Der Niedergang der Russischen Revolution und der Parteikult

8. Teil unserer Artikelserie zum Thema Klassenbewusstsein und Organisation

Ein ganzes Jahrhundert ist seit der Russischen Revolution verstrichen. Dennoch bleibt sie für uns das wichtigste Ereignis, welches unser Verständnis des Klassenbewusstseins in dieser Epoche prägt. Es war das einzige Mal, dass eine selbstbewusste ArbeiterInnenbewegung die bürgerliche Staatsmacht überwinden konnte. Daher überliefert die Russische Revolution ein reichhaltiges Erbe an Erfahrungen, das wir nicht ignorieren können, weswegen wir in diesem Teil der Artikelserie nochmal auf sie zurückkommen werden.

Im letzten Teil haben wir uns mit den Ideen des Rätekommunismus befasst, die mit dem Scheitern der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg aufkamen. Wir sind der Ansicht, dass der Rätekommunismus selbst ein verzerrtes Produkt dieser Konterrevolution ist, da er die Theorie vertritt, dass die Spontaneität allein ausreiche, um eine revolutionäre Bewegung zu entfachen, die zu Umgestaltung der Gesellschaft fähig sei. Doch so eine Betrachtung tut der Art und Weise, wie eine eigentumslose Klasse von ProduzentInnen Klassenbewusstsein entwickeln kann, Gewalt an. Der Rätekommunismus gab einzig der bolschewistischen Partei die Schuld an der Niederlage des Proletariats. Die RätekommunistInnen führten das darauf zurück, dass die Bolschewiki weder politisch noch programmatisch klar genug, ja sogar in ihren Ideen immer konterrevolutionär gewesen seien. Dies ist sowohl historisch unzutreffend als auch methodisch unhaltbar. Die Bolschewiki waren wohl oder übel die besten politischen Elemente, die es innerhalb der alten Zweiten Internationale gab. Allein ihre Position zum Krieg machte sie zur Avantgarde nicht nur des russischen, sondern auch des internationalen Proletariats. Wir sollten uns auch vor Augen führen, dass der Bolschewismus nicht eine Bewegung war, die dem Kopf eines Mannes entsprang, sondern eine politische Strömung der revolutionären ArbeiterInnenklasse, die als revolutionäre Partei in den Kämpfen von 1917 geschmiedet wurde, indem sie auf die tatsächliche Klassenbewegung reagierte. Aufgrund dieser Erfahrung betrachteten RevolutionärInnen aus vielen Ländern sie auch als führende Kraft der Weltrevolution. Dies war jedoch ein Anspruch dem weder der Bolschewismus, noch irgendjemand anders hätte gerecht werden können. Das russische Proletariat war eine Minderheit in einem rückständigen kapitalistischen Land. 1917-1918 betonten alle bolschewistischen Führer wiederholt, dass sie „ohne eine deutsche Revolution dem Untergang geweiht" seien. Oder wie Rosa Luxemburg es ausdrückte: Die Frage des Sozialismus konnte in Russland nur gestellt werden. Sie müsse weiter westlich beantwortet werden. Da diese Antwort ausblieb rückte die Frage des nackten Überlebens und nicht die der revolutionären Umgestaltung auf die Tagesordnung. Wie wir in der Vergangenheit schon oft hervorgehoben haben, gab es in der damaligen marxistischen Theorie nichts, was eine isolierte proletarische Bastion auf eine solche Situation hätte vorbereiten können.

Bolschewistische Fehler und der Aufstieg der Parteidiktatur

Der Bolschewismus war ein Instrument der Revolution, das im Klassenkampf geschmiedet wurde. Doch eine revolutionäre Partei ist ein Kampf- und kein Regierungsorgan! Für das kommunistische Programm in den Räten zu kämpfen ist die eine, zur Regierung oder gar zum Staat zu werden eine völlig andere Sache. Wir stimmen mit den RätekommunistInnen darin übereinstimmen, dass die bolschewistische Partei trotz ihrer revolutionären Ursprünge zum Träger der Konterrevolution wurde, als die Klassenbewegung besiegt wurde. Allerdings sehen wir dies als Ergebnis eines objektiven Prozesses der Niederlage und nicht als Folge der vorherbestimmten Schwächen der bolschewistischen Partei. Wie wir in dieser Artikelserie aufzeigten, waren die Bolschewiki von allen Parteien der Zweiten Internationale am wenigsten verschlossen und standen Neuerungen stets offener gegenüber.

Umso wichtiger ist es für uns zu verstehen, wie die Russische Revolution in eine bürokratische Konterrevolution umschlug, die schließlich den Stalinismus hervorbrachte. Die erste Lehre besteht darin, dass auch die größten revolutionären Beschwörungsformeln einen objektiven Prozess nicht umkehren können. Im Winter 1917-18 versuchten die Bolschewiki die ArbeiterInnen zu ermutigen ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen, was selbst äußerst kritische BeobachterInnen eingestehen müssen. In dieser Zeit entfalteten die Sowjets eine Rätemacht von unten. Lenins mahnende Reden, die er vor Belegschaften der Fabriken hielt, lagen ganz auf der Linie dessen, was er der Partei 1918 immer wieder einzuschärfen versuche:

Wichtig für uns ist die Heranziehung aller Werktätigen ohne Ausnahme zur Verwaltung des Staates. Das ist eine gigantisch schwierige Aufgabe. Den Sozialismus aber kann nicht eine Minderheit – die Partei – einführen. Einführen können ihn Dutzende von Millionen, wenn sie es lernen, das selbst zu tun.(1)

