Der revolutionäre Beitrag von Paul Mattick

Buchbesprechung "Marxism in a Lost Century: A Biography of Paul Mattick" von Garry Roth (Haymarket Books/Historical Materialism Series)

Diese Biographie von Paul Mattick, die 2015 erschien, wird im Klappentext als eine Geschichte der "Radikalen Linken" im 20. Jahrhundert beschrieben, ein Jahrhundert, das für den Marxismus als verloren angesehen wird. Obwohl sie Matticks Erfahrungen während der revolutionären Aufstände in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg akkurat beschreibt, wird der allgemeine Hintergrund dieser Ereignisse nicht dargestellt und die späteren theoretischen Arbeiten von Mattick nicht sonderlich hervorgehoben. Dies ist eine bewusste Auslassung, und der Autor Garry Roth rät uns, Matticks eigene Publikationen zu lesen, um diesen Fragen nachzugehen. Dies lenkt vom Buch ab und macht einige der Entwicklungen in seinem Leben weniger leicht verständlich. Aus diesem Grund ist es nicht die Geschichte der "Radikalen Linken", die uns versprochen wird. Roth konzentriert sich auf 3 Hauptthesen, die erste ist Matticks Dasein als autodidaktischer Arbeitertheoretiker. Er verließ die Schule und ging im Alter von 14 Jahren in die Lehre. Das zweite sind seine Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung seiner Arbeit. Das eklatanteste Beispiel dafür ist sein Buch „Marx und Keynes“, das er 1953 fertiggestellte, das aber bis zu den Aufständen der späten 60er Jahre von keinem Verleger angerührt wurde. Es wurde schließlich 1969 veröffentlicht! Das dritte Thema sind seine Kontakte mit revolutionären Persönlichkeiten aus den 1920er Jahren sowohl in Deutschland als auch anderswo in Europa und seine späteren Versuche, mit vielen dieser Menschen zusammenzuarbeiten, wenn sie im Exil in den USA auftauchen. Es gibt eine Fülle von Details über seine Interaktion mit diesen Menschen, darunter Zitate aus seinen Briefen, die interessant und anderswo nicht verfügbar sind.

Die meiste Zeit seines Lebens schwamm Mattick politisch gegen den Strom. Die Tatsache, dass er argumentierte, dass Russland staatskapitalistisch sei und den Kapitalismus in all seinen Erscheinungsformen als historisch dem Untergang geweiht betrachtete, und dass er dies in seinen Schriften so deutlich zum Ausdruck brachte, erklärt die enormen Schwierigkeiten, die er bei der Veröffentlichung seiner Arbeiten hatte. Erst in den späten 1960er Jahren, als der kapitalistische Akkumulationszyklus zusammenzubrechen begann, fand sein Werk Verleger und eine breitere Leserschaft. Mattick war ein klarer und weitsichtiger Analytiker des Kapitalismus. Während der Nachkriegsboom in vollem Gange war, zeigte Mattick auf, dass dieser auf der Zerstörung und Abwertung des Kapitals basierte, die im Krieg stattfanden. Er zerlegte die keynesianische Theorie, dass die staatliche Intervention die Krisentendenz des Kapitalismus gelöst habe. Er sah voraus, dass die Krise nach der Wiederaufbauphase zuschlagen würde, was dann auch eintrat. Heute, angesichts der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus, bleiben seine Werke aus genau den Gründen, die Mattick skizziert hat, weiterhin relevant. Hinzu kommt, dass die von ihm geführten Schlachten nicht gewonnen wurden. Die Theoretiker wie Sweezy, Baran oder Marcuse, die er verspottete , weil sie annahmen, dass der Kapitalismus seine Krisentendenz gelöst habe, haben auch heute ihre Anhänger, wie bspw. die Schule der "Monthly Review" und akademische marxistische Theoretiker wie David Harvey. Sie sind nach wie vor einflussreich und ihre Theorien weit verbreitet.

