Die Bolschewistische Linke und die Arbeitermacht

Der folgende Text ist die deutscher Übersetzung der Einleitung des von Michel Olivier verfassten und herausgegebenen Buches „La Gauche bolshevique et la pouvoir ouvrier 1919-27.“ Es ist das erste in einer vom Collectif Smolny editierten Reihe, welche bisweilen unbekannte Texte der russischen kommunistischen Linken enthalten wird. Die Einleitung stellt gut die Stärken vor allem aber auch die Schwächen der kommunistischen Linken Russlands dar und gibt einen prägnanten Überblick über den Verlauf der Konterrevolution. Von daher halten wir den Text für einen wertvollen Beitrag zu einem unbekannten und zuweilen bewusst verdrängten Kapitel der Geschichte der Arbeiterbewegung. (GIS)

Leonard Schapiro beginnt sein Buch „The Origins of the Communist Autocracy“ mit der Feststellung: „Es ist bemerkenswert, dass die Geschichte der politischen Opposition zu Lenin soweit mir bekannt ist weder im Detail noch als Ganzes jemals geschrieben wurde (1).“ Das ist sicher richtig. Er macht sich an diese Aufgabe – aber warum hört er im Jahre 1922 auf ? Er stoppt da wo er glaubt dass die Herrschaft nach den schwerwiegenden Maßnahmen des Fraktionsverbotes auf dem 10. Parteitag der Kommunistischen Partei (März 1921) und der blutigen Neiderschlagung der Kronstädter Rebellion von keiner Opposition mehr herausgefordert werden konnte. Dies ist der herkömmliche Blick auf Geschichte als Geschichte derjenigen die die Macht erlangten und erfolgreich waren. Er schreibt weiter in seiner Schlussfolgerung:

Viele von ihnen (den bolschewistischen Führern) rebellierten wieder im Jahre 1923 (2) als sie festgestellt hatten, dass sie zur Herausbildung und Herrschaft eines zentralen Apparats der Niederlagen federführend mit beigetragen hatten. Aber da war es schon zu spät (3).

Unserer Meinung nach kann Geschichte nicht ausschließlich aus der Sicht der Gewinner geschrieben werden. Etliche Siege stellten sich als Niederlagen heraus. In der Arbeiterbewegung die eine lange Reihe von Niederlagen zu verzeichnen hatte, wurde die nach der russischen Revolution einsetzende Herausbildung eines imperialistischen Staates als Erfolg gesehen, obwohl es faktisch eine schreckliche Niederlage war. Auf der anderen Seite erweisen sich die Ideen die die Linke der bolschewistischen Partei in ihrem Kampf entwickelte trotz all ihrer damaligen Niederlagen, (Scheitern der deutschen und ungarischen Revolution, Massaker an den Arbeiter der Kronstädter Revolte) heute als sehr fruchtbar. Es ist eine Geschichte die noch geschrieben werden muss. Nicht nur über die Periode in der Lenin lebte gibt es viel Unwissenheit. Für eine große Anzahl der kommunistischen Akteure der damaligen Zeit begannen die Debatten in der russischen Partei mit der „Erklärung der 46“, die alte Bolschewiki am 15. Oktober 1923 dem Politbüro der Partei vorlegten . In diesem Dokument kritisierten sie die Wirtschaftspolitik und das interne Regime der Partei scharf:

Die Partei hat weitgehend aufgehört, jenes lebende, selbsttätige Kollektiv zu sein, das wirklich eine lebendige Wirksamkeit entfaltet und durch tausende von Fäden mit dieser Aktivität verbunden ist. Statt dessen beobachten wir eine mehr und mehr fortschreitende, kaum noch von jemandem verhehlte Teilung der Partei in die Sekretärshierachie und die Laien, in die von oben ausgewählten hauptberuflichen Funktionäre und die einfachen Parteimassen, die an ihrem Gruppenleben nicht teilnehmen (4).

