Trotzki und die Ursprünge des „Trotzkismus“

Beginnen wir damit, die etlichen Mythen zu untersuchen die von der trotzkistischen Bewegung und ihren Unterstützern gepflegt werden. Ihre Lobeshymnen wurzeln im Wesentlichen in Trotzkis Prestige als Vorsitzender des Petrograder Sowjets 1905, als Organisator und Befehlshaber der Roten Armee und seinem Schicksal als Märtyrer im Kampf gegen den Stalinismus.

Eine kohärente Kritik des Trotzkismus hat nichts mit der stalinistischen Methode zu tun, seine menschewistische Vergangenheit auszugraben, oder seine theoretischen und praktischen Beiträge während der Russischen Revolution zu bestreiten. In der Tat war es seine Analyse der Revolution von 1905, die es Trotzki befähigte, die Möglichkeiten einer proletarischen Revolution mit einer Klarheit vorherzusehen, die sich mit Lenins Sicht der Dinge im Jahre 1917 deckte.

Als politische Bewegung ist der Trotzkismus allerdings trotz einiger Wurzeln in der revolutionären Periode, im Wesentlichen ein Produkt einer späteren Periode: Der Periode der Konterrevolution, von der er ein integraler Bestandteil wurde. Die Bewegung, die sich in Russland um Trotzki sammelte, entstand zu einem Zeitpunkt, an dem die europäische Revolution in einen Prozess der Niederlagen getreten war. Der weiße Terror wütete in Ungarn, die Faschisten waren in Italien im Begriff die Macht zu übernehmen und der letzte unabhängige Versuch eines Teils der deutschen Arbeiterklasse die Bourgeoisie zu stürzen, endete im März 1921 in einer Niederlage. Zwar gab es noch Ausbrüche des Arbeiterwiderstandes, (z.B. Deutschland 1923, England 1926 und China 1927) diese blieben jedoch isoliert und fragmentiert. In Russland war die revolutionäre Arbeiterklasse während der vier Jahre des Bürgerkrieges und der Isolation nahezu eliminiert worden. Die Einführung der NEP, die Annahme der Taktik der Einheitsfront mit der Sozialdemokratie und die Serie politischer wie militärischer Bündnisse mit kapitalistischen Staaten zeigte nur zu deutlich, dass die Niederlage der europäischen Revolutionen in Russland zur Konterrevolution führte. Trotzki könnte nachgesehen werden, dass er diesen Prozess der Degeneration nicht zur Kenntnis nahm – allerdings war er auch einer der wichtigsten Protagonisten dieses Prozesses.

Es war Trotzki der den Sieg der Roten Armee maßgeblich organisiert hatte und dann zu der Schlussfolgerung kam, dass die „Militarisierung der Arbeit“ auf die gesamte Arbeiterklasse ausgeweitet werden könnte, um sie für den Wiederaufbau Russlands zu disziplinieren. Es war Trotzki der am energischsten gegen die Arbeiteropposition auf dem 10. Parteitag der KPR im März 1921 auftat, der zum Fraktionsverbot führte. Es war Trotzki der 1922 die geheime militärische Zusammenarbeit mit dem deutschen Imperialismus einfädelte. Hätte die spätere Entwicklung von Trotzkis Theorien einen Bruch mit dieser unglücklichen Vergangenheit beinhaltete, wäre der Kampf für den Kommunismus vielleicht anders verlaufen. In Wirklichkeit war Trotzki (von 1923 an) nicht in der Lage seine eigenen Irrtümer zu erkennen. Vielmehr wurden die Irrtümer zum Bezugsrahmen seiner späteren Ideen, was u.a. eine eingehende Betrachtung seiner Opposition gegen den Stalinismus zeigt.