Doch die harte Realität sollte diese anfänglichen Bestrebungen bald untergraben. Erstens hatte sich die bolschewistische Partei im Laufe der Revolution von 1917 zu einem disziplinierten Ganzen zusammengeschlossen, um den Angriff auf die bürgerliche Macht durchzuführen. Im Oktober 1917 war sie die größte gesamtrussische Organisation. Proletarisch-revolutionäre Parteien sind jedoch wie bereits gesagt keine Regierungsparteien. Während sie den revolutionären Angriff anführen, stellen sie nicht die Regierung als solche (auch wenn Parteimitglieder wichtige Rollen in der postrevolutionären Gesellschaft übernehmen mögen). Wie Lenin im Winter 1917-18 wiederholt erklärte, muss das Proletariat als Ganzes den Sozialismus aufbauen. Die bolschewistische Praxis begann jedoch bald, dies zu untergraben. Zunächst setzten die Bolschewiki den „Sownarkom“ (Rat der Volkskommissare) der im Grunde ein Regierungskabinett war, welches die Staatsministerien leitete. Die Bezeichnung „Volkskommissare" für die Leiter dieser Ministerien (eine Idee Trotzkis) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Minister im alten Sinne handelte. Anstatt sich auf die Klassenorgane der Sowjets zu verlassen, und eine Exekutive zu wählen, die die Regierung leitete, gingen die Bolschewiki damit dazu über, die Räteherrschaft zurückzudrängen. Dies war kein bewusster Prozess, sondern folgte einem immer wiederkehrenden Muster in allen Lebensbereichen der RSFSR. In der Anfangszeit sorgte der „Sownarkom“ stets dafür, dass das GZEK („Gesamtrussische Zentrale Exekutivkomitee“) der Sowjets (welches jährlich vom Allrussischen Rätekongress gewählt wurde) die Möglichkeit erhielt, die Pläne des „Sownarkom“ zu diskutieren und abzulehnen. Doch in der Praxis geschah dies immer seltener, da die Revolution mit einer internationalen Invasion konfrontiert war. Die Sowjets traten immer seltener zusammen, und der Sowjetkongress, der anfangs vierteljährlich stattfand, hatte bis 1920 faktisch aufgehört, als solcher zu existieren. Doch selbst ein entschiedeneres Eintreten für die Beibehaltung der Form der Sowjetherrschaft hätte in dieser Situation wenig gebracht. Die Notwendigkeit, die klassenbewusstesten ArbeiterInnen in den Jahren 1918-20 für die Rote Armee zu mobilisieren, riss den gut funktionierenden Sowjets das Herz aus dem Leib.(2) Gleichzeitig transformierte sich die Partei zur eigentlichen Regierungsorganisation in ganz Russland. Dies war jedoch weder im Voraus geplant noch war es ein unausweichlicher Prozess.

Der Sieg im Oktober hatte zwar zu einem „Ausbruch ungehinderter Diskussionen und Kontroversen geführt, wie es sie in der Geschichte der bolschewistischen Partei und vielleicht auch keiner anderen Partei jemals gegeben hatte."(3) Doch der Prozess der Machtkonzentration innerhalb der Partei hatte bereits eingesetzt. Mit ihm begann die Vorherrschaft der Partei über die Organe des Staates.

Dieselben Männer, die dieselben Traditionen und dasselbe Ziel verfolgten, leiteten die Angelegenheiten von Partei und Staat; dieselbe unaufhörliche Krise und derselbe ununterbrochene Druck der Ereignisse lasteten zwischen 1917 und 1921 gleichermaßen auf den Institutionen von Partei und Sowjet. Die herausragenden Entwicklungen dieser Jahre im Staatsapparat - die Konzentration der Zentralgewalt in den Händen des Sovnarkom auf Kosten des Allrussischen Sowjetkongresses und des Zentralen Exekutivkomitees, sowie die Konzentration der Autorität im Zentrum auf Kosten der lokalen Sowjets und Sowjetkongresse und ihrer Organe - waren den entsprechenden Entwicklungen in der Parteiorganisation vorausgegangen. Eine Zeit lang verliefen die Entwicklungslinien in Partei und Staat parallel. Dann begannen sie sich in einem unvermeidlichen Prozess anzunähern und schließlich zusammenzufallen. Dieser Prozess war zum Zeitpunkt des Todes von Lenin praktisch abgeschlossen.(4)

Dies ist ein schematischer Überblick über den gesamten Zeitraum 1917-24. Das Muster war jedoch in allen Bereichen das gleiche. Selbst in der Frage der Fabrikkomitees, deren „Unterdrückung“ die RätekommunistInnen so sehr betonen, stellt sich die Wahrheit etwas komplizierter dar. Es war allen klar, dass die Fabrikkomitees bestenfalls lückenhaft arbeiteten. Die ArbeiterInnen bei der Eisenbahn, die sich selbst am Material bedienten, (…) ist vielleicht eines der extremen Beispiele. Doch die Fabrikkomitees wurden zuweilen auch von bolschewistischen ArbeiterInnen dominiert, die eine stärkere Koordinierung und Zentralisierung einforderten. Sie waren es, die mit Unterstützung der LinkskommunistInnen, der wichtigsten Oppositionsgruppe innerhalb der Partei, auf der Einsetzung eines Obersten Rats für Volkswirtschaft oder VESENKha bestanden. Das muss selbst ein liberaler Kritiker der Revolution eingestehen:

Im Sinne des Plans der Linken und anscheinend auf Betreiben der Führung der Fabrikkomitees schuf der Rat der Volkskommissare im Dezember 1917 den Obersten Wirtschaftsrat (…). Der Rat wurde ursprünglich von den Linken beherrscht – der erste Vorsitzende war Ossinski, und dem leitenden Büro gehörten Bucharin, Lomow und Wladimir Smirnow an. Obwohl die Erfolge des zentralen Rats und der örtlichen Räte in den folgenden Monaten zweifelhaft waren, reichte das in ihm verkörperte Beharrungsvermögen doch aus, Lenin eine letzte Äußerungen seines Anarchismus von 1917 zu entlocken. Im Mai 1918 erklärte er auf dem Kongress der örtlichen Wirtschaftsräte: Es wird dem ´Apparat des alten Staates beschieden sein abzusterben, während es einem Apparat von der Art des Obersten Volkswirtschaftsrat beschieden ist, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln, zu erstarken und die gesamte wichtigste Tätigkeit der organisierten Gesellschaft zu umfassen.(5)

Dies stand am Ende dessen, was der bolschewistische Wirtschaftswissenschaftler L. Kritsman später „die heroische Periode der Revolution“ bezeichnen sollte, eine Periode, die mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs nach der Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litowsk mit Deutschland im März 1918 endete. Von nun an sollte die ständige Auszehrung der bereits gebeutelten russischen ArbeiterInnenklasse das sowjetische Prinzip weiter untergraben.

Partei und Klasse

Wir müssen noch einmal betonen, dass die Entartung der Revolution nicht das Ergebnis eines vorgefassten Plans der Partei war. Auf dem Achten Parteitag im März 1919 wurde nicht groß darum herumgeredet, dass „die Partei“ mit „der Klasse“ identisch sei. Im Gegenteil, das Verhältnis von Partei und Klasse wurde ganz klargesehen

Die Kommunistische Partei hat sich zum Ziel gesetzt, in allen Organisationen der Arbeiter, in den Gewerkschaften, in den Genossenschaften, in den landwirtschaftlichen Gemeinden usw. einen entscheidenden Einfluss und eine vollständige Führung zu erlangen. Die Kommunistische Partei versucht insbesondere, ihr Programm und ihre vollständige Herrschaft in den gegenwärtigen staatlichen Organisationen, den Sowjets, zu verwirklichen. Die Partei versucht, die Tätigkeit der Sowjets zu lenken, aber nicht, sie zu ersetzen.(6)

Der letzte Satz bringt es auf den Punkt. Die Klassenorgane der Räte repräsentieren die gesamte Klasse, während die Partei nur die fortgeschrittensten Teile organisiert. Die fortschrittlichsten ArbeiterInnen können die Revolution jedoch nicht alleine durchführen, da sie die umfassende soziale und wirtschaftliche Umgestaltung der gesamten Produktionsweise erfordert, was logischerweise nicht von einer Minderheit vollbracht werden kann. Die Räte sind nicht einfach nur eine nette Idee. Sie sind für die wirkliche Umgestaltung der Gesellschaft unverzichtbar, und um auf die klassische Aussage von Marx in der Deutschen Ideologie zurückzukommen, ist es genau dieser Prozess der revolutionären Bewegung, der auch das Bewusstsein der Menschen verändert.(7) Die Räte sind die historisch entdeckte Lösung für das Problem, wie man die Masse der Bevölkerung ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen kann. Damit wären wir beim Kern des Problems angelangt.

Die Entwicklung des Klassenbewusstseins der ArbeiterInnenklasse hat zur Folge, dass der tatsächliche Sturz der kapitalistischen Herrschaft von einer größeren Bewegung, politisch angeführt von einer kleinen Minderheit vollzogen werden wird. (…) Doch der Sturz des Kapitalismus und die Errichtung des Sozialismus sind zwei verschiedene Dinge. Das eine kann durch eine Bewegung erreicht werden, in der die KommunistInnen eine bestimmende Rolle spielen. Die Frage des Aufbaus des Sozialismus ist jedoch von einer ganz anderen Größenordnung. Sie erfordert, dass jede/r ArbeiterIn in jedem Bereich der Gesellschaft in die Entwicklung einer neuen Produktionsweise, einer neuen politischen Ordnung und schließlich einer völlig anderen Art von Gesellschaft einbezogen wird, die sich vom „Dreck von Jahrhunderten“ (Marx) befreit. Im Laufe dieses Prozesses werden sich die Vorstellungen des größten Teils der Menschheit ändern. Das Problem, das die russische Erfahrung aufgeworfen hat, ist, dass die besten Vorsätze und Intentionen nichts nützen, wenn die objektive Situation gegen das Proletariat arbeitet.

Dies zeigte sich beispielhaft anhand der Frage der Parteimitgliedschaft. Um dem Karrierismus Einhalt zu gebieten, bemühte sich die Partei vorrangig zu Zeiten, in denen der Bürgerkrieg gegen die Weißen kritisch verlief, neue Mitglieder aufzunehmen, so dass die Folgen eines Parteibeitritts für jeden Einzelnen fatal sein konnten. Dies sollte sicherstellen, dass die Partei ihre revolutionäre und proletarische „Reinheit“ - ihr revolutionäres Klassenbewusstsein - bewahren würde. So lobenswert dies auch war (und es ist wahrlich schwer zu sagen, was die Bolschewiki hätten besser machen können), so blieb doch die Tatsache bestehen, dass weniger als 5 % der Bevölkerung des alten russischen Reiches der ArbeiterInnenklasse angehörte.