Auf internationaler Ebene ist das Ausmaß an Unkenntnis bei den Mitgliedern der jeweiligen nationalen kommunistischen Parteien außergewöhnlich. Es war nicht üblich die Situation der russischen Partei in der Kommunistischen Internationale zu diskutieren. Bizarr für Internationalisten! Russische Angelegenheiten waren den Russen vorbehalten. Vor diesem Hintergrund nahm Bordiga eine enorme Herausforderung auf sich, als er sich im Februar 1926 (auf dem 6. Erweiterten Exekutivkomitee der Komintern) mit Stalin anlegte, und das Recht einforderte die russische Frage in der Internationale zu diskutieren. In dieser Sitzung wandte sich Bordiga zudem energisch gegen die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Aber die Tatsache dass dies allgemein unüblich war, erlaubt uns zu verstehen, wie einfach es für die Mitglieder der Internationale war keine Kenntnisse über die Auseinandersetzungen in der russischen Partei zu haben, als Trotzki seinen Kampf aufnahm. Da die Fraktionen und Strömungen in der russischen Partei immer noch nur einer kleinen Zahl von Beobachtern und russischen Historikern bekannt sind, wird nach wie vor alles auf die trotzkistische Opposition reduziert. Trotzki untermalte diese Interpretation indem er die „Erklärung der 46“ vom 15. Oktober als Erklärung der „1923 Opposition“ ausgab. Nichts könnte vereinfachender sein. Die „Erklärung der 46“ war unabhängig von Trotzkis Brief an das Politbüro vom 8. Oktober entstanden, auch wenn sie von vielen seiner politischen Freunde unterzeichnet worden war.

Die Mehrheit der 46 Unterzeichner waren vielmehr alte Linkskommunisten die den politischen Fraktionskampf schon 1919 in der Gruppe der „Demokratischen Zentralisten“ aufgenommen hatten. Mindestens 16 von ihnen haben nach unserem Kenntnisstand in dieser Zeit sehr oft gegen Trotzki Position bezogen.

Die Arbeit die wir hier vorlegen und vom Collectif Smolny als Buch veröffentlicht wird beschäftigt sich mit der linkskommunistischen Fraktion von 1918 und besonders den Debatten über die sozialen und ökonomischen Maßnahmen der Übergangsperiode. Mit der Veröffentlichung dieser linkskommunistischen Dokumente stellen wir wenig oder gar völlig unbekanntes Quellenmaterial über die Divergenzen und Kämpfe in der russischen Kommunistischen Partei zur Verfügung. Wir sind uns bewusst, dass unsere Arbeit unvollständig bleibt und wir hoffen, dass andere diese Lücken schließen werden. (…)

Die „Demokratischen Zentralisten“ (1919-21)

Es gibt eine offenkundige und direkte Verbindung zwischen der linkskommunistischen Fraktion von 1918 und den „Demokratischen Zentralisten“ (Dezisten) die sich im Dezember 1919 bildeten, sowohl was die Ideen als auch die Personen betrifft (5). Differenzen die während der kritischen Periode des Bürgerkrieges in den Hintergrund getreten waren, tauchten gegen Ende wieder auf. Diese Auseinandersetzungen hatten schon 1918 begonnen. Lenin hatte sich auf dem von Mai bis Juni 1918 tagenden Kongress der Wirtschaftsräte zugunsten der „Arbeitsdisziplin“, das Einmann-Management und die Einsetzung bürgerlicher Spezialisten (sog. spezy) ausgesprochen. Ossinski und Smirnow forderten jedoch mit Unterstützung vieler Bezirksdelegierter eine „Arbeiterverwaltung … nicht nur von oben, sondern von unten (6)“. Eine Unterkommission des Kongresses nahm eine Resolution an nach der zwei Drittel der Vertreter im Rat einer Unternehmensverwaltung von den Arbeitern gewählt werden sollten, was Lenin wütend machte (7). In der Plenarsitzung ließ er diese Resolution dahingehend „korrigieren“, dass nur ein Drittel der Unternehmensverwaltung gewählt werden sollte. An diesem Punkt gab es unter den linken Kommunisten eine Spaltung. Karl Radek war bereit die Einmannleitung im Gegenzug für einige Verstaatlichungsdekrete zu akzeptieren, die in seinen Augen den sozialistischen Charakter des Regimes sichern und den „Kriegskommunismus“ einleiten würden.

Die Ideen der Gruppe fanden jedoch weiterhin Anklang und führten zur Gründung der „Demokratischen Zentralisten“. Faktisch gründeten sich die „Demokratischen Zentralisten“ um Ossinski, Sapranow, Smirnow, Massimovsky, Kossior usw. entlang einer Fragestellung: Der Verteidigung der Arbeiterdemokratie gegen die wachsende Militarisierung des Regimes. Sie protestierten weiterhin gegen das Prinzip der Einmannleitung in der Industrie und traten für ein kollegiales und kollektives Prinzip als „die stärkste Waffe gegen das Wiederaufleben des engstirnigen Ressortdenkens und die bürokratische Erstarrung des Sowjetapparates.“ (Thesen über die kollegiale und die Einmannleitung) ein. Wie bereits in ihrer Zeitschrift „Kommunist“ im Jahre 1918 gestanden sie die Notwendigkeit der Einsetzung bürgerlicher Spezialisten in Industrie und Armee ein, betonten allerdings, dass diese Spezialisten unter die Kontrolle der Basis gestellt werden müssten: „Niemand bestreitet die Notwenigkeit, spezy zu verwenden – es geht darum, wie man sie verwenden will (8).“

