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Startseite ›Imperialismus und Genozid: Das Versagen des Völkerrechts angesichts des Massenmords
Mit Luftangriffen, kontrollierten Sprengungen und Bulldozern wird Gaza dem Erdboden gleichgemacht. Die immer kleiner werdende „humanitäre Zone” wird von Hunger und Krankheiten heimgesucht. Die israelische Armee macht keinen Unterschied zwischen militärischen und zivilen Zielen. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer wird wahrscheinlich erst in einigen Jahren bekannt sein – wenn überhaupt. Währenddessen nutzen israelische Siedler die Gelegenheit um sich noch mehr Land im Westjordanland unter den Nagel zu reißen. Es besteht kein Zweifel: Die PalästinenserInnen sind zu einer rechtlosen Masse geworden, der Tod und Vertreibung droht.
Währenddessen bereitet die Regierung Netanjahu eine weitere Eskalation vor. Nichts scheint ihn daran zu hindern ein „Groß-Israel“ zu schaffen, egal wie viele Opfer das fordern wird. Alle Warnungen von NGOs und internationalen Organisationen vor der sich zuspitzenden humanitären Katastrophe wurden und werden ignoriert. Nicht nur in Israel und Palästina, sondern auf der ganzen Welt gibt es enorme Repressionen gegen die Proteste dagegen. Die Sanktionen, Embargos und Boykottmaßnahmen haben die militärische und wirtschaftliche Blockade Gazas nicht aufgebrochen. Die USA haben als führende Supermacht der Welt grünes Licht gegeben – das fällt stärker ins Gewicht als alles andere. Vor diesem Hintergrund hegen viele die Hoffnung, dass die Völkermordkonvention dem Gemetzel ein Ende setzen könnte. Dieses „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ ist ein Produkt der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen „regelbasierten Ordnung“.
Das Völkerrecht (...) wird in der Regel als die Gesamtheit der Normen definiert, die die Beziehungen zwischen Staaten regeln. (...) In dieser rein formalen Definition fehlt jedoch natürlich jeder Hinweis auf den historischen, d. h. den Klassencharakter des Völkerrechts. Es ist ganz offensichtlich, dass die bürgerliche Rechtswissenschaft bewusst oder unbewusst bestrebt ist, diesen Klassencharakter zu verschleiern. (...) Selbst jene Vereinbarungen zwischen kapitalistischen Staaten, die auf das allgemeine Interesse ausgerichtet zu sein scheinen, sind in Wirklichkeit für jeden der Beteiligten ein Mittel, um ihre besonderen Interessen mit Eifer zu schützen, die Ausbreitung des Einflusses ihrer Rivalen zu verhindern, einseitige Eroberungen zu vereiteln, d. h. in anderer Form denselben Kampf fortzusetzen, der so lange bestehen wird, wie es kapitalistischen Wettbewerb gibt.(Jewgeny Paschukanis, 1925)
Der erste Versuch, „Regeln des Krieges“ aufzustellen, geht auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges (dem bis dahin blutigsten Krieg in der europäischen Geschichte) zurück. Es kam nicht von ungefähr, dass sie von dem Niederländer Hugo Grotius verfasst wurden, einem Einwohner eines (fortgeschrittenen) merkantilen kapitalistischen Staates, der davon seinerzeit am meisten profitieren konnte. Doch erst mit dem Eintreten des imperialistischen Zeitalters wurde Grotiuss ernster genommen. Die sog. „Kabinettskriege” der vergangenen Jahrhunderte nahmen nun eine insgesamt brutalere Form an und so waren Rechtsgelehrte bestrebt, Rahmenbedingungen für eine „humane” Kriegsführung zu schaffen. Im Jahr 1901 prophezeite Winston Churchill, dass „Kriege zwischen Völkern schrecklicher sein werden als Kriege zwischen Königreichen” (folgerichtig sprach er sich später für den Einsatz chemischer Waffen gegen „unzivilisierte Völker” wie den AfghanInnen im Britischen Raj oder den KurdInnen im Irak aus). In den imperialistischen Kriegen wurden nun die gesamte Bevölkerung gegen eine andere mobilisiert. Die neusten verfügbaren tödlichen Technologien kamen zum Einsatz, in einem Massenschlachten von industriellem Ausmaß.