Ein kurzer Abriss seines Lebens

Das Buch liefert eine vollständige Darstellung von Matticks Leben. Für diejenigen die eine schnelle Lektüre bevorzugen, fassen wir hier die Schlüsselereignisse kurz zusammen. Mattick hatte einen schwierigen Start ins Leben. Beide Elternteile, die nicht vollständig lesen und schreiben konnten, waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge einer massiven Landflucht nach Berlin gezogen. Sie lebten in einer 2-Zimmer-Wohnung in Berlin. Der Vater arbeitete 10 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche bei Siemens, die Mutter trug als Wäscherin zum Einkommen der Familie bei. Matticks formale Schulausbildung endete 1918, als er 14 Jahre alt war. Er ging bei Siemens in die Lehre, wo er ebenfalls 10 Stunden täglich an 6 Tagen in der Woche schuften musste. Sein Vater, der Mitglied der Gewerkschaft und später der SPD war, ermutigte seinen Sohn Paul, sich der sozialistischen Jugendgruppe anzuschließen. 1918 brach der deutsche Staat nach dem Kieler Matrosenaufstand zusammen und Mattick wurde in den Strudel der Revolution geworfen. Arbeiter verließen einfach ihren Arbeitsplatz, um an Demonstrationen und Versammlungen teilzunehmen. Mattick wurde als Lehrlingsvertreter in den Arbeiterrat gewählt und begann für eine Jugendzeitung „Junge Garde“ zu schreiben und sie zu verteilen. Seine Jugendgruppe stellte sich auf die Seite der antiparlamentarischen und anti-gewerkschaftlichen Sektion der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), als diese im Oktober 1919 aus der KPD ausgeschlossen wurde. Als die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) nach dem Zusammenbruch des Kapp-Putsches gegründet wurde, schlossen sich ihr Mattick und seine Jugendgruppe an. Zu diesem Zeitpunkt war er erst 16 Jahre alt! Nun begann er für die KAPD-Jugendzeitung "Rote Jugend" zu schreiben. Seine Lehrzeit bei Siemens endete, als er bei einer Enteignung (Diebstahl) der Firma erwischt wurde, um die Jugendzeitung zu finanzieren. Er musste aus Berlin fliehen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Während der Revolutionszeit ging er ein großes Risiko ein, als er während des Kapp-Putsches versuchte, Waffen zu stehlen, was dazu führte, dass er von der Polizei bewusstlos geschlagen wurde. Er brach in Fabriken ein, um zu versuchen, Arbeiter während der März-Aktion 1921 in den Streik zu bringen, plante den KAPD-Führer Jan Appel aus der Haft zu befreien und vergrub Waffen für die bewaffnete Gruppe der "Proletarischen Hundertschaften". Er zog mit Gelegenheitsjobs durch Deutschland und trat der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands (AAUD) bei. Er wurde in Köln verhaftet und zog zurück nach Berlin. Hier führte ihn ein Freund, dessen Leben er während des Kapp-Putsches gerettet hatte, in eine andere Welt ein. Die Mutter des Freundes war Literaturkritikerin und ermutigte Mattick, mehr zu lesen und sein Schreiben durch die Eingrenzung von Themen und Fragestellungen zu verbessern und auch selbst kreativ zu schreiben. Er begann, für die KAPD-Zeitung, die „Kommunistische Arbeiter Zeitung“ (KAZ) und die AAUD-Zeitung „Kampfruf“ zu schreiben. Mattick betrieb in Köln einen Bücherstand, der darin bestand, Bücher von Verlagen auf Rechnung zu bekommen und zu verkaufen, ohne die Verlage zu bezahlen. Dadurch kam er in Kontakt mit dem expressionistischen Dichter Rheiner und dessen begabter Frau Frieda, die ebenfalls in der radikalen Kölner Kunstszene aktiv war. Viele der Künstler und Avantgardisten waren in der AAUE (Allgemeine Arbeiter-Union – Einheitsorganisation) [1] und ermutigten Mattick in seinem Schreiben. Mattick hatte kein Problem damit, sich zwischen der AAUD und der AAUE zu bewegen, doch die Begegnung mit Rheiner sollte sein Leben völlig verändern. Rheiner starb 1925 und hinterließ seine Frau Frieda, deren zwei Kinder in Pflege gegeben werden mussten. Um dies zu verhindern, heiratete Mattick Frieda, was jedoch das Ende seines reisenden revolutionären Lebens bedeutete.