Ebenso betonten sie wie bereits 1918 die Notwendigkeit die Arbeiterräte (Sowjets) neu zu beleben. Sie wandten sich energisch gegen das Abwürgen von Initiativen lokaler Arbeiterräte und schlugen Reformen vor, um sie als effektive Organe der Arbeiterdemokratie zu revitalisieren. Auf einer Konferenz der Kommunistischen Partei gelang es Sapranow gegen den Widerstand des offiziellen Parteisprechers Vladimirsky eine Resolution durchzusetzen, die die Zusammensetzung des zentralen Exekutivkomitees änderte, repräsentativer machte und den Exekutivkomitees lokaler Sowjets mehr Gestaltungsspielraum zusprach. Unmittelbar nach dieser Parteikonferenz fand in der Kommission des siebten Sowjetkongresses eine lange Diskussion über die von Sapranow und Vladimirsky aufgeworfenen Vorschläge statt. Es wurde eine Resolution angenommen die sich mehrheitlich für Sapranows Vorschläge aussprach. Doch letztendlich blieb diese Resolution nur ein Stück Papier.

Auf dem achten Parteikongress im März 1919 wurde die Partei mit einem Politbüro, einem Zentralkomitee und einem Organisationsbüro umorganisiert und entschieden zentralisiert, da die Politik des Kriegskommunismus die Mobilisierung aller Ressourcen erforderte. Im Dezember 1919 schlug Trotzki die „Militarisierung der Arbeit“ vor und in diesem Klima entwickelte sich der Kampf der „Demokratischen Zentralisten“.

Der neunte Parteitag vom März-April 1920 stand ganz im Zeichen der Debatten mit den „Demokratischen Zentralisten“. Die Gruppe denunzierte die autoritären und zentralistischen Maßnahmen des Zentralkomitees bei der administrativen und wirtschaftlichen Verwaltung des Staates als „bürokratischen“ und „autoritären Zentralismus“. Die „Demokratischen Zentralisten“ kritisierten ebenso die technokratische Arbeitsorganisation unter der von Lenin befürworteten Einmannleitung. Sie warfen Lenin vor, die Bedeutung des demokratischen Zentralismus verzerrt zu haben und unter dem Vorwand des Bürgerkrieges eine autoritäre Hierarchie errichtet zu haben. Der neunte Parteikongress wies dies im Namen des höher stehenden Prinzips der Parteieinheit zurück, beschloss aber eine Kontrollkommission einzurichten, die Machtmissbrauch und Bürokratismus untersuchen sollte. Auf der 9. Parteikonferenz im September 1920 kritisierten sie die Bürokratisierung der Partei und die wachsende Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen Minderheit. Die Konferenz endete mit der Verabschiedung eines Manifestes in dem „umfassende Kritik an den zentralen wie an örtlichen Parteiorganen“ gefordert wurde, und „jegliche Repression gegen Genossen, die abweichende Meinungen haben“ entschieden abgelehnt wurde (9). Dies zeigt, dass es zu dieser Zeit noch lebendige Debatten in der Partei gab, und kritische Stimmen noch Einfluss hatten. In den Jahren 1919 und 1920 kämpften die „Demokratischen Zentralisten“ für den Erhalt der Freiheit in der Kommunistischen Partei. Sie wollten nicht dass das Zentralkomitee die Partei autoritär führte, sondern stattdessen entlang einer nicht in Detail ausgeführten Linie anleite. Sie bestanden darauf, dass die Basis alle Fragen diskutieren müsse bevor wichtige Entscheidung getroffen würden, und dass Minderheiten in der Partei ausreichend repräsentiert und das Recht haben müssten ihre Positionen zu publizieren. Die Haltung die diese Militanten gegenüber den Maßnahmen des Regimes während des Bürgerkrieges einnahmen kann mit den folgenden Worten Ossinskis auf dem neunten Kongress der KPR im März 1920 zusammengefasst werden:

Genosse Lenin hat heute an diesen Ort ein äußerst originelles Verständnis des demokratischen Zentralismus an den Tag gelegt, der übrigens heute in den Augen des Genossen Lenin keine Dummheit mehr ist, wie er es noch gestern war. Genosse Lenin sagt, der ganze demokratische Zentralismus bestehe darin, dass der Parteitag das Zentralkomitee wählt und dass das Zentralkomitee dann leitet. Folglich gäbe es bei uns nur dann keinen demokratischen Zentralismus, wenn wir kein gewähltes Zentralkomitee haben, wenn es von irgendjemandem ernannt worden wäre oder sich selbst ernannt hätte, was unmöglich sei. Das heißt, in der Partei gibt es demokratischen Zentralismus, insofern es das Zentralkomitee oder insofern es die Partei gibt. Mit einer solch originellen Definition können wir nicht einverstanden sein. Nach unserer Auffassung besteht der demokratische Zentralismus - ein sehr alter Begriff, ein für jeden klarer und in unserem Statut fixierter Begriff - in der Verwirklichung der Direktiven des Zentralkomitees durch die örtlichen Organisationen, in der Eigeninitiative dieser Organisationen und in ihrer Verantwortlichkeit für spezielle Aufgabenbereiche (10).

Und weiter:

… Die Hauptlosung die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt verkünden müssen, ist die Verbindung der militärischen Arbeit, der militärischen Organisationsform und Führungsmethoden mit der schöpferischen Initiative der bewussten Arbeiter. Wenn Sie unter dem Vorwand eines militärischen Arbeitsstils in Wirklichkeit den Bürokratismus einführen, dann werden wir unsere eigenen Kräfte zersetzen und unsere Aufgabe nicht bewältigen (11).

Dieses Eintreten für die Arbeiterinitiative werden wir in dem Dokument „Vor dem Thermidor“ aus dem Jahre 1927 wieder finden. Sie war grundlegende eine durchgehende Position der linken Kommunisten. Einige aus der Gruppe der „Demokratischen Zentralisten“ beteilten sich auch an der sog. „Militärischen Opposition“ dies sich im März 1919 kurzeitig herausbildete. Die Herausforderungen des Bürgerkrieges führten zur Entwicklung einer zentralisierten Streitmacht, der Roten Armee, die sich nicht nur aus Arbeitern sondern auch aus der Bauernschaft und anderen sozialen Schichten rekrutierte. Sehr schnell begannen sich in der Armee dieselben hierarchischen Strukturen wie im Staatsapparat zu entwickeln. Die Wahl der Offiziere wurde schnell wieder als „politisch sinnlos und technisch ineffizient“ (so Trotzki in „Arbeit, Disziplin und Ordnung“, 1920) abgeschafft. Die Todesstrafe für Ungehorsam im Gefecht, das Salutieren und spezielle Formen der Anrede von Offizieren wurden ebenso wieder eingeführt, wie Rangunterschiede in den höheren Kommandostellen. Ebenso wurden ehemalige zaristische Offiziere auf hohe Kommandoposten gesetzt. Der Hauptsprecher der Opposition die sich dagegen wandte, die Rote Armee nach dem Modell einer typischen bürgerlichen Armee zu formen war Vladimir Smirnow. Sie opponierte weder gegen die Etablierung der Roten Armee als solche noch gegen die Einstellung militärischer Spezialisten, aber sie war gegen die exzessive Hierarchie und wollte sicherstellen, dass die Armee von einer allgegenwärtigen politischen Orientierung geleitet wurde, die nicht von den kommunistischen Prinzipien abwich. Die Parteiführung beschuldigte die Militärische Opposition (mit Verweis auf die Debatten über Brest Litowks) die Armee zu einer Ansammlung von Partisanengruppen auflösen zu wollen, die für eine bäuerliche Kriegsführung geeigneter sei. Faktisch verwechselte die Parteimehrheit die bürgerliche Form der hierarchischen Zentralisierung mit der für das Proletariat charakteristischen Selbstdisziplin und Zentralisierung von unten. Die Vorschläge und Forderungen der Militärischen Opposition wurden jedenfalls abgelehnt. Auch in anderen Debatten und Diskussionen meldeten sich die linken Kommunisten mit ihren charakteristischen Ideen und Positionen zu Wort.

