stüt­zung der vie­len Flücht­lin­ge (vor allem Chris­ten und Je­si­den) be­grün­det. Die­ses Er­klä­rungs­mus­ter er­wies sich be­son­ders für US-​Prä­si­dent Obama, des­sen Image in­nen­po­li­tisch be­son­ders an­ge­schla­gen war, als sehr nütz­lich. Doch mit Men­schen­freund­lich­keit hat das Ein­grei­fen der USA wenig bis gar nichts zu tun. Die mi­li­tä­ri­sche Un­ter­stüt­zung für die kur­di­schen Pe­schmer­ga er­klärt sich eher aus dem Um­stand, dass die ISIS die Stadt Erbil und wich­ti­ge, auch von US-​Kon­zer­nen be­gehr­te Öl­vor­kom­men im ira­ki­schen Teil Kur­dis­tans be­dro­hen. Fol­ge­rich­tig star­ten nun auch an­de­re im­pe­ria­lis­ti­sche Mäch­te (wie Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich und Deutsch­land) ähn­li­che „hu­ma­ni­tä­re In­itia­ti­ven“, um ihren Am­bi­tio­nen in der Re­gi­on Nach­druck zu ver­lei­hen. Gleich­zei­tig meh­ren sich die An­zei­chen, dass die ISIS der Kon­trol­le Riads zu ent­glei­ten droht, ge­nau­so wie einst die Ta­li­ban in Af­gha­nis­tan ihren ame­ri­ka­ni­schen Gön­nern aus dem Ruder lie­fen. Dies wäre, wie be­reits aus­ge­führt, ein nicht zu un­ter­schät­zen­der Fak­tor, der das im­pe­ria­lis­ti­sche Ge­fü­ge gründ­lich durch­ein­an­der brin­gen würde.

Don’t fight the play­ers -​ Fight the game!

All dem liegt die all­täg­li­che ka­pi­ta­lis­ti­sche Bar­ba­rei zu­grun­de, in der sich Stell­ver­tre­ter­krie­ge, „re­li­giö­se“ Re­vo­lu­tio­nen und „sä­ku­la­re“ Re­stau­ra­tio­nen fort­lau­fend ab­lö­sen. Die Leid­tra­gen­den die­ses Spiels, wel­ches je nach An­lass im Namen des re­li­giö­sen Fun­da­men­ta­lis­mus oder der sog. „sä­ku­la­ren Frei­hei­ten“ ge­spielt wird, sind die­je­ni­gen, die als Ka­no­nen­fut­ter für Öl­in­ter­es­sen und im­pe­ria­lis­ti­sche Am­bi­tio­nen her­hal­ten müs­sen. Ohne eine re­vo­lu­tio­nä­re Ori­en­tie­rung und Per­spek­ti­ve, ohne eine in­ter­na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­lis­ti­sche Klas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on wer­den die Pro­le­ta­ri­sier­ten und Be­sitz­lo­sen immer wie­der in den alt­be­kann­ten Fall­stri­cken ge­fan­gen blei­ben und für die In­ter­es­sen un­se­res Klas­sen­geg­ners blu­ten und kre­pie­ren müs­sen. Es ist an der Zeit Schrit­te zu un­ter­neh­men, um die­sen Gor­di­schen Kno­ten zu zer­schla­gen.

Für die staa­ten-​ und klas­sen­lo­se Ge­sell­schaft!

GIS
Tuesday, August 26, 2014