Da viele ArbeiterInnen bereits in der Partei waren oder in der Roten Armee kämpften, waren die Möglichkeiten, neue proletarischer Mitglieder zu finden, begrenzt. In dem Maße wie die Partei immer mehr Aufgaben bei der Verwaltung es Systems übernahm, stieg auch die Zahl ihrer Mitglieder. Die Mitgliedschaft wuchs von einigen Zehntausenden Mitte 1917 auf 3 Millionen im Jahr 1921 an. Der „Bürokratismus“ wurde auch weiterhin auf den Sowjet- und Parteikongressen angeprangert. Doch während des gesamten Bürgerkriegs verloren die meisten Sowjets an Einfluss, während die klassenbewusstesten ArbeiterInnen an der Front kämpften.

Die Erfahrungen der Russischen Revolution illustrieren somit auch, wie fragil das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse sein kann. Die Sowjetherrschaft entfaltete sich nach vier Jahren des Krieges und des wirtschaftlichen Niedergangs. Edward Acton, den wir bereits zitierten, beschreibt die extrem schlechte wirtschaftliche Lage in Russland Ende 1917 als vergleichbar mit den Jahren der Pest im mittelalterlichen Europa.(8) Die Bolschewiki konnten den Krieg beenden und das Land umverteilen, aber sie konnten nicht das Brot herbeizaubern, an dem es in den letzten zwei Jahren so sehr gemangelt hatte. Der Enthusiasmus der ArbeiterInnenklasse, die 1917 das bolschewistische Eintreten für die Sowjetmacht unterstützt hatte, wurde dadurch ausgebremst. Wie Mary McAuley ihrem Buch über die Russische Revolution anschaulich darstellt, breitete sich bereits im Frühjahr 1918 unter den ArbeiterInnen eine gewisse Apathie aus. Gegen Ende des Jahres wurde in einigen Fabriken sogar (zugegebenermaßen von einer kleinen Minderheit) die Rückkehr des Zaren gefordert:

Krankheit und Hunger suchten die Stadt heim. Im März, als der Kalorienverbrauch auf kaum mehr als 1.500 pro Tag gesunken war, kam es zu einer Reihe von Streiks in den Fabriken. Es war eine trostlose Zeit. Die Bolschewiki mussten all ihre Mittel aufbieten, um die wütenden Arbeiter zu beruhigen, von denen einige die Parole ´Nieder mit Lenin und Pferdefleisch, gebt uns den Zaren und Schweinefleisch` verbreiteten. Lenin reiste eigens aus Moskau an, um die Frage vor einer großen Versammlung im Volkshaus direkt anzusprechen, und es wurde ein neues Rationierungssystem ausgearbeitet. Ganz so schlimm wurde es nie wieder, aber die dreiviertel Million Einwohner, die den Bürgerkrieg überlebt hatten, waren Ende 1920 abgemagert und krank. Die jahrelange Ernährung am Rande des Existenzminimums hatte physisch und psychisch ihren Tribut gefordert.(9)

All dies wirft die Frage auf, wie sich die Bolschewiki überhaupt an der Macht halten konnten. Ein Faktor war die unbestreitbare Loyalität der großen Mehrheit der ArbeiterInnen gegenüber der Sowjetform, auch wenn diese nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form funktionierte.

Ferner stellte sich das übliche Problem nach einer Revolution: Was kann als legitime Kritik angesehen werden und was als destruktiv und untergrabend? Dies wurde durch die Spaltung der Oppositionskräfte noch zusätzlich verschärft. Die Linken SR waren zunächst in der Sowjetregierung, verließen diese aber nach einem terroristischen Akt gegen den deutschen Botschafter. Die Menschewiki spalteten sich in mindestens drei Fraktionen, von denen einige die Arbeit in den Sowjets akzeptierten (wie die menschewistischen InternationalistInnen um Martow), während andere im Bürgerkrieg mit bürgerlichen Kräften zusammenarbeiteten, dann aber ihre Meinung änderten und zur Arbeit in den Sowjets zurückkehrten. Angesichts dieser Situation waren die Bolschewiki selbst gespalten: Die einen bestanden auf der Notwendigkeit, alle oppositionellen Gruppen zu unterdrücken, die anderen versuchten den Räten eine neue rechtliche Geltung zu verschaffen.

Diese Debatte zeigt jedoch auch, dass sich die Bolschewiki selbst bereits mit dem Staat identifizierten, ein Prozess, der sich noch verstärkte, als der Bürgerkrieg jede potenzielle Opposition als Unterstützung der Weißen erscheinen ließ. All dies warf für die Bolschewiki eine Frage auf, die sie nicht wirklich lösen konnten und von Mary McAuley folgendermaßen skizziert wurde:

In den Augen der Bolschewiki war es die Arbeiterklasse, angeführt von ihren fortschrittlichsten Mitgliedern in der bolschewistischen Partei, die den Sozialismus aufbauen sollte. Sollten sich die Petrograder Arbeiter gegen die Partei wenden oder ihr nicht folgen, dann würde das sozialistische Vorhaben scheitern. Die Bolschewiki brauchten die Unterstützung der Arbeiter, um ihren Herrschaftsanspruch zu rechtfertigen. Aber welche Art von Unterstützung? Aus bürgerlicher Sicht konnte man nur eine passive Duldung erwarten, aber von den Arbeitern wurde weit mehr verlangt. Ohne ihre aktive Beteiligung, ihre Initiative und ihre Opferbereitschaft war der Sozialismus nicht zu erreichen. Für Tausende von Aktivisten aus der Arbeiterklasse, die unter dem Zarismus Sozialisten geworden waren, bedeutete dies Selbsterziehung, Selbstdisziplin und die Bereitschaft, persönlichen Komfort und Sicherheit für die Sache zu opfern. Die bolschewistische Partei war zumindest darauf angewiesen, dass die Fabrikarbeiter für sie und nicht für die Menschewiki oder die SR stimmten und dass sie in den Fabriken Resolutionen zur Unterstützung der bolschewistischen Politik verabschiedeten - und manchmal mussten sie sich damit begnügen -, aber wenn sie sich nur auf diese Gesten der Anhängerschaft beschränkte, war das sozialistische Unternehmen dem Untergang geweiht. Nur wenn die Arbeiter sich zu einer neuen Arbeits- und Lebensweise verpflichteten (was unter den gegenwärtigen Bedingungen besonders schwierig war), konnte der Sozialismus aufgebaut werden. Die Bolschewiki konnten das nicht für sie tun.(10)

Die Bolschewiki mögen einige Überbleibsel der Vorstellungen Sozialdemokratie in Hinblick auf das Wesen des Sozialismus bewahrt haben, doch ihre proletarische Opposition gegen den Krieg zeigte auch, dass sie mit vielen sozialdemokratischen Ideen gebrochen hatten und zu den entschiedensten KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse der damaligen Zeit gehörten.

Die seit der Niederlage der Russischen Revolution von heutigen RätekommunistInnen (nicht jedoch von früheren Rätekommunisten wie Pannekoek(11) oder von Anarchisten wie Volin(12) entwickelte Vorstellung, dass die Bolschewiki einen vorgefassten Plan zur Errichtung eines Parteienstaates hatten, entspricht einfach nicht den Tatsachen. Eine kritische Analyse der bolschewistischen Fehler zeigt, dass die Debatten innerhalb der Bolschewiki über die Zukunft der Revolution damals genau die Fragen aufwarfen, mit denen wir auch heute konfrontiert sind. Es war nicht nur der Mangel an Bewusstsein innerhalb der russischen ArbeiterInnenbewegung, der zu den katastrophalen Entwicklungen in der UdSSR führten, sondern die objektiven Bedingungen, unter denen die RevolutionärInnen damals arbeiteten.

Mit der fortschreitenden Isolierung des russischen Proletariats setzte der Niedergang der Revolution ein, der sich anhand von Berichten von Zeitzeugen nachlesen lässt. Arthur Ransome berichtete bspw. 1919 noch über die lebendige Basisarbeit in den Provinzsowjets, doch als er 1920 zurückkehrte, stellte er fest, dass diese faktisch nicht mehr existent war.(13) Der zunehmende Bürokratismus und der Niedergang des wirklichen Sowjetlebens führten zur Einrichtung des „Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion“ (Rabkrin), die einfache ArbeiterInnen in die Kontrolle der Bürokratie einbeziehen sollte. Ihre Mitglieder sollten, wie die Delegierten der Sowjets von anderen ArbeiterInnen gewählt werden, und nach dem Rotationsprinzip erfolgen, um möglichst viele ProletarierInnen einzubeziehen. Damit sollte dem faktischen Niedergang der Sowjetdemokratie von 1917 bis 1918 Rechnung getragen werden. Wie alle künstlichen Lösungsansätze für reale Probleme brachte sie nichts, außer Stalin eine weitere Machtbasis zu verschaffen, von der aus er sich in jeden Aspekt des sowjetischen Lebens einmischen konnte. Trotz der Kritik von allen Seiten stellte Lenin noch 1922 eine Reform dieses Systems in Aussicht. 1923 erklärte er, auch weil er die Gefahr durch Stalin erkannt hatte, dass die Rabkrinnicht den geringsten Rest von Autorität" besitze, und schloss sich jenen wie Trotzki und Preobraschenski an, die ihre Auflösung forderten.

Die Russische Kommunistische Linke

Die Degeneration wirkte sich genauso verhängnisvoll auf die innere Funktionsweise der Partei und der staatlichen Institutionen aus. Für viele, selbst einige LinkskommunistInnen, ist der Begriff des „demokratischer Zentralismus“ heute diskreditiert, da er durch die Erfahrungen der „Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (KPdSU) verzerrt wurde.

Ursprünglich bezeichnete der demokratische Zentralismus einen wechselseitigen Prozess, bei dem die Politik der Partei von unten nach oben beschlossen wurde, was dann alle Mitglieder verpflichtete diese umzusetzen. Die Mitglieder hatten immer noch das Recht, Entscheidungen intern zu kritisieren, doch sie bleiben so lange gültig, bis sie durch eine weitere Beschlussfassung der gesamten Partei aufgehoben oder korrigiert wurden. Die langwierigen Debatten über die Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litowsk zeigen, dass dieses Prinzip auch 1918 noch lebendig war. Auf dem Neunten Parteitag im März 1920 bildete sich um Tinofei Wladimirowitsch Sapronow eine Opposition, die sich „Demokratische Zentralisten" (kurz: Dezisten) nannte und ein Ende der sich durchsetzenden Einmannverwaltung in allen Lebensbereichen forderte. Sapronow kritisierte, dass der demokratische Zentralismus als Grundlage von Partei und Sowjetorganen durch einen „vertikalen Zentralismus“ ersetzt worden sei. Er verwies darauf, dass sich die lokalen Gliederungen immer wieder über Einmischungen der Zentrale beschwerten.

