Onorato Damen: Rosa Luxemburg und die Russische Revolution

Anlässlich des 150. Geburtstags Rosa Luxemburgs veröffentlichen wir einen Einleitungstext von Onorato Damen zu ihrer Schrift „Die Russische Revolution“.

Heutzutage ist es in Mode gekommen, Luxemburgs Ideen und Positionen zu zitieren, besonders in ihrer Polemik mit Lenin. Diese Rückbesinnung auf den theoretischen und kritischen Luxemburgismus wird jedoch hauptsächlich von denjenigen betrieben, die nichts von ihrem wirklichen Denken oder ihrer heroischen Militanz gelernt haben. Sie reinterpretieren ihre Formulierungen über Freiheit und Demokratie auf ihre eigene Art und Weise, meist aus hinterhältigen Motiven, während sich Luxemburg auf das Wachstum des revolutionären Bewusstseins in den Massen im Kampf für ihre Befreiung bezog. Als Lippenbekenntnisse einiger aufgeklärter Bourgeois und sozialistischer Renegaten sind solche Ideen jedoch nützlich, um das Proletariat in die bürgerliche Denkweise und die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der herrschenden Klasse zu integrieren.

Der Versuch, Luxemburgs Polemik als Fassade für den verkommensten und unehrlichsten Antikommunismus zu benutzen, eine alte Methode der Zweiten Internationale und der Zweieinhalbten Internationale, verdient keine besondere Aufmerksamkeit. Andererseits ist ein erneuter Blick auf die Thematik der Polemik mit Lenin über die Grundprobleme der Partei und der Diktatur des Proletariats, die sich vor dem Hintergrund der russischen Erfahrung stellten und bestätigten, sehr aktuell und nützlich.

Die Wurzel ihrer Meinungsverschiedenheit mit Lenin entsprang denselben Ideen, die heute in der Politik der Avantgarde der internationalen Arbeiterbewegung wieder auftauchen, nur dass sie heute schärfer und dramatischer sind angesichts der Niederlage jener Feuertaufe des Sozialismus, die die sowjetische Erfahrung war. Die strittige Frage schien sich zunächst auf die Organisation der Partei und den demokratischen Zentralismus zu konzentrieren, weitete sich aber aus und vertiefte sich zu einer Diskussion über das Wesen des Arbeiterstaates und genauer gesagt der Diktatur des Proletariats, wie sie zu Lenins Zeiten aussah. Gerade wegen der damaligen Polemik zwischen den beiden Haupttheoretikern des Marxismus und der anschließenden kritischen Überprüfung der lebendigen Erfahrung des russischen Proletariats haben wir heute einige klarere Vorstellungen über die Frage dieser Diktatur und ihres empfindlichsten Instruments, der Partei, die von den Textseiten der Theorie ins wirkliche Leben und in die historische Erfahrung eingegangen ist.

Jeder erkennt die Rolle der Spontanität im Kampf der Arbeiter an, aber sie allein reicht nicht aus, um die Kontinuität, Einheit und Zielbestimmtheit dieses Kampfes zu gewährleisten. Alle sind sich einig über die Notwendigkeit eines solidarischen Geistes der Initiative und eines wachsenden Wissens und Bewusstseins über die eigenen Aufgaben bzw. der Tendenz, die Grenzen individueller Egos und sektoraler Interessen zu überwinden, um ein breiteres und einheitlicheres Klassenbewusstsein zu entwickeln. In diesem Sinne hat das internationale Proletariat noch nie dagewesene Schritte gemacht, die dem Grad der historischen Entwicklung der Technologie und Organisation des Kapitalismus entsprechen. Aber wer diese langsame Selbstformierung des Proletariats beobachtet, kommt nicht umhin festzustellen, dass die Massen das Klassenbewusstsein durch Kampf und Organisation entwickeln. Die unorganisierten Massen hingegen, diejenigen, für die Politik eine fremdartige Sache ist, sind weniger sensibel für die Probleme ihrer eigenen Klasse und zögerlicher zu kämpfen.