Die Linke Opposition und die Vereinigte Opposition

Die sog. Linke Opposition die sich Ende 1923 entwickelte, war nur indirekt mit Trotzki verbunden, der sich zu diesem Zeitpunkt wenig mit ihr identifizierte, obwohl die Oppositionellen seine gerade erschienene Schrift „Der Neue Kurs“ sehr begrüßten. Entgegen aller Mythen hatte diese Opposition nichts mit dem Kampf gegen die Idee des „Sozialismus in einem Land“ zu tun – aus dem einfachen Grund, weil sie zu einem Ende kam, bevor diese Idee verkündet wurde. Die "Linke Opposition" entstand, während der sog „Scherenkrise“ von 1923 als die Preise für Industriegüter stiegen, während die Preise für landwirtschaftliche Güter fielen, was zu einem wirtschaftlichen Ungleichgewicht führte. Die Opposition behauptete, dass die bürokratische Führung der Partei (zu diesem Zeitpunkt Sinowjew, Kamenew, Stalin und Bucharin) unfähig sei, diese Krise zu lösen – was diese dann jedoch prompt tat. Die Opposition argumentierte dafür, die marktwirtschaftliche Politik der NEP durch mehr Planelemente zu ergänzen und durch eine stärkere Besteuerung der Bauernschaft eine langsame Industrialisierung einzuleiten. Für Trotzki hieß das, wie er in seiner Schrift der Neue Kurs hervorhob, „durch Entwicklung der staatlichen Industrie den Grundpfeiler für die Diktatur des Proletariats und die Grundlage des Sozialismus zu legen.“ Da sie nicht den Parteiapparat kontrollierte, forderte die Opposition neben einer stärkeren Industrialisierung mehr „Demokratie“ in der Partei ein, ließ aber nicht durchblicken wem diese Demokratie nutzen sollte.

Sie kümmerte sich nicht um internationale Probleme und Fragestellungen und kritisierte die seit 1921 betriebene Politik (Einheitsfront, Annährung und Bündnisse mit kapitalistischen Staaten) mit keinem Wort. Trotzki schrieb zwar über diese Dinge, wurde jedoch wegen seiner Verteidigung der Einheitsfront und des "Nationalbolschewismus" in Deutschland eher als Mann des rechten Parteiflügels angesehen. Währenddessen hatte der „linke Flügel“ der deutschen Partei (Maslow, Fischer und Thälmann) Sinowjew und Stalin als Verbündete. Trotzkis Schriften über außenpolitische Themen, wie z.B. „Die Lehren des Oktobers“ waren eher darauf ausgerichtet nachzuweisen, dass Sinowjew und Kamenew (die schon den Oktober 1917 nicht wahrnehmen wollten) 1923 in Deutschland eine revolutionäre Gelegenheit versemmelt hatten. Langsam von den Machtzentren entfernt, versuchte Trotzki das Scheitern der Einheitsfront und der sog. „Arbeiterregierungen“ in Sachsen und Thüringen Sinowjew in die Schuhe zu schieben. Zu dieser Zeit sah Trotzki in Sinowjew einen gefährlicheren Gegner als in Stalin. Da allerdings Trotzki die politischen Manöver der Einheitsfrontpolitik und der Arbeiterregierungen wesentlich mitzuverantworten hatte, fehlte seiner Polemik jede Stoßkraft. Als es vor dem „Deutschen Oktober“ im Sommer 1923 in Deutschland aufgrund der Währungskrise zu einer wirklichen Klassenbewegung gekommen war, hatte sich Trotzki vehement gegen jeden Aufstandsversuch ausgesprochen: „Wir betrachten die französische Besetzung der Ruhr nicht als revolutionären Stimulus. (...) es ist nicht in unserem Interesse, dass eine Revolution in einem blutbefleckten Europa ausbricht. Wir sind zutiefst an der Aufrechterhaltung des Friedens interessiert“(1) Was waren die Gründe dafür: Zu dieser Zeit war Trotzki der wichtigste Fürsprecher einer Allianz Deutschlands und Russlands gegen die Entente (Frankreich und England). Eine derartige Politik musste jedoch zwangsläufig auf ein Bündnis mit der politischen Rechten in Deutschland hinauslaufen, den Kräften des Faschismus und Nationalismus gegen die französische Ruhrbesetzung. Diese Politik des „Nationalbolschewismus“ war eine Erfindung von Karl Radek, einem Führer der "Linken Opposition". Der zunehmende Machtverlust sowie das Auftauchen einer Pro-Entente- Regierung in Deutschland, führte schließlich dazu, dass Trotzki sich schließlich wieder in einen „Revolutionär“ verwandelte. Zu dem Mangel an Klarheit und dem Fehlen eines politischen Programms kam noch hinzu, dass die "Linke Opposition" über keinen nennenswerten Rückhalt in der Arbeiterklasse verfügte. Für sich genommen ist dies noch kein entscheidendes Kriterium. In bestimmten Momenten können auch wirkliche proletarische Organisationen in der Klasse isoliert sein und gegen den Strom schwimmen müssen.