Er hatte nun eine Familie zu versorgen, was seinen Umzug in die USA 1926 beschleunigte. Nach einem anfänglichen Job als Hersteller von Milchtüten zog er nach Chicago und arbeitete als Mechaniker bei Western Electric, bis zu seiner Entlassung 1931. Mattick konnte zwar nicht richtig Englisch sprechen, aber wegen der hohen Zahl deutscher Einwanderer in Chicago und New York war dies kein unmittelbares Problem [2]. Er schrieb weiterhin für die deutschen Zeitungen "KAZ" und "Kampfruf" in Deutschland und belebte später die eingegangene deutschsprachige "Chicagoer Arbeiter Zeitung" (CAZ), wieder, was es ihm ermöglichte, auch auf Deutsch zu schreiben. Er veröffentlichte auch Arbeiten in der wöchentlich erscheinenden deutschen Zeitschrift „Der Freidenker“, die von der "Liga der Freidenker" Amerikas herausgegeben wurde. Diese Zeitschrift hatte eine begrenzte Auflage, veröffentlichte aber während der 30er Jahre weiterhin seine Arbeiten. Mattick begann erst 1933, auf Englisch zu schreiben. In der politischen Praxis schloss sich Mattick den Kämpfen der Arbeitslosen in den frühen 30er Jahren an, die in Chicago sehr erfinderisch in ihren Taktiken waren und die im Buch gut beschrieben werden. Es ist jedoch interessant festzustellen, dass die Bewegung durch Roosevelts New Deal untergraben wurde, der viele Forderungen der Arbeitslosenorganisationen umsetzte. Die Machtergreifung der Nazis in Deutschland wirkte sich auf die radikale Szene in den USA aus, da viele der bekannten Linken und Linkskommunisten, die aus dem Land gejagt wurden, in den USA oder in Mexiko Zuflucht fanden. [3] Viele landeten jedoch auch in Konzentrationslagern und kommunistische Publikationen wurden verboten. Allein 1933 flohen 60.000 Menschen aus Deutschland. Grossman und Korsch [4] landeten in New York, und 1935 siedelte das "Frankfurter Institut für Sozialforschung" (die sog. "Frankfurter Schule") selbst nach New York über. Nachdem er 1931 entlassen worden war, versuchte Mattick, etwas mit seinem Schreiben zu verdienen, doch angesichts seiner politischen Isolation scheiterten die Versuche. Er wandte sich mehrmals an die Guggenheim-Stiftung und die Frankfurter Schule um Stipendien für das Schreiben von Büchern zu erhalten, aber beide lehnten ab. Grossman und Korsch die beide Stipendien vom "Frankfurter Institut für Sozialforschung" erhielten unterstützten Mattick, aber das Institut lehnte nicht nur das Stipendium ab, sondern weigerte sich auch, etwas von Mattick und sei es auch nur eine Rezension seiner Arbeiten zu veröffentlichen. Die sog. „Frankfurter Schule“ war offenbar äußerst feige, nachdem sie nach New York verlegt worden war, und ihre Publikationen verzichteten darauf, irgendetwas mit den Worten Marxismus oder Kommunismus zu veröffentlichen.[5] Schließlich isolierte sie sowohl Grossman als auch Korsch.

Mattick half bei der Gründung der "United Workers' Party" und gründete 1934 die Zeitschrift "International Council Correspondence" (ICC). Sie arbeitete auf einem hohen theoretischen Niveau mit Beiträgen von Canne Meijer[6], einem niederländischen Rätekommunisten der die Zeitschrift "Rätekorrespondenz" herausgab, Korsch, Pannekoek und anderen. Aufgrund des Geldmangels konnten niemals mehr als 1.000 Exemplare herausgebracht werden. 1937 übernahm Korsch, der vor kurzem in die USA gekommen war, eine aktive Rolle in der ICC, und seine Energie und Verbindungen waren sehr hilfreich. Im folgenden Jahr wurde der Name in „Living Marxism“ geändert und die Zeitschrift konnte in besserer Qualität gedruckt werden. Die "International Council Correspondence" und „Living Marxism“ wurden in den 30er Jahren für Mattick zum wichtigsten Publikationsorgan in englischer Sprache. Bis in die späten 60er Jahre verdiente Mattick mit seinem Schreiben fast nichts. In den 30er Jahren überlebte er von Hilfsleistungen und Friedas Verdienst, doch 1939 trennte er sich von Frieda und war gezwungen, wieder zu arbeiten. Er arbeitete zunächst in einer Buchhandlung und kehrte dann 1942 in die Fabrikarbeit zurück. Er lernte die deutsche Emigrantin Ilse Hamm kennen, die jüdische Kinder aus Deutschland herausgeschmuggelt hatte, bevor sie 1938 selbst flüchtete. 1944 wurde ihr gemeinsamer Sohn Paul Mattick jr. geboren.