Mit der Entstehung, Wiederherstellung oder Vereinigung verschiedener Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert nahm dies oft die Form von Massakern an, um andere Nationalitäten zur Aufgabe des Territoriums zu zwingen und so ethnisch homogenere Gesellschaften zu schaffen. Die Haager und Genfer Konventionen versuchten, ein Regelwerk für die „Gesetze des Krieges“ für diese neue Ära zu definieren. Viele dieser Regeln und Gesetze wurden später während des Ersten und Zweiten Weltkriegs gebrochen, aber sie legten den Grundstein für das Verbot bestimmter Handlungen, die als „Kriegsverbrechen”, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, „Angriffskriege” und „Genozid” eingestuft wurden. Dieser letzte Begriff wurde von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt, der fast seine gesamte Familie während des Holocaust verloren hatte – der zum Sinnbild des „Verbrechens aller Verbrechen” wurde.
Die Völkermordkonvention, die vordergründig darauf abzielt, „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ zu verhindern und zu ahnden, wurde unweigerlich selbst zum Bestandteil imperialistischer Ränkespiele. Sie wurde so formuliert, dass sie den siegreichen Alliierten in die Lage versetzte, die besiegten Achsenmächte anzuklagen, ohne selbst in die juristische Schusslinie zu geraten (Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Katyn usw.). Die ihr zugrundeliegenden Prinzipien wurden von Anfang an selektiv angewendet. Heute wird die Völkermordkonvention von den rivalisierenden kapitalistischen Fraktionen genutzt, um die „Verbrechen“ der anderen anzuprangern und damit die eigenen Gräueltaten zu rechtfertigen. So stellte die russische Propaganda die Invasion der Ukraine als Präventivmaßnahme gegen den „Völkermord an Russischsprachigen“ in der Donbass-Region dar, während die israelische Propaganda die Invasion des Gazastreifens als Selbstverteidigung gegen den „Genozid“ vom 7. Oktober präsentierte.
Selbst innerhalb der bürgerlichen juristischen Fachwelt kam die Frage auf, ob die „Völkermordkonvention“ in ihrer derzeitigen Form noch zweckmäßig sei. Im Jahr 2018, zum 70. Jahrestag dieses Vertragswerks, wiesen Vertreter der Vereinten Nationen selbst darauf hin, dass aus „nie wieder“ ein „immer wieder“ geworden sei und dass die internationale Gemeinschaft „die Warnsignale nicht beachtet und es versäumt hat, frühzeitig entschlossen zu handeln“. Einige Staaten haben den Vertrag nie ratifiziert, aber selbst einige derjenigen, die dies getan haben, verstoßen gegen ihn. Wenn die Völkerrechtsdefinition in der Vergangenheit nicht verhindern konnte, dass genau die Handlungen, die sie als Völkermord definierte, begangen wurden, dann dürften sich die rechtlichen, politischen und moralischen Auseinandersetzungen um die Einstufung der Gräueltaten in Gaza als „Völkermord“ höchstwahrscheinlich als Pyrrhussieg erweisen. Die einzigen „Abhilfemaßnahmen”, die den kapitalistischen Staaten dazu einfallen, sind Wirtschaftssanktionen oder militärische Interventionen. Wir haben gesehen, dass erstere für Staaten mit ausreichenden Ressourcen kein unlösbares Problem darstellen (sie können die Lasten immer auf die ArbeiterInnenklasse abwälzen). Und was letztere betrifft: Welche Staaten wären denn bereit, gegen eine Atommacht wie Israel, die von den USA unterstützt wird, zu intervenieren, und was wären die Folgen? Nachträgliche Gerichtsverfahren gegen diejenigen, die für die schlimmsten Gewalttaten verantwortlich gemacht werden können, sind das wahrscheinlichste Szenario (aber bis heute haben sich die USA, Russland, China, Israel, Libyen und Katar geweigert, den Vertrag zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs zu ratifizieren). Jedenfalls werden die Toten dadurch nicht wieder lebendig, noch wird verhindert, dass sich Ähnliches in anderen Kontexten wiederholt.