Allerdings waren viele Mitglieder der Opposition für ihre arbeiterfeindlichen Positionen in den Debatten über die „Arbeitsdisziplin“ bekannt. Sie hatten die Welle von Massenstreiks, die 1923 infolge der Verschlechterung der Lebensbedingungen ausgebrochen waren, offen denunziert. In ihren Appellen und Texten wandte sich die Opposition in erster Linie an Parteibürokraten und Industriemanager und nicht an die Arbeiterklasse. An der Parteibasis hatte die Opposition bei den Industriearbeitern am wenigsten Erfolge. Die ökonomischen und politischen Forderungen ihrer Plattform hatten keine Anziehungskraft für Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Bürokratie machte zwar einige Zugeständnisse an die Forderungen der "Linken Opposition", allerdings wurde sie auf dem 13. Parteitag offiziell verurteilt und löste sich im Frühjahr 1924 auf. Eine derartige Strömung verdient weder die Bezeichnung „links“ noch „Opposition“. Aber lassen wir einem russischen Arbeiter das letzte Wort, der sich zu den Auseinandersetzungen zwischen der Bürokratie und der Opposition folgendermaßen äußerte: „Die Arbeiter werden mich fragen was Eure grundlegenden Differenzen sind. Um es offen auszusprechen: Ich weiß wirklich nicht was ich antworten soll.“ (2) Dieser eine Satz eines Proletariers bringt den Charakter der sog. „Linken Opposition“ auf den Punkt. Dennoch gingen die Manöver und Machtkämpfe in der Partei weiter und nahmen an Schärfe zu. 1923 verbündete sich Stalin mit Sinowjew gegen Trotzki und als sich später Stalin und Bucharin gegen Sinowjew wandten, ging Trotzki ein taktisches Bündnis mit ihnen ein, da er in Sinowjew immer noch den Hauptgegner sah.

Als Trotzki im Januar 1925 von seinem Posten als Kriegskommissar enthoben wurde, revanchierte sich Stalin dafür, indem er Sinowjews Forderung Trotzki ganz aus der Partei auszuschließen abwehrte. Zu dieser Zeit hatte Stalin seine Theorie des „Sozialismus in einem Land“ schon offen proklamiert. Soweit also zu Trotzkis Kampf gegen diese. 1925 hatte dieser berühmte Kampf noch gar nicht angefangen, da Trotzki nicht Stalin, sondern Sinowjew als seinen Hauptfeind und Anführer der bürokratischen Degeneration ansah. Als sich ankündigte, dass die Gruppe um Stalin und Bucharin den Machtkampf gewinnen würde, bildeten Sinowjew und Kamenew die sog. "Leningrader Opposition". Trotzki hielt sich zunächst abseits, verbündete sich aber dann mit der Sinowjewgruppe. Im Juli unterzeichnete er mit Kamenew, Sinowjew und Lenins Frau Krupskaja die „Erklärung der Dreizehen“ (Mitglieder des Zentralkomitees). Dies war die öffentliche Bekanntgabe der Gründung der „Vereinigten Opposition“, die bis zum Dezember 1927 hielt. Die „Vereinigte Opposition“ forderte stärkere Planung und Industrialisierung und einen Kampf gegen die „NEP-Männer und Kulaken“. Darüber hinaus forderten sie die Wiederherstellung der Parteidemokratie, die sie allesamt auf dem 10. Parteitag von 1921 mit außer Kraft gesetzt hatten. Die „Vereinigte Opposition“ behauptete von sich die wirklichen Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Wenn das stimmen würde, müsste das gleiche für Stalin gelten, der von 1929 bis 1934 nahezu alle Positionen der Opposition übernahm. Diese Feststellung ist nicht einfach im Nachhinein abgeleitet. Der Großteil der Opposition, der es noch nicht getan hatte, kapitulierte nach 1929 bereitwillig vor Stalin und selbst Preobraschensky erklärte, dass die Fortführung der Opposition durch Trotzki nicht gerechtfertigt sei. Wieder einmal war es der Opposition nicht gelungen signifikante Unterstützung aus der Arbeiterklasse zu gewinnen.