Durch den Krieg wurde es immer schwieriger Publikationen selbst in kleiner Auflage herauszubringen. Die 50er Jahre brachten den Wiederaufbau des Kapitalismus und den Nachkriegsboom, der es für Mattick noch schwieriger machte, seine Werke zu veröffentlichen. Wie er bemerkte, "gegen den Status quo in Ost und West zu sein, schließt fast alle Türen für die Veröffentlichungen eigner Arbeiten" [7]. Er widersetzte sich jedoch weiterhin den gegenwärtigen Versuchen, den Marxismus zu revidieren, um der boomenden US-Wirtschaft Rechnung zu tragen. Er verfasste eine längere Kritik an Sweezys „Monopoly Capital“, der, wie er feststellte, den Marxismus völlig über Bord geworfen hatte: „Sweezy ist wie Marcuse der Meinung, dass der Kapitalismus seine Krisentendenzen gelöst hat und sich nun durch ein Übermaß an produktiver Kapazität auszeichnet. Der Unsinn der Wohlstandsgesellschaft wird ernst genommen, während sie in Wirklichkeit ein bewaffnetes Lager ist und von allen Seiten mordet.“ [Mattick in einem Brief an Dinsmore Wheeler]

Wie bereits erwähnt, brachten der Zusammenbruch des Nachkriegsbooms und die Radikalisierung nach den Kämpfen des Pariser Mai 1968 für Mattick eine grundlegende Veränderung. In Deutschland entdeckte ihn die Studentenbewegung, und zwischen 1969 und 1971 wurden in Deutschland drei Bücher, mehrere Broschüren, Essays und andere Arbeiten veröffentlicht. Marx und Keynes stieß auf großes Interesse. Ein halbes Dutzend Verleger versuchten nun, seine Werke zu veröffentlichen, und Mattick selbst besuchte Europa, hielt Vorträge und traf die Generation von Radikalen, die aus dem Aufstand von '68 hervorgegangen war. Im Laufe der 70er Jahre wurden weitere seiner Werke veröffentlicht und übersetzt. Es fanden Vortragsreisen und Debatten in Europa statt. Mattick erhielt sogar einen Lehrauftrag an einer dänischen Universität, was einen Umzug nach Dänemark bedeutete. In Amerika wurde sein Werk weniger gut aufgenommen, obwohl er eine Reihe von Vorträgen vor Studenten an verschiedenen Universitäten hielt und eine Vortragsreise nach Mexiko unternahm. In den späten 70er Jahren verschlechterte sich seine Gesundheit, und er starb schließlich 1981.

Autodidakt und Theoretiker

Als Mattick in die USA kam, begann er zum ersten Mal systematisch zu lesen, studierte Marx' Kapital und Werke von Rosa Luxemburg, Nikolai Bucharin und später Henryk Grossmann. Er besuchte und organisierte marxistische Diskussionszirkel und schrieb weiter für die Zeitschriften, die seine Artikel annehmen. Grossmanns Buch „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ hatte einen bahnbrechenden Einfluss auf Mattick. Das Werk wurde in marxistischen Kreisen weitgehend abgelehnt, in denen die allgemeine Ansicht vertreten wurde, dass der Kapitalismus unter einer Krise des Unterkonsums litt, wie sie von Luxemburg theoretisiert worden war. Mattick schrieb jedoch eine positive Rezension des Buches in der Chicagoer Arbeiterzeitung, die zum Beginn der Korrespondenz zwischen ihm und Grossman wurde. Als er an der Universität Roskilde in Dänemark eine Vorlesung hielt, merkte einer seiner Studenten an, dass er drei Bände von Kapital in 90 Minuten erklären könne. Mattick selbst konnte nicht glauben, dass er nun dafür bezahlt wurde, über Ideen zu sprechen, die für ihn Zeit seines Lebens am wichtigsten waren.