Warum hat sich die Völkermordkonvention als so unwirksam bei der Verhinderung von Massenmorden erwiesen? Sollte sie doch den Rahmen festlegen, was während eines Konflikts erlaubt ist und was nicht. In der imperialistischen Ära tendieren Konflikte jedoch dahin zu totalen Kriegen zu eskalieren, in denen sowohl konstantes Kapital (Produktionsmittel) als auch variables Kapital (Arbeitskraft) zu „legitimen” Zielen werden. Vor dem Hintergrund bereits bestehender ethnischer und nationaler Spannungen – die zuweilen ihre Wurzeln in tribalen Konflikten und/oder der Kolonialzeit haben – steigt die Wahrscheinlichkeit von Kriegsgräuel und die allgegenwärtige Möglichkeit, dass sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure Genozide begehen. Darüber hinaus sind imperialistische Kriege so gut wie nie Konflikte zwischen gleichstarken Kontrahenten, die den Regeln und Vorschriften des Völkerrechts folgen. Der Kapitalismus ist ein ausbeuterisches System, das sich nicht weltweit gleichmäßig entwickelt hat, sodass es imperialistische Zentren und kapitalistische Peripherien gibt. Letztere sind oft die Schlachtfelder für die Interessen der ersteren, was bedeutet, dass Konflikte oft asymmetrischer Natur sind. Es überrascht daher nicht, dass neben Palästina und je nachdem, welche internationalen Institutionen man befragt, auch im Sudan, in Nigeria, der Ukraine, Afghanistan, Syrien, Nordkorea, Myanmar, Bangladesch, Indien, China, Äthiopien und im Kongo Völkermorde begangen werden. Man könnte meinen, dass die Entwicklung der Massenmedien es einfacher denn je gemacht hätte, Kriegsverbrechen öffentlich bekannt zu machen. Der Vietnamkrieg war der erste und in gewisser Weise auch der letzte im Fernsehen übertragene Krieg, da die Staaten seitdem verschiedene Ausweichmöglichkeiten gefunden haben. Während der Kriege am Golf, in Afghanistan und im Irak wurde sog. „embedded journalism“ praktiziert, bei dem Kriegsreporter militärischen Einheiten zugeteilt wurden und Einschränkungen hinsichtlich ihrer Berichterstattung unterlagen. Heute können in Gaza nur diejenigen „eingebetteten“ JournalistInnen berichten, die vom Regime Netanjahus geduldet sind, alle anderen sind lediglich eine weitere Zielscheibe für das israelische Militär. Währenddessen werden die sozialen Medien mit allerlei Fake News überschwemmt, wobei Staaten Millionenbeträge für ihre Online-Propaganda ausgeben.
Angesichts imperialistischer Eigeninteressen, der eigentlichen Triebkraft der kapitalistischen Weltordnung, verhallen Appelle an das Völkerrecht wie ein Ruf in der Wüste. Ob man es nun „Völkermord“, „ethnische Säuberung“, „Massaker“, „Gemetzel“ oder wie auch immer nennt – nichts ändert sich an der Tatsache, dass Tod und Vertreibung stattfinden. Für InternationalistInnen sind alle imperialistischen Kriege, unabhängig davon, ob sie nun nach internationalem Recht „völkerrechtswidrig“ oder „völkerrechtskonform“ sind, ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Menschheit steht nach wir vor vor der Alternative: Entweder werden die aktuellen Konflikte erneut durch einen imperialistischen Frieden vorübergehend ausgesetzt, als Vorstufe zu noch zerstörerischen und blutigeren Kriegen in der Zukunft – oder eine Revolution der ArbeiterInnenklasse setzt all dem ein Ende und beginnt eine von kriegführenden Nationalstaaten zerrissene Welt in ein globales Gemeinwesen umzuwandeln, in dem Kriege der Vergangenheit angehören.
Der Anblick einer wehrlosen Bevölkerung, die nach und nach von einem bis an die Zähne bewaffneten Regime ohne Konsequenzen abgeschlachtet wird, hat zu Recht weltweit moralische Empörung ausgelöst. Aber der einzige Weg, den Völkermord wirklich zu beenden, besteht darin, einem System und den sozialen Verhältnissen, die ihn naturgemäß hervorbringen, ein Ende zu setzen. Als ArbeiterInnen bleiben wir angesichts dieses Abgleitens in die kapitalistische Barbarei machtlos, solange es keine wirkliche Klassenbewegung gibt, die in der Lage ist, ihre Interessen gegen die Kriegstreiber, Ausbeuter und Unterdrücker dieser Welt durchzusetzen. (CWO)
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