Um die Probleme der russischen ArbeiterInnenklasse zu verdeutlichen, stimmte die Opposition der unglücklichen Lösung der Einrichtung einer „Kontrollkommission“ zu, in der einfache ArbeiterInnen Parteifunktionäre, egal welchen Posten sie auch bekleideten, anprangern und kritisieren konnten. Daraus wurde später die Rabkrin, auf die wir bereits eingegangen sind. Das unterstreicht einmal mehr was wir bereits ausgeführt haben. Es gibt keine Lösungen für Probleme, die nicht die objektive Realität der Situation berücksichtigen. Im Gegensatz zum Mythos des monolithischen Bolschewismus, der später von Stalinisten und liberalen Kommentatoren gleichermaßen beschworen wurde, gab es während der ganzen Zeit des Bürgerkrieges und danach innerhalb der bolschewistischen Partei eine hartnäckige und kontinuierliche Opposition gegen den Niedergang der Revolution.

In der Zeit zwischen dem Achten Parteitag 1918 und dem Tod Lenins gab es kaum einen Parteitag, an dem sich nicht die eine oder andere Oppositionsströmung zu Wort meldete (selbst nach dem formellen Fraktionsverbot des Zehnten Parteitag 1921 existierten sie weiter). Gleichwohl bleiben diese Oppositionsströmungen verhältnismäßig schwach. Das liegt weder am enormen Prestige Lenins noch an der mangelnden Begabung der Wortführer der Oppositionsströmungen. Bucharin, Radek, Preobraschenski, Sapronow, Lomow, Ossinskij, Piatakow, Kollontai, Schljapnikow und Smirnow etc. waren alle zu bestimmten, wenn auch unterschiedlichen Zeitpunkten an dem Versuch beteiligt, die Flut der Konterrevolution aufzuhalten. Einige von ihnen, wie die Linken Kommunisten von 1918, die Demokratischen Zentralisten, die Gruppe „Arbeiterwahrheit" und die Kommunistische Arbeitergruppe, antizipierten mit ihren grundlegenden Positionen zumindest indirekt einen Großteil des politischen Denkens der heutigen Kommunistischen Linken:

- Die Einschätzung der Sozialdemokratie und die Zweite Internationale als kapitalistische Organisationen, des linken Flügels der Bourgeoisie, die sie somit weltweit (d. h. nicht nur in Russland) als konterrevolutionär charakterisierten.

- Die Ablehnung der Einheitsfront.

- Die Ablehnung des Konzepts „bürgerlichen Arbeiterparteien", die Lenin und andere auf dem rechten Flügel der Arbeiterbewegung verorteten.

- Das Beharren auf den Räten und der Rätedemokratie als Grundlage der Diktatur des Proletariats.

- Die Ablehnung des Stellvertretertums und der Verschmelzung der Partei mit dem Staatsapparat.

- Die Ablehnung der Vorstellung, dass der Staatskapitalismus eine fortschrittliche und notwendige Etappe im Kampf für den Kommunismus sei.

- Die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und der nationalen Befreiungskriege als reaktionär.

- Die Unterstützung aller defensiven und wirtschaftlichen Kämpfe der ArbeiterInnenklasse.

- Die Ablehnung des Parlamentarismus und der Teilnahme an Wahlen.

- Ablehnung des Gewerkschaftswesens in all seinen Formen.(14)

Doch bei aller politischer Klarheit konnten die Kommunistische Linke (und auch die anderen Oppositionsströmungen) der Flut der Konterrevolution, die nicht nur Russland, sondern die ganze Welt erfasste, nicht standhalten. Einige von ihnen (wie Ossinski) vertraten die Ansicht, dass es besser wäre, Partei und Staat zu trennen, um die Klarheit des kommunistischen Programms zu bewahren. In den Thesen der Linken KommunistInnen von 1918 wurde deutlich, dass sie sich darüber im Klaren waren, dass die Partei selbst zum Träger der Konterrevolution werden könnte. Dies war in ihren Augen die schlimmste Gefahr, da es darauf hinauslaufen würde, dass das revolutionäre Programm verloren ginge. Ohne revolutionäres Programm könne es keine revolutionäre Partei geben, was darauf hinauslaufen könne, dass eine ganze Generation für die Revolution verloren wäre.

Das war fast schon zu optimistisch gedacht. Schließlich ist der Alptraum in dem KommunistInnen heute (über)leben müssen, dem Erbe der Degeneration der Revolution zu verdanken. Schon lange vor Stalin und trotz aller guten theoretischen und organisatorischen Instinkte der Bolschewiki wurde die Partei in den Staat absorbiert und die Sowjets faktisch bedeutungslos. Im Nachhinein wurde die „Diktatur der Partei“ als „Diktatur des Proletariats“ rationalisiert.