Die „Arbeiteropposition“

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Die „Arbeiteropposition“ hatte eine ganz andere Zusammensetzung als die „Demokratischen Zentralisten“, auch wenn sich in ihren Reihen linke Kommunisten wie Alexandra Kollontai und Gabriel Mjasnikow wieder fanden. Diese politische Formation um Mjasnikow ist am schwierigsten zu charakterisieren. Dieser gehörte zu den linken Kommunisten von 1918 ging jedoch zur „Arbeiteropposition“ die sich mehrheitlich aus Arbeitern zusammensetzte, während die „Demokratischen Zentralisten“ vorrangig Mitglieder des Zentralkomitees oder leitender Parteiorgane waren. Eine beträchtliche Anzahl von Elementen die die „Arbeiteropposition“ bilden sollten kam aus einer anderen linken Strömung der bolschewistischen Partei. Vor Lenins Rückkehr nach Russland verteidigte eine Fraktion von Metallarbeitern angeführt von Schliapnikow und Kollontai die Position dass die Räte die unverzichtbaren Organe der Arbeitmacht seien gegen die bolschewistische Rechte und die Menschewiki, die den Arbeiterversammlungen nur die Rolle zusprachen, nach dem Sturz des Zarismus die Macht des Bürgertums abzusichern. Diese Haltung und Stoßrichtung die Schlapnikow und Yeremeyew in die Fabrikkomitees trugen, hatte großen Anteil an der Gründung der Roten Garden, die den Sieg der Bolschewiki im Oktober ermöglichten. Die „Arbeiteropposition“ repräsentierte maßgeblich gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und verfügte über eine Mehrheit in der Gewerkschaft der Metallarbeiter.

Gegen Ende des Bürgerkrieges brach auf dem 10. Parteikongress im März 1921 eine heftige Kontroverse in der bolschewistischen Partei aus. Vordergründig ging es dabei um die Rolle der Gewerkschaften in der Diktatur des Proletariats aber im Wesentlichen spiegelten sich in ihr tiefere Probleme bezüglich der Staatsmacht und des Verhältnisses zur Arbeiterklasse wieder. Aus taktischen Gründen fokussierte Lenin die Debatte auf die Gewerkschaftsfrage, so dass andere Themen vermieden werden konnten.

Kurz gesagt gab es in der Gewerkschaftsfrage drei Positionen in der Partei:

  1. Die von Trotzki und Bucharin und anderen, die für eine totale Integration der Gewerkschaften in den „Arbeiterstaat“ eintraten und ihre Aufgabe in der Steigerung der Arbeitsproduktivität sahen. (Hier versuchte Trotzki an Positionen anzuknüpfen die er bereits bei der Organisation der Roten Armee vertreten hatte)
  2. Die Position von Lenin, für den die Gewerkschaften als Verteidigungsorgane der Klasse auch gegen den „Arbeitersaat“ der unter „bürokratischen Deformationen“ leide handeln könnten. Dies war faktisch die Mittlerposition in der Debatte.
  3. Die Position der „Arbeiteropposition“ die für die Verwaltung der Produktion durch vom sowjetischen Staat unabhängige Industriegewerkschaften eintrat.

Faktisch war der Rahmen dieser Debatte völlig unangemessen und verbarg das wesentliche Problem: Die Lage der Arbeiterklasse und ihre eigene Macht. Die „Arbeiteropposition“ drückte in konfuser und zögernder Weise die Abneigung der Arbeiter gegen die bürokratischen und militärischen Methoden aus, die immer mehr zum Kennzeichen des Regimes wurden. Nachdem die Plage des Bürgerkrieges vorüber war, wollte die Arbeiterklasse Veränderungen. Die Führer der „Arbeiteropposition“ kamen hauptsächlich aus dem Gewerkschaftsapparat und scheinen über beträchtlichen Rückhalt bei den Metallarbeitern gehabt zu haben. So schreibt das bekannteste Mitglied der Gruppe, Alexandra Kollontai, in dem programmatischen Text „ Thesen zur Gewerkschaftsfrage“, den die Gruppe dem 10. Parteikongress vorlegte, dass

… die Arbeiteropposition aus dem Industrieproletariats Sowjetrusslands hervorgegangen ist, dass sie nicht nur auf Grund der zwangsarbeitsähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen des 7 Millionen zählenden Industrieproletariats entstanden ist, sondern auch wegen einer Reihe von Abweichungen, Schwankungen; Widersprüchen und Zeichen der direkten Abkehr unserer sowjetischen Politik von den eindeutig klaren, konsequenten Klassenpositionen des kommunistischen Programms (12).

Kollontai fährt dann fort, die entsetzlichen Wirtschaftsbedingungen hervorzuheben, denen das sowjetische Regime nach dem Bürgerkrieg gegenüberstand, und lenkte die Aufmerksamkeit auf das Wachstum einer bürokratischen Schicht, deren Ursprünge außerhalb der Arbeiterklasse lagen – in der Intelligenzija, der Bauernschaft, Überresten der alten Bourgeoise usw. Deren ausufernder Karriereismus könne nur zur Missachtung der Interessen des Proletariats führen. Für die Arbeiteropposition war der sowjetische Staat selbst kein rein proletarisches Organ, sondern eine heterogene Institution die zum Ausgleich zwischen den verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft gezwungen war. Sie bestand darauf, dass der Weg, sicherzustellen, dass die Revolution ihren ursprünglichen Zielen treu bleib, nicht darin bestehen könne, die Leitung nicht-proletarischen Technokraten und ambivalenten Staatsorganen anzuvertrauen, sondern in dem Vertrauen auf die Selbstinitiative und die schöpferische Kraft der Arbeiterklasse selbst:

Aber gerade diesen und für jeden echten Arbeiter einfachen und klaren Grundsatz lassen unsere Spitzen außer Acht. Der Kommunismus kann nur durch lebendiges Suchen, durch zeitweilige Fehler, jedenfalls aber durch die schöpferische Kraft der Arbeiterklasse selbst geschaffen werden (13).

Die große Schwäche der Arbeiteropposition war, dass sie die Diktatur des Proletariats und die der Partei als das gleiche ansah. Wie viele andere Linkskommunisten führte sie das dazu im Verlaufe des 10 Kongresses Loyalitätsbekundungen an die Partei abzugeben. Als der Aufstand in Kronstadt ausbrach, brachte die Führung der „Arbeiteropposition“ ihre Loyalität dadurch zum Ausdruck, dass sie sich freiwillig zur Front meldete (14). Das bewahrte sie jedoch nicht davor gegen Ende des Kongresses als „kleinbürgerliche anarchistische Abweichung“ und „objektiv konterrevolutionär“ verurteilt zu werden. Das auf dem 10 Parteikongress beschlossene Fraktionsverbot war ein fataler Schlag für die „Arbeiteropposition“ allerdings auch für die Partei als ganzes, auch wenn es lediglich als den besonderen Umständen geschuldete Notmaßnahme gedacht war (15). Vor die vollendete Tatsache gestellt illegal und im Geheimen zu arbeiten, war die Arbeiteropposition nicht in der Lage ihre Opposition gegen das Regime fortzusetzen. Einige ihrer Mitglieder setzten in den 20er Jahren ihren Kampf in Verbindung mit anderen illegalen Fraktionen fort, andere kapitulierten einfach. Kollontai opponierte nie wider gegen das Regime. Um sie aus Russland raus zu halten wurde sie als Diplomatin nach Norwegen geschickt. Sie endete als loyale Dienerin des stalinistischen Systems (16). Ein weiterer Grund für die Schwächen der 1921 geäußerten Kritik der „Arbeiteropposition“ am Regime war das vollkommene Fehlen einer internationalen Perspektive. Die „Demokratischen Zentralisten“ hingegen hatten eine weitaus internationalistischere Orientierung, was sie in die Lage versetzte weitere Initiativen hervorzubringen, wie wir weiter untern sehen werden.

Die klandestine Opposition

Die Tage der „Arbeiteropposition“ waren noch nicht ganz gezählt. Im Februar 1922 startete sie einen Appell an den Kongress der Komintern (der sog. „Brief der 22 Oppositionsmitglieder an die Internationale Konferenz der Kommunistischen Internationale) indem sie gegen den Ausschluss jener kritisierten die trotz Fraktionsverbot ihre Aktivitäten fortgesetzt hatten. Der Appell stieß nicht auf offene Ohren. Zwei weitere Mitglieder wurden ausgeschlossen: Mitin als „böswilliger Zersetzer“ und Kuznetsova als „außerhalb der Arbeiterklasse stehend“. Es scheint dass Mitglieder der Arbeiteropposition noch im Jahre 1924 aktiv waren. Dies kann man jedenfalls einen Brief Medwedews (17) entnehmen, der 1927 in der Zeitschrift „Bulletin Communiste“ publiziert wurde. Dieses Dokument was besagt, dass die Arbeiteropposition ihre Kritik an der Partei fortgeführt habe ist deshalb interessant, weil es im Widerspruch zur herkömmlichen Sichtweise steht, nach der die Arbeiteropposition 1922 verschwunden ist.

Trotz Rückschlägen wurde die Oppositionsarbeit von anderen illegalen linken Gruppen, wie bspw. die Gruppe „Arbeiterwahrheit“ oder der „Arbeitergruppe“ weitergeführt. Zu dieser Zeit war die Gruppe „Arbeiterwahrheit“ der „Arbeiteropposition“ sehr feindlich gesonnen. Sie betrachtete sie als „objektiv reaktionäre Gruppe“ , deren Mitglieder lediglich „Wölfe im Schafspelz“ seien. Die Arbeitergruppe die sich um ihr bekanntestes Mitglied Mjasnikow bildete, wurde zu einer der produktivsten Oppositionsgruppen unter den Bedingungen der Diktatur.