Wieder einmal lag ihr Hauptgewicht in der Bürokratie, die sie zwar kritisierte aber deren Herrschaft sie nicht in Frage stellte. Der letzte vernichtende Schlag wurde von Trotzki selber ausgeführt. Stalins „Linkswende“ brachten ihn in Konflikt mit der Rechten um Bucharin. Letzterer stimmte nun in den Chor für mehr innerparteiliche Demokratie ein, und machte Trotzki 1928 auf dieser Grundlage ein Bündnisangebot. Trotzki der oft den „Zentristen“ Stalin gegen den „Rechten“ Bucharin öffentlich „kritisch unterstützt“ hatte, schockierte seine Anhänger, indem er auf dieses opportunistische Angebot einging. Die Auswirkungen dessen auf die Opposition sind nur schwerlich einzuschätzen, da Trotzki im Januar 1929 von Stalin ins Exil getrieben wurde und eine Ära der Mythenbildung einsetzte.

„Sozialismus in einem Land“

Viele seiner Unterstützer werden einräumen, dass Trotzkis Opposition auf den bürokratischen Apparat (dem er selber entstammte) begrenzt und weitgehend loyal war, aber sein wirklicher Verdienst im Kampf gegen die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ ( von Stalin zum ersten Mal im Dezember 1924 geäußert) und der damit verbundenen Aufgabe des Internationalismus bestünde. Kaum ein anderes Thema hat so viele Mythen und Mystifikationen erzeugt wie dieses. Vor 1917 hat sich die Frage eines einzelnen Nationalstaats, der von sich aus zum Sozialismus schreitet historisch niemals gestellt.

Deshalb ist es nicht überraschend, dass Marxens Bemerkungen zu dieser Frage sehr vage sind. Die vorherrschende Sichtweise der 1889 gegründeten Zweiten Internationale war, dass es in jedem bürgerlichen Nationalstaat zu einem friedlichen Hinüberwachsen zum Sozialismus kommen, und die sozialistischen Staaten in eine Föderation miteinander treten würden. Der linke Flügel der Zweiten Internationale lehnte zwar die Idee eines friedlichen Hinüberwachsens zum Sozialismus ab, ließ aber die Frage, ob es in den fortgeschrittenen Ländern zu einer sozialistischen Transformation innerhalb nationaler Grenzen kommen könnte, weitgehend offen. In diesen Ländern wurden die materiellen Voraussetzungen für eine sozialistische Umgestaltung als gegeben angesehen. Lenin schrieb 1916 (mitten im imperialistischen Krieg): „Als selbstständige Losung könnte sie ( die Losung der Vereinigten Staaten der Welt) die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen. Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen ...“(3)

Die besondere Rückständigkeit Russlands nahm in diesen Diskussionen einen großen Raum ein. Lenin und die Bolschewiki gingen lange davon aus, dass in Russland eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stünde, die sich jedoch auf die Arbeiterklasse stützen müsste. Trotzki argumentiere hingegen auf der Grundlage seiner Theorie der Permanenten Revolution, dass die russische Revolution mit der Revolution in den westeuropäischen Ländern zusammenfallen und daher einen sozialistischen Charakter annehmen könnte. Lenin kam später (unabhängig von Trotzki) in seinen Aprilthesen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Die Bolschewiki gingen also von der Möglichkeit aus, in Russland eine sozialistische Entwicklung einzuleiten und gleichzeitig die Weltrevolution vorantreiben zu können. Natürlich kam niemand auf den Gedanken, dass sich ein sozialistisches Regime von der Perspektive der Weltrevolution abwenden könne. Der Aufbau des Sozialismus und die Ausweitung der Revolution auf andere Länder wurden als gleichbedeutende miteinander verflochtene Aufgaben gesehen. Als sich herausstellte, dass das Russland der NEP vollständig in die Isolation geraten war, drehten die Diskussionen in der Parteispitze sich jedoch nicht vorrangig um die abstrakte Fragestellung der Möglichkeit des Sozialismus in einem Land. Sie befürchteten in erster Linie, dass das sozialistische Experiment in Russland aufgrund der Gefahr eines imperialistischen Angriffs in einer feindlichen kapitalistischen Welt nicht überleben könne.