Es kam zu einem allmählichen Prozess der Bedeutungsverschiebung von Begriffen. Als Lenin 1919 zum ersten Mal die Idee einer „Diktatur der Partei“ verteidigte, fügte er hinzu, dass die Ideen der Partei nur von den neuen Organen, den Sowjets, in die Tat umgesetzt werden können. Doch im Dezember 1920 (als der Bürgerkrieg gegen die Weißen und den alliierten Truppen Erfolge zeitigte) erklärte er:

Aber die Diktatur des Proletariats läßt sich nicht verwirklichen durch eine Organisation, die das Proletariat in seiner Gesamtheit erfaßt. Denn nicht nur bei uns, in einem der rückständigsten kapitalistischen Länder, sondern auch in allen anderen kapitalistischen Ländern ist das Proletariat immer noch so zersplittert, so zu Boden gedrückt, hier und da so korrumpiert (nämlich durch den Imperialismus in einzelnen Ländern), daß eine Organisation, die das Proletariat in seiner Gesamtheit erfaßt, dessen Diktatur unmittelbar nicht zu verwirklichen vermag. Die Diktatur kann nur durch die Avantgarde verwirklicht werden, die die revolutionäre Energie der Klasse in sich aufgenommen hat.(15)

Das ist reinster Mystizismus, kein Materialismus. Es hat mehr mit dem faschistischen Mythos gemein, dass der Führer/Duce der wahre Ausdruck des Willens der Nation sei, als mit dem marxistischen Materialisten Lenin von 1917-18. Auch in seinen letzten Lebensjahren war Lenin alles andere als konsequent. Auf dem Elften Parteitag im März 1922 schien er erkannt zu haben, dass etwas furchtbar falsch gelaufen war:

Es mangelt der Schicht von Kommunisten, die leitende Funktionen in der Verwaltung ausüben an Kultur. Man nehme doch Moskau – die 4700 verantwortlichen Kommunisten – und dazu dieses bürokratische Ungestüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet.(16)

Dies waren praktisch Lenins letzten Worte über die Bedingungen der Revolution, und natürlich wurden ihnen kaum Rechnung getragen. Da die Idee der Parteidiktatur nun allseits akzeptiert war, blieb Lenins Nachfolgern nichts anderes übrig, als ihre eigene Version der Diktatur zu verkünden. Sinowjew argumentierte auf dem Zwölften Parteitag, dass es nicht nur gut sei, "die Diktatur der Partei" zu haben, sondern ging in Abwesenheit Lenins noch einen Schritt weiter:

Wir brauchen ein einziges starkes, mächtiges Zentralkomitee, das an der Spitze von allem steht (...) Das Zentralkomitee ist das Zentralkomitee, weil es dasselbe Zentralkomitee für die Sowjets, für die Gewerkschaften, für die Genossenschaften, für die Provinzexekutivkomitees und für die gesamte Arbeiterklasse ist. Darin besteht seine Rolle der Führung, darin drückt sich die Diktatur der Partei aus.(17)

Um 1928 sollte die Diktatur des Proletariats vom Generalsekretär verkörpert werden. Die Idee, dass der Kommunismus die Abschaffung des Staates voraussetze, geriet in Vergessenheit. Die Kommunistische Linke hatte eindringlich vor diesem Prozess gewarnt, doch in der gefährlichen Situation von 1918-21 wurde ihr keine Bedeutung beigemessen. Da die Weltrevolution ausblieb, die die Situation hätte umkehren können, konnte eine rein russische Lösung nicht sozialistisch sein (und Lenin hatte nie behauptet, dass der Sozialismus in Russland auch nur ansatzweise verwirklicht worden war).

Das Ende des Bürgerkriegs stellte die Bolschewiki vor eine neue Situation, Doch während sie um eine Antwort rangen, erhob sich die Kronstädter Kommune und forderte eine Änderung ihrer Politik. Besessen von der Vorstellung, dass Kronstadt in die Hände der Weißen oder der Alliierten fallen könnte, führte die KPR (B) keine ernsthaften Verhandlungen mit den Aufständischen und setzte auf militärische Unterdrückung. Die Bolschewiki in Kronstadt spalteten sich, Parteigenossen bekämpften sich gegenseitig. Tausende gingen ins Exil, weitere Tausende wurden verhaftet und erschossen.

Die Tragödie wurde noch dadurch verschlimmert, dass der 10. Parteitag der KPR (B) innerhalb weniger Tage die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) verabschiedete (die sich an den wichtigsten wirtschaftlichen Forderungen der Kronstädter orientierte). Die Einführung der NEP war im Grunde eine Wiederherstellung des kapitalistischen Marktes und gemessen an ihren Auswirkungen ein „Erfolg“. Die Tatsache, dass es keine aufständischen Kronstädter mehr gab, war nicht nur auf die zunehmende Unterdrückung durch die Tscheka zurückzuführen, sondern auch auf einen Rückgang der revolutionären Aktivität der gesamten ArbeiterInnenklasse. Die verbesserten materiellen Bedingungen unter der NEP führten dazu, dass die ArbeiterInnen allmählich die Forderungen nach einer revolutionäreren Politik und Rätemacht aufgaben. Der Staat war zunehmend in der Lage, die Masse der ArbeiterInnen für seine Kampagnen zu mobilisieren. Es lief auf einen konterrevolutionären Kompromiss hinaus.(18) In dem Maße wie sich der Lebensstandard verbesserte, ging das revolutionäre Bewusstsein der ArbeiterInnen zurück.

Der Weg zum Stalinismus wurde allmählich frei. Alle Versuche der Opposition, kommunistische Ideen wieder zu bekräftigen, blieben angesichts einer ArbeiterInnenklasse isoliert, die sieben Jahre imperialistischen Krieg, Krankheiten und Hungersnöte hinter sich hatte und sich nun nach nichts anderem mehr sehnte als einen etwas besseren Lebensstandard. Revolutionäres Bewusstsein ist, wie wir gezeigt haben, eine fragile Angelegenheit. Es kann genauso schnell verschwinden, wie es entsteht. Die Tatsache, dass die russischen ArbeiterInnen ihre „revolutionären Träume(19) so lange aufrechterhielten, zeugt allerdings sowohl von ihrer Zähigkeit als auch von ihrem Klassenbewusstsein.