Die Krise der Partei, Kronstadt und das Ende der revolutionären Episode in Russland

Anfang des Jahres 1921 tauchten die während des Bürgerkrieges im Schach gehaltenen Widersprüche des Regimes wieder auf. Im September 1920 kam es zu Bauernaufständen die sich schnell ausbreiteten und an Intensität zunahmen. Im Februar 1921 zählte die Tscheka allein 118 Aufstände. Der gewalttätigste brach in der Provinz Tambow aus. An dieser Revolte beteiligten sich allein 50 000 Aufständische. In den Städten war die Lage nicht besser. Die Industrieproduktion war auf ein Fünftel des Niveaus von 1913 eingebrochen. Die Städte litten an Nahrungsmangel. Die prekären Lebendbedingungen zwangen zahlreiche Menschen weder aufs Land zurückzukehren. Die Bevölkerungszahl von Petrograd fiel von 2 Millionen im Jahr 1917 auf 750 000 im Jahr 1920 zurück. Die Zahl der Industriearbeiter hatte sich halbiert. In diesem Kontext entwickelte sich die Revolte von Kronstadt. Sie war ein unbezweifelbares Drama für die Revolution und die Arbeiterbewegung. Viele Bolschewisten hatten hinterher lange Zeit ein schlechtes Gewissen. So sagte Bucharin auf dem Dritten Kongress der Komintern:

Wer sagt Kronstadt sei weiß geworden? Nein. Wir wurden gezwungen die Revolte unserer irregeleiteten Brüder wegen unserer Ideen, wegen unserer Aufgabe niederzuschlagen. Wir können die Matrosen von Kronstadt nicht als unsere Feinde betrachten. Wir lieben sie wie unsere Brüder, wie unser Fleisch und Blut (18).

Der 10. Parteikongress fand in dieser Atmosphäre statt und offenbarte eine gespaltene Partei in einer ernsthaften Krise. Lenin stellte in der Debatte fest dass es nicht zuletzt acht Plattformen gäbe die zur Eröffnung des Kongresses auf drei zusammenschmolzen. Diese extreme Spaltung veranlasste ihn den Artikel „Die Krise der Partei“ zu verfassen. Wie wir schon gesehen haben hörte die Parteikrise trotz der bürokratischen Maßnahmen wie dem Fraktionsverbot nicht auf. Nichts konnte dieses Problem lösen - am wenigsten administrative Maßnahmen. Die Krankheit die Lenin in der allgemeinen Krise des Regimes verortete, führte zur internen Krise der Partei im allgemeinen und ihrem Verhältnis zum Staat und den Massen im besonderen. Es war kein Zufall dass sich die Krise an der Gewerkschaftsfrage entzündete, da hier die Widersprüche zwischen der Staatsmacht und der Arbeiterklasse am deutlichsten zutage traten.

Lenin brachte das Problem auf den Punkt als er sagte:

Die wirklichen Differenzen liegen, ich wiederhole es, nicht da, wo sie Genosse Trotzki sieht, sondern in der Frage des Herangehens an die Massen und der Verbindung mit ihnen (19).

Durch das Fraktionsverbot konnte das Problem jedoch nicht gelöst werden. 1923 kam es zur gleichen Auseinandersetzung als die alten Bolschewiki die „Die Erklärung der 46“ vorlegten. Die Krise hatte sich nur auf ein höheres Niveau verschoben, da die Führungsgruppe jetzt gespalten und Stalin in Begriff war die Macht zu übernehmen. Das erste Mal machten die linkkommunistischen Strömungen gemeinsame Sache mit Trotzkis Opposition bevor sie sich mit ihr überwarfen und radikaler wurden. Die „Demokratischen Zentralisten“ waren Teil der 1926 gegründeten Vereinigten Opposition“ (Trotzki, Sinowjew, Kamenew) aber es stellte sich sehr schnell heraus, dass ihre früheren Vorbehalte berechtigt waren. Die bolschewistische Partei war zu einer Partei der Bürokratie geworden und es musste eine neue Organisation aufgebaut werden. Daher brachen sie mit der Vereinigten Opposition“ als die sog „Friedenserklärung“ von sechs Mitgliedern des Zentralkomitees unterzeichnet worden war. (Die Unterschriften kamen von Trotzki, Kamenew, Sinowjew, Sokolonikow, Piatakow und Edokimow) Sie sahen in drin eine Kapitulationserklärung der Opposition. 1926 gründeten hauptsächlich alte „Demokratische Zentralisten“ ( des öfteren als Dezisten bezeichnet) die „Gruppe der 15“. Mjasnikow berichtet darüber:

Genosse Sapranow (der frühre Dezist) überarbeitete in den Jahren 1926-7 die Plattform der Dezisten. Es entstand eine vollkommen neue Plattform einer neuen Gruppe, die mit Ausnahme der Person Sapranow als Sprecher nichts mit den Dezisten der Vergangenheit zu tun hatte. Die „Gruppe der 15“ bekam ihren Namen durch die fünfzehn Genossen die ihre Plattform unterschrieben hatten. In ihren wichtigsten Punkten, dem Charakter der UdSSR und ihren Idee eines Arbeiterstaates kam sie den Ideen der Arbeitergruppe sehr nah.