Mattick - ein Rätekommunist

Heute betrachten wir die ökonomischen Schriften Matticks als den wichtigsten Teil seines Werkes. Seine wirtschaftlichen Analysen sind nach wie vor wesentlich für das Verständnis des gegenwärtigen Zustands des globalen Kapitalismus[8], aber auch seine politischen Schriften sind sehr scharfsinnig. Im Allgemeinen sind seine Analysen ausgezeichnet und ein grosser Teil davon ist in die Plattform der IKT und anderer linkskommunistischer Organisationen eingeflossen. Die Schwäche, die wir kritisieren, ist seine Ablehnung der Notwendigkeit politischer Parteien und der Glaube, dass die kapitalistischen Bedingungen allein die Arbeiterklasse zwingen werden, Arbeiterräte zu bilden, die ihrerseits den Kapitalismus stürzen und den Kommunismus aufbauen würden. In seinem Essay über den Rätekommunismus schrieb er: „ ... spontane Aktionen unzufriedener Massen [werden] im Prozess ihrer Rebellion ihre eigenen Organisationen schaffen [...] und dass diese Organisationen, die aus den sozialen Bedingungen hervorgehen, allein das gegenwärtige gesellschaftliche Arrangement beenden können [...] Als organisatorischer Rahmen für die neue Gesellschaft wird eine Räteorganisation vorgeschlagen, die sich auf die Industrie und den Produktionsprozess stützt, sowie die Übernahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit als Maß für Produktion, Reproduktion und Verteilung“ [9] Während wir zwar mit dem zweiten Teil dieser Aussage übereinstimmen, müssen wir dem ersten Teil widersprechen. Matticks eigene Erfahrungen in der revolutionären Phase von 1918 bis 1923 in Deutschland und der anschließende Niedergang der revolutionären Bewegung mit der Stabilisierung des Kapitalismus in Deutschland und in Russland haben diesen Standpunkt eindeutig bestimmt. Die 1918 gebildeten Räte der Arbeiter gaben ihre Macht an die bürgerliche Demokratie und ein bürgerliches Parlament ab, anstatt für die Losung "Alle Macht den Räten" zu kämpfen. Diese Kapitulation führt in seinen späteren Schriften zu einer bitteren Kritik an der Sozialdemokratie und der sogenannten „alten Arbeiterbewegung“, die das Bewusstsein der Räte prägte. Die Sozialdemokratie wurde ununterscheidbar von der Bourgeoisie und ertränkte die revolutionären Bemühungen der Arbeiter im Blut. Nach dem zweiten Kongress der Komintern wird diese Kritik auch auf die Komintern ausgeweitet. Vor allem wegen ihrer Forderung nach Beteiligung an Parlament und Gewerkschaften. Mattick sah darin eine Forderung nach einem Arrangement mit dem Kapitalismus und Lenins Broschüre „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ als Versuch, den Linkskommunismus zu zerstören. Matticks Genosse Hermann Gorter brachte diese Vorbehalte gegenüber den Bolschewiki folgenermaßen auf den Punkt: „Was eure wirkliche Schuld ist [...] ist, daß ihr dem Weltproletariat ein konterrevolutionäres Programm und eine konterrevolutionäre Taktik auferlegt und das wirklich Revolutionäre, das uns retten konnte, verworfen habt“ [10]