Aber der Kampf ist in erster Linie ein Problem der Macht und der Organisation, und zur Organisation gehören immer Disziplin, Hierarchien und die Ausübung von Autorität von oben nach unten. Dieses Phänomen wird umso offensichtlicher, wenn wir uns die Massenorganisationen und weiter die politischen Parteien und innerhalb dieser Parteien ihre allmächtigen Apparate anschauen. Die Plage des bürokratischen Regimes hat alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst. In Anbetracht dessen dachte Lenin an die Klassenpartei als eine Kampforganisation, die auf dem demokratischen Zentralismus, auf der Macht eines homogenen Zentralkomitees und auf einem soliden Netz von Berufsrevolutionären beruht. Eine Partei, die als bewusstes Werkzeug der Geschichte, als Interpret und Protagonist der Ereignisse konzipiert ist. Eine solche Partei birgt die Gefahren des Autoritarismus, der Politik von oben, der Platzhirsche und damit des Opportunismus in sich. Aber im zaristischen Russland, in den Jahren der illegalen Arbeit und in der heißen Phase des Aufstandes, war keine andere Partei möglich als die bolschewistische Partei, so wie Lenin sie konzipiert und entwickelt hatte.

Doch diejenigen, die sich wie Luxemburg auf die große Erfahrung der deutschen Sozialdemokratie stützten, tendierten dazu, sich nicht auf die Methoden der konspirativen Arbeit zu konzentrieren, sondern auf die Organisation der großen Arbeitermassen, auf die Rechte der Arbeiterdemokratie und auf die Unmöglichkeit, Freiheit ohne Demokratie zu erlangen. (…)

„Paragraphen regieren nur die Existenz von kleinen Sekten oder Privatgesellschaften, geschichtliche Strömungen haben sich auch immer über die spitzfindigsten Paragraphen hinwegzusetzen versucht.“ Und weiter: „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees."(1)

Das ist das unbegrenzte Vertrauen, das Luxemburg in die Masse der Arbeiter und in die schöpferische Fähigkeit ihrer sozialen und politischen Kämpfe setzte.

„Und wenn die Heranbildung der klaren, bewußten, durchgeistigten Führerin Masse (…) nur ein dialektischer Prozeß ist und bleibt, da immer frische Elemente aus Arbeiterkreisen und Mitläufer aus anderen Schichten herbeiströmen, so ist und bleibt doch die herrschende Tendenz der sozialdemokratischen Bewegung: die Abschaffung der „Führer“ und der „geführten“ Masse im bürgerlichen Sinne, dieser historischen Grundlage aller Klassenherrschaft.“ (2)

Doch Lenin vertrat weder eine andere Ansicht, noch hatte er weniger Vertrauen in die arbeitenden Massen. Er stellte jedoch dem Mythos das dies allein ausreichend sei, die Notwendigkeit einer starken, zentralisierten Partei, einer festen und unersetzlichen Führung der Massen im revolutionären Kampf entgegen Nun müssen wir uns nicht zu fragen, was der richtige Weg war. Wir stoßen auf den dialektischen Widerspruch in der Tragödie des deutschen Proletariats, das politisch am stärksten bewaffnet und organisiert war, das aber im Augenblick der höchsten revolutionären Spannung der ersten Nachkriegszeit nicht in der Lage war, eine wirkliche Führung hervorzubringen. Das hatte Folgen: Die Spartakusbewegung scheiterte im Januar 1919, weil sie nicht in der Lage war, ihre revolutionäre Initiative mit der Aktion der Massen zu verbinden. Der Aufstandsversuch der Berliner Kommunisten scheiterte 1921.Der aus dem heroischen Spartakuskern hervorgegangene Kommunistische Partei Deutschlands widerfuhr 1923 dasselbe, weil sie sich einem internationalen Zentrum unterordnete, das bereits am Opportunismus krankte.