Wir lehnen die Vorstellung ab, dass das Scheitern der Russischen Revolution in erster Linie auf einer gewissenermaßen apriorische Haltung der Bolschewiki zurückzuführen sei. Doch worunter wir heute mehr zu leiden haben, ist die Tatsache, dass die „alte Avantgarde“ keine Avantgarde der Klasse blieb. Sie verschmolz mit dem Staatsapparat eines einzelnen nationalen Territoriums. Damit war sie nicht mehr in der Lage, ein kommunistisches Programm auf internationaler Ebene aufrechtzuerhalten. Das ist die Aufgabe einer zukünftigen kommunistischen Vorhut. Diese muss international und zentralisiert sein, um ihrer Aufgabe an einem internationalen revolutionären Programm festzuhalten, gerecht werden zu können. Diesem Aspekt des Klassenbewusstseins und der Frage der politischen Organisation werden wir uns im nächsten Teil dieser Artikelserie zuwenden.

Zum Weiterlesen:

Partei und Klasse in der revolutionären Welle von 1917-1921: leftcom.org

Spontanität und Organisation in der russischen Februarrevolution: leftcom.org

Am Vorabend der Revolution: Die Debatte zwischen Lenin und Luxemburg: leftcom.org

Die Ära der Sozialdemokratie und der Kampf gegen den Revisionismus: leftcom.org

Marx, Engels und die Frage der proletarischen Aktion: leftcom.org

Die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins: leftcom.org

Idealismus und bürgerlicher Materialismus: leftcom.org

Anmerkungen:

(1) Lenin: Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei, Ausgewählte Werke, Bd. IV, Seite 223.

(2) Die Auflösung der Milizen der „Roten Garden“ zugunsten des Aufbaus einer Roten Armee war einer der wichtigsten Schritte beim Aufbau eines neuen Staates. Lenin hatte in seiner Schrift „Staat und die Revolution“ herausgearbeitet, dass ein Staat auf zwei Pfeilern aufbaut - einem stehenden Heer und einer Bürokratie. Gleichwohl gaben die Bolschewiki mit der Bildung der Roten Armee das Konzept der bewaffneten Räte (die als Halbstaat später „absterben“ sollten) zugunsten des ersten Schritts zum Aufbau eines neuen Staates auf. Die objektive Situation einer isolierten RSFSR, die vom internationalen Imperialismus angegriffen wurde, mag diesen Schritt notwendig gemacht haben, aber er unterstreicht nur, dass eine Revolution in einem Territorium letztlich nur erfolgreich sein kann, wenn das übrige Weltproletariat in der Lage ist, die Pläne der anderen imperialistischen Mächte zumindest zu durchkreuzen.

(3) E.H.Carr: The Bolshevik Revolution, Band 1, S.194 (Unsere Übersetzung)

(4) Carr: a.a.O., S.220

(5) R.V. Daniels: Das Gewissen der Revolution, Köln-Berlin, 1962, S. 84

(6) Zit. nach W.H. Chamberlin The Russian Revolution Vol. _II_ ,Macmillan 1965, S.363

(7) Siehe den ersten und zweiten Teil dieser Artikelserie.

(8)Nach der Oktoberrevolution erlebte das Land einen ökonomischen Zusammenbruch auf dem Niveau des Schwarzen Todes im Mittelalter" in „Rethinking the Russian Revolution“ (Arnold 1990) S. 204.

(9) Mary McAuley: Bread and Justice: State and Society in Petrograd 1917-22, Oxford 1991, S. 280. (Unsere Übersetzung)

(10) a.a.O., S.240

(11) Siehe dazu sein Buch „Die Arbeiterräte“ (1940)

(12) Volin hat den Verdienst als erster den Sownarkom als Organ kritisiert zu haben, welches die Provisorische Regierung nachahmte und über (bzw. außerhalb der Sowjets) stand.

(13) Vergl. Carr, S. 223.

(14) I.R. Hebbes :The Communist Left in Russia (ursprünglich eine unveröffentlichte Dissertation, die uns der Autor vor seinem frühen Tod zur Verfügung stellte). Sie wurde inzwischen von der IKS unter dem Titel The Russian Communist Left als Buch veröffentlicht.

(15) Lenin, LW Werke (Berlin 1982), Bd. 32, Seite 15.

(16) Lenin: LW, Bd.33, XI. Parteitag der KPR(B), S.275.

(17) Carr, a.a.O. S. 236-7.

(18) Siehe Simon Piranis The Russian Revolution in Retreat 1921-24, Routledge 2009.

(19) So der Titel eines Buchs von Richard Stites (Oxford 1989), in dem alle „utopischen“ Experimente in der Zeit von 1917-1928 untersucht werden. Obwohl er sich des zunehmenden autoritären Charakters des Regimes im Russland der 1920er Jahre durchaus bewusst ist, macht Stites deutlich, dass es in den ersten zehn Jahren nach 1917 ein größeres Maß an sozialer Freiheit gab als nach Stalins Machtantritt, als nahezu alle Vorstellungen von sozialer Gleichheit als verrückte Ideen abgetan wurden.

Sunday, December 18, 2022