Allerdings konnte Mattick auf die Frage des politischen Bewusstseins keine kohärente Antwort finden. Warum waren die deutschen Räte mit der Ideologie der Sozialdemokratie durchtränkt? Waren die sozialen Bedingungen etwas nicht hart genug? Wohl kaum. Die Bedingungen in Deutschland am Ende des Krieges waren extrem hart, Rationierung, Brennstoffmangel usw. Mattick selbst ging als Jugendlicher nachts hinaus, um Gemüse und Kohle zu stehlen, um die Familie vor dem Verhungern zu bewahren, und seine anschließenden Aktionen, die ihn fast das Leben gekostet hätten, zeigen, dass er zumindest bis 1921 glaubte, dass eine Revolution noch möglich sei. Doch in seinen späteren Schriften geht er einfach davon aus, dass die Verelendung der Arbeiter das für eine Revolution erforderliche Bewusstsein erzeugen würde. Aber seine gesamte Lebenstätigkeit, nicht nur die aufregende Revolutionszeit in Deutschland, kann als ein Widerspruch dazu gesehen werden. Einerseits präsentiert er eine mechanische Sicht des Klassenbewusstseins, das wie im obigen Zitat aufgeführt, unmittelbar von materiellen Bedingungen bestimmt würde. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise des Kapitalismus würde einen Bewusstseinswandel bei den Arbeitern bewirken. Die Bedingungen würden sich so weit verschlechtern, dass die Arbeiter nicht mehr wie bisher leben könnten, was zur Bildung von Arbeiterräten führen würde. Die Räte würden Forderungen der Arbeiterklasse durchsetzen, die in direktem Widerspruch zu den Interessen des Kapitals stünden. Daher würde ein direkter Konflikt mit der bürgerlichen Macht entstehen, der zum Sturz des Kapitalismus durch die Räte und dem Umsetzen des Kommunismus durch die Räte, führen würde. Auf der anderen Seite ist Matticks Lebenswerk eine Widerlegung dieses Szenarios. Während er politische Parteien für die Schaffung eines revolutionären Bewusstseins für überflüssig hielt, verbrachte er sein ganzes Leben in und außerhalb politischer Organisationen, sprach auf öffentlichen Versammlungen und organisierte marxistische Arbeitsgruppen, gründete politische Zeitschriften, schrieb politische oder wirtschaftliche Analysen, Broschüren und Bücher. All das, was fast kein Einkommen brachte, zielte direkt darauf ab, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu beeinflussen. 1929 versuchte Mattick sogar eine Zusammenarbeit zwischen IWW, KAPD und AAUD herbeizuführen und als Vermittler in den Diskussion zu fungieren. Dies war ein Versuch, eine stärkere internationale Organisation zur Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen zu schaffen, die einer mechanischen Sichtweise der Entwicklung des Klassenbewusstseins zuwiderläuft. Schreckliche Zustände allein führen nicht zu einer Revolution. Das Hauptproblem in Deutschland war, dass die Kommunistinnen und Kommunisten in den Räten kein Gehör fanden, und zwar deshalb, weil sie keine von den Sozialdemokraten getrennte organisierte politische Kraft waren. Sie blieben bis einige Wochen vor dem Spartakus-Aufstand vom Januar 1919 ein Teil der Sozialdemokraten, und Arbeiter waren nicht in der Lage, ihre politische Haltung von der der Sozialdemokraten zu unterscheiden. [11] Die Entwicklung des Bewusstseins ist ein dialektischer Prozess. Sie wird in erster Linie von materiellen Bedingungen beeinflusst, wie Mattick richtig argumentiert, aber das Verständnis und die Reflexion über diese Bedingungen im Lichte sozialer und historischer Faktoren ist der subjektive Einfluss in der Entwicklung des Bewusstseins. Die objektiven zusammen mit den subjektiven Faktoren führen zu revolutionärem Bewusstsein und revolutionärer Aktion. Ein soziales und historisches Verständnis der materiellen Entwicklungen des Kapitalismus muss unserer Ansicht nach kollektiv sein und in einer politischen Organisation zum Ausdruck kommen, die auf der Grundlage eines Programms in den Klassenkämpfen interveniert und ihre Positionen verbreitet. Daran hat es in Deutschland gefehlt. Es war eindeutig dieser subjektive Faktor, den Mattick sein Leben lang zu beeinflussen versuchte, dessen politische Bedeutung er als Rätekommunist herunterzuspielen versuchte. Darin lag und liegt ein Widerspruch. CP  

[1] Der Hauptgründer der AAUE war Otto Rühle. Viele seiner Texte wurden in der avantgardistischen Zeitschrift „Die Aktion“ veröffentlicht. Mattick selbst veröffentlichte in dieser Zeitschrift einen fiktiven Bericht über die Bolschewisierung der KPD.

[2] Zu dieser Zeit gab es in Chicago eine halbe Million Deutschsprachige.

[3] Otto Rühle landete in Mexiko, stellte Mattick aber weiterhin Arbeiten zur Veröffentlichung zur Verfügung.

[4] Korsch war der Autor von „Marxismus und Philosophie“. Nach der Machtübernahme der Nazis floh er nach England, wurde aber nach Schweden und dann in die USA ausgewiesen.

[5] Die Schule war nervös wegen ihres Emigrationsstatus, ihres Marxismus und ihres Jüdischseins. So änderte z.B. Theodor Wiesengrund seinen Namen in Theodor Adorno.

[6] Canne-Meijer half bei der Gründung der niederländischen Version des KAPD. Ursprünglich als Maschinenschlosser ausgebildet, wurde er später Grundschullehrer.

[7] Auch die britische New Left Review weigerte sich, Matticks Werk zu veröffentlichen, als Perry Anderson Herausgeber war, weil es zu kritisch gegenüber der Sowjetunion war.

[8] Heute bekennen sich eine Reihe von akademischen marxistischen Ökonomen wie Fred Moseley und Guglielmo Carchedi zu ihrer Schuld gegenüber Mattick. Siehe unsere Rezensionen von „Money and Totality“ von Moseley und “Behind the Crisis: Marx’s Dialectic of Value and Knowledge” von Carchedi.

[9] frei übersetzt aus „Anti-Bolshevik Communism“, Kapitel 5: „Council Communism“

[10] “Die Kommunistische Arbeiter-Internationale“ aus “Proletarier: Zeitschrift für Kommunismus“, 1923

[11] leftcom.org

Sunday, October 11, 2020