Das einzige positive Element, über das diejenigen, die über Luxemburg polemisieren, gerne schweigen, an dem sich aber ihr revolutionäres Herz erfreute, war der Sieg der bolschewistischen Partei. Diesmal hatte das politische Instrument im Einklang mit den objektiven Bedingungen gehandelt, zügig und mit angemessenen Mitteln, fest den Interessen der großen Massen der aufständischen Arbeiter verpflichtet. Später wurde anhand derselben Partei ein dialektischer Widerspruch deutlich, als dieselbe bolschewistische Partei mit derselben Methode, denselben Begrifflichkeiten, sogar mit demselben Personal zur bewaffneten Verteidigung von Interessen und Institutionen überging, die den Zielen, für die sie an der Spitze des russischen und internationalen Proletariats gekämpft hatte, entgegengesetzt waren. Sie sollte schließlich in die absurde Situation kommen, den Aufbau des monströsesten Staatskapitalismus als sozialistisch zu bezeichnen.

Die Dinge werden also nicht einseitig von oben nach unten und auch nicht nur von unten nach oben entschieden. Beide können gleichermaßen den Ausschlag geben. In Wirklichkeit kann eine Organisation nur durch ihre harmonische Interdependenz funktionieren und sich entwickeln. Arbeitertümelei, Voluntarismus und die Gesetze der Spontaneität sind dem Erreichen der historischen Klassenziele nicht förderlich und damit für die revolutionäre Tätigkeit völlig unzureichend. Ebenso unbrauchbar sind jede Idee und jede Taktik, die auf mechanischem Determinismus beruht oder auf der Vorstellung, dass eines schönen Tages der revolutionäre Bruch von einer stellvertretenden „Gottpartei“ für die als stumpfe Masse verstandene Arbeiterklasse vollzogen wird.

In Wirklichkeit interpretiert und harmonisiert die Partei in jeder Phase ihrer Aktivität die einheitliche Aktion der Klasse. Andernfalls würde die die Partei bei ihrer Aufgabe versagen und das Wort Revolution bedeutungslos sein. Anders gesagt wird sich die Interrelation von Oben und Unten genauso gestalten wie im bolschewistischen Oktober als gewissermaßen der Wille der Partei eine enorme Sprengkraft in der Klasse entfaltete, die diesen Willen ursprünglich hervorgebracht hatte. In Luxemburgs Denken ist die Idee der Freiheit grundlegend für ihre Auffassung von Arbeiterdemokratie. Für sie muss die Frage der Autorität und der Diktatur auf diese Weise gesehen werden. Sonst haben wir es mit einer Tyrannei zu tun, die im Widerspruch zu jenen revolutionären Idealen der unbegrenzten politischen Freiheit steht, die ein charakteristisches Zeichen der Diktatur des Proletariats im Unterschied zu jeder anderen Diktatur ist.

Es versteht sich von selbst, dass es hier nicht um formale Demokratie geht, sondern um ein substantielles demokratisches Element in der Diktatur. Luxemburg schreibt:

„Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.“Jawohl: Diktatur!“ - fügt sie hinzu – „Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung.“

Diese Aussage scheint an Idealismus zu grenzen, bis Luxemburg ihren Gedanken mit leninistischer Konkretheit präzisiert:

"Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen."(3)

Hier liegt die eigentliche Bedeutung der Diktatur, bei der es um die Art und Weise der Anwendung der Demokratie geht, und sie ist ein Produkt der wachsenden politischen Bildung und Selbsttätigkeit der arbeitenden Massen. Autorität und Freiheit erscheinen freilich unversöhnlich im Widerspruch zu stehen, wenn man sie abstrakt und für sich betrachtet. In diesem Sinne ist die Diktatur immer eine einseitige, autoritäre und gewaltsame Erscheinung, die denen, die anders denken, die Freiheit verweigert. Und, wie wir hinzufügen würden, die anders denken, weil sie die Träger und Verteidiger von Interessen sind, die sich von denen unterscheiden, die die Diktatur unterstützten und verteidigen. Das ist die Lehre Lenins, die aus der harten Erfahrung der ersten Jahre der Oktoberrevolution entwickelt wurde. Aber es bedurfte der jahrelangen Erfahrung im Leben der Arbeiterkämpfe, um diesen Punkt der Übereinstimmung zwischen Theorie und politischer Realität deutlich zu machen.