Die Intervention imperialistischer Länder während des Bürgerkrieges war ein deutliches Beispiel für diese Gefahr. In den 20er Jahren war die Führung der KPR, allen voran Trotzki, von der Angst geplagt, dass eine neue Allianz imperialistischer Staaten Russland angreifen könne, um eine bürgerliche Restauration zu bewirken. Als jedoch der Sowjetstaat seine Fähigkeit unter Beweis gestellt hatte, (vor allem durch Zugeständnisse und einen langsamen Prozess der Kapitulationen) zu überleben, wurde die „Theorie des Sozialismus in einem Land“ von Stalin erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Stalin stand zusammen mit Bucharin und anderen, die die NEP als langfristige Konzession, an die an die Bauernschaft betrachteten, eher auf dem rechten Flügel der Partei. In seiner Schrift „Grundlagen des Leninismus“ von 1924 äußerte er sich noch nicht explizit zur Frage des „Sozialismus in einem Land“. Seine im „Politischen Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees and den XIV. Parteitag der KPdSU(B)“ geäußerte Sozialismuskonzeption unterscheid sich nicht grundsätzlich von der Trotzkis: „Und dennoch kann man unsere Ordnung in ihrer Gesamtheit vorläufig weder kapitalistisch noch sozialistisch nennen. Unsere Ordnung in ihrer Gesamtheit stellt einen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus dar, wo, was den Umfang der Produktion betrifft, immer noch die auf dem Privateigentum beruhende bäuerliche Produktion überwiegt, der Anteil der sozialistischen Industrie aber ununterbrochen wächst.“ (...) Man könnte sagen, das sei dennoch kein vollständiger Sozialismus, wenn man jene Überreste des Bürokratismus ins Auge fasst, die in den Verwaltungsorganen unserer Betriebe noch verblieben sind. Das stimmt. Aber das widerspricht nicht der Tatsache, dass die Staatsindustrie ihrem Typus nach eine sozialistische Produktionsform ist.“ (4) Stalins Argument war, dass solange die "Smytchka" (das Bündnis der Arbeiter und Bauernschaft) aufrechterhalten werde, der Sozialismus in Russland schrittweise aufgebaut werden könne. Trotzki kümmerte sich zu dieser Zeit wenig um Stalin. In seinen Schriften aus dieser Zeit akzeptierte er vielmehr die Möglichkeit eines „Sozialismus in einem Land“ selbst in einem so rückständigen wie Russland: „Es ist klar, dass unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wiedergeburt in Europa und der ganzen Welt, die möglicherweise viele Jahre lang anhält, sich der Sozialismus in einem rückständigen Land Auge in Auge mit einer kolossalen Gefahr befinden würde.“ (5) Vielmehr war es die Leningrader Opposition um Sinowjew und Kamenew, die auf den 14 Parteitag als erste gegen die Losung des „Sozialismus in einem Land“ opponierte. Wie wir schon ausführten hielt sich Trotzki, der Stalin als das kleinere Übel ansah, zunächst zurück. Sein späteres Bündnis mit der Leningrader Opposition kam in erster Linie aufgrund eines Meinungsumschwungs Sinowjews und Kamenews in der Frage der Industrialisierung Russlands als besten Weg zum Sozialismus zustande.