Zwischen Autorität und Freiheit, zwischen Diktatur und Demokratie, besser noch zwischen den gesellschaftlichen Kräften der Diktatur und den Organen ihrer Leitung muss ein Verhältnis einer wechselseitigen Verbindung bestehen. Dieses entsteht von unten her in einer wachsenden Anhäufung von Bewusstsein und Wissen in dem Maße, wie die Führung so arbeitet, dass das Unbewusste bewusst wird und sich die Logik des objektiven historischen Prozesses in die subjektive Logik seiner Träger übersetzt. Hier können wir die gleiche dialektische Beziehung sehen, die wir zwischen Partei und Klasse gesehen haben. Die Partei wird ihrer historischen Funktion gerecht, wenn sie in der Klasse als treibende Kraft der Revolution bei der Anhäufung von Erfahrung, revolutionärer Theorie und Machtpotential agiert, so wie es die Klasse in ihren täglichen Kämpfen gegen den Kapitalismus getan hat.

Wenn diese Linie der dialektischen Entwicklung unterbrochen wird, was auch immer die Ursache sein mag, setzt sich einer der Komponenten durch, was zu dem degenerativen Prozess führt, den wir in der russischen Erfahrung nach Lenin, und vielleicht sogar noch zu Lebzeiten Lenins, beobachten konnten. Die ersten und folgenreichsten Konsequenzen bestanden darin, dass sie „wo sie aus der Not eine Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen."(4)

Die Diktatur des Proletariats von morgen, wo auch immer sie sich ereignen wird, wird eine neue Erfahrung in dem Sinne sein, dass sie die Intuition und den revolutionären Optimismus Luxemburgs und die unersetzliche harte Lehre Lenins miteinander versöhnen wird. Wir werden eine Synthese von Autorität und Freiheit haben, mit der Entwicklung einer immer aktiveren Arbeiterdemokratie in der Diktatur. Diese wird umso schrecklicher und unnachgiebiger sein müssen, wie sich der dichte und rachsüchtige Wald von Bajonetten um einen internationalen Kapitalismus scharen wird, der um keinen Preis untergehen will, auch wenn er historisch überholt ist.

„In der Revolution, wie im Krieg, geht es darum, den Willen des Feindes zu brechen. Der Grad der Intensität des Kampfes hängt von den inneren und internationalen Bedingungen ab. Je grausamer und gefährlicher der Widerstand der besiegten Klasse, desto mehr Druck auf das System, sich dem Terror zuzuwenden.“ (Leo Trotzki)

Luxemburg hat dieser Politik nie widersprochen. Sie war nur der Meinung, dass die Kampfmittel vom Standpunkt der Revolution aus um so wirksamer und angemessener seien, je größer das Bewusstsein des Proletariats ist und sich viel direkter und entschiedener im Kampf für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, sowie ihrer Verteidigung gegen innere und äußere Klassenfeinde auswirken würde. Das ist die einzige Möglichkeit, um die persönlichen Diktaturen oder Apparate zu vermeiden, ob nun als Tragödie oder als Farce, die uns im Namen eines Stalin, eines Chruschtschow oder auch eines Togliatti hinterlassen wurden. (Onorato Damen)

(1) Rosa Luxemburg: „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, 1904, Die Neue Zeit

(2) Rosa Luxemburg: „Geknickte Hoffnungen“, 1903, Die Neue Zeit

[3] Rosa Luxemburg: „Zur russischen Revolution“, 1918

[4] ebd.

Friday, March 5, 2021