In der ganzen Debatte über die Frage des „Sozialismus in einem Land“ traten die Differenzen also allenfalls in Nuancen zutage. Während Stalin und Bucharin argumentierten, dass das Russland unter der NEP auf einem Bauerngaul langsam zum Sozialismus reiten könne, betonte Trotzki vorrangig die Notwendigkeit einer schnelleren Industrialisierung. Seine damalige Sichtweise brachte er in dem Artikel „Kurs auf den Sozialismus oder Kapitalismus“ folgendermaßen auf den Punkt: “Solange die Produktivkräfte nicht wachsen, kann vom Sozialismus keine Rede sein“. Entgegen seiner späteren Behauptungen war Trotzkis Angriff auf die „Theorie des Sozialismus in einem Land“ also weit von einer soliden Verteidigung des Internationalismus entfernt. Im Gegensatz zu Stalins Glauben an Autarkie und Akkumulation in der Isolation, argumentierte Trotzki auf internationaler Ebene in erster Linie für eine Belebung der Außenhandelsbeziehungen, um so Nutzen aus dem Weltmarkt zu ziehen. In einem Brief aus dem Exil an die Überreste der russischen Opposition empfahl Trotzki, die wachsende Arbeitslosigkeit, insbesondere in Großbritannien und Deutschland, zu nutzen, um Kredite für landwirtschaftliche Geräte, Maschinen usw. im Tausch gegen die Erzeugnisse der kollektivierten Arbeit zu erwerben Stalin hingegen zog die Möglichkeit durch den Außenhandel die Industrialisierung zu beleben kaum in Betracht, da sich nach 1929 Handelsbeziehungen deutlich zu Ungunsten der UdSSR entwickelten. Auf der anderen Seite forderte Trotzki die Handelsbedingungen der UdSSR durch Aufrufe und Appelle an die Millionen erwerbslosen Arbeiterinnen und Arbeiter im Westen zu verbessern, um so Druck für mehr Handel und Exportkredite auszuüben und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Trotzkis „Internationalismus“ war zu dieser Zeit also nicht gänzlich abstrakt. Als Aufruf zur kapitalistischen Stabilisierung hätte er jeden Freihandels-Anhänger des 19. Jahrhunderts zur Ehre gereicht. Später schien Trotzki vergessen zu haben, dass sein Bündnis mit Sinowjew in der „Vereinigten Opposition“ im Wesentlichen darauf basierte, dass er sich mit seiner Theorie der Permanenten Revolution und der damit verbundenen Betonung der Weltrevolution bedeckt hielt.

In der Tat war es eher die Stalin-Fraktion, die sich (vor 1934) viel öfter in rituellen Bekenntnissen zur Weltrevolution erging. Insbesondere nach Stalins „Linksschwenk“, der sog. „Dritten Periode“, die Opposition jede Grundlage raubte. Victor Serge, ein damaliger Unterstützer Trotzkis beschrieb die Situation der Opposition später folgendermaßen: „1928 und 1929 nahm das Politbüro auf eigene Rechnung die großen Leitideen der ausgeschlossenen Opposition auf- ausgenommen, wohlgemerkt, die Arbeiterdemokratie! – und führte sie mit unerbittlicher Gewalt durch. Wir hatten die Besteuerung der reichen Bauern vorgeschlagen – sie wurden unterdrückt! Wir hatten Einschränkungen und Änderungen der NEP vorgeschlagen- man schaffte sie ab! Wir hatten die Industrialisierung vorgeschlagen – man führte sie durch, und zwar in kolossalen Ausmaß, von dem wir, obwohl man uns als `Superindustrialisten“ bezeichnet hatte, nicht zu träumen gewagt hätten, und die dem Land unermesslich Leiden zufügte.“(6) Indem er selbst zum „Superindustralisten“ wurde, klaute Stalin der Opposition nicht nur ihr Programm. Er eliminierte die gesamte Grundlage ihrer Kritik. Alle Oppositionsgruppen innerhalb der Partei waren davon ausgegangen, dass die Bürokratie niemals ihre Forderungen erfüllen würde. Da sie aber fest in der Bürokratie verwurzelt waren, waren sie auch nicht in der Lage ihre soziale Grundlage infrage zu stellen, auch wenn Trotzki und andere für einen kurzen Moment aufging, dass hier eine neue Klasse im Entstehen war.

(1) Zit. nach E.H. Carr: The Interregnum, Seite 66.

(2) Zit. Critique Nr.4, S.44

(3) W.I. Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in Ausgewählte Werke, Bd. II, Seite 617. 4)

(4) Stalin Werke, Bd. 7, Seite 269.

(5) Trotzki: Challenge of the Left Opposition, S.295.

(6) Viktor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburg 1977, S. 283.

Sunday, August 30, 2020