Zu dieser Zeit kam es zwischen den beiden Gruppen zu einer politischen Annährung. Im August 1928 wurde auf der Moskauer Konferenz der „Arbeitergruppe“ beschlossen,

einen Aufruf an die `Gruppe der 15` und die Überlebenden der Arbeiteropposition zu richten, um sie einzuladen sich auf dem gemeinsamen Programm der Oktoberrevolution zusammenzuschließen.

Mjasnikow fährt fort:

Auf demselben Treffen wurde der Vorschlag für ein Statut einer Kommunistischen Arbeiterpartei der UdSSR vorgestellt. Da es sehr kurzfristig vorgelegt wurde, wurde es nur als Vorschlag eines Einzelmitgliedes des Zentralen Büros angesehen. In ihrem Aufruf erwähnte die Arbeitergruppe diesen Vorschlag als Diskussionsvorlage, der erst endgültig angenommen werden könnte, wenn die beiden Gruppen in der Lage wären die Russische Kommunistische Arbeiterpartei zu gründen. Gegen Ende wurde eine Resolution angenommen, nach der sich das Zentrale Büro der Arbeitergruppe als zentrales Organisationsbüro der Kommunistischen Arbeiterpartei der UdSSR konstituieren sollte. Nahezu alle Mitglieder der „Gruppe der 15“ waren zu dieser Zeit in der Verbannung oder im Exil. Von daher kam die Organisation einer Vollversammlung nicht infrage. Allerdings nahm an dem Treffen auch ein Mitglied dieser Gruppe mit einem vollen Mandat teil (20).

In Gefängnissen und Lagern (1933-1937)

Ante Ciliga (21) schildert wie diese Gruppe sich auf eine neuen Grundlage gründete (dem „Manifest der 15“ bzw. „Vor dem Thermidor“) und zunehmend Mitglieder aus der Fraktion der „unversöhnlichen Bolschewik-Leninisten“ (der linkeren Trotzkisten) gewann und schließlich eine Mehrheit im Gefängnis von Workuta erlangte. Aber es war die politisch weitaus klarere „Arbeitergruppe“, mit ihrer Orientierung auf die Arbeiterklasse die diese Umgruppierung ermöglichte. „Die Mjasnikow -Gruppe, die Dezisten und einige alte Trotzkisten alles im allem 25 Personen gründeten die Föderation linker Kommunisten.“

Plattform der Fünfzehn

Vom „Demokratischen Zentralismus“ zur radikalen Kritik der Sowjetmacht.

Das Dokument „Plattform der Linken Opposition“ auch unter dem Titel „Plattform der Fünfzehn“ oder „Vor dem Thermidor“ bekannt, wurde das erstmal auf französischer Sprache im November 1927 in „Reveil Communiste“, der Zeitschrift der „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“ veröffentlicht. Die „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“ waren eine Abspaltung der Fraktion der italienischen Kommunistischen Linken, die sich in der Frage der Bildung einer Fraktion der Kommunistischen internationale und der Einschätzung der Sowjetunion getrennt hatten. Sie wollten nicht auf eine eventuelle Reintegration in die Kommunistische Internationale warten. Ihnen zufolge war „ die Diktatur des Proletariats im Land der größten proletarischen Revolution keine Realität mehr.“ In ihrer Einleitung zur „Plattform der 15“ schrieben die „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“:

Das kommunistische Denken war an das Dogma von Einheit und Disziplin gebunden. Deshalb konnten erst durch die Degeneration der Dritten Internationale und die spätere Unentschlossenheit die Grundlagen für den unerbittlich voranschreitenden Thermidor gelegt werden.

Vor diesem Hintergrund waren die „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“ den Ideen und Konzeptionen der „Plattform der 15“, die im Juni 1927 dem Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands vorgelegt worden war, sehr aufgeschlossen. Natürlich war die Plattform vom Zentralkomitee KPR sofort abgelehnt und für illegal erklärt worden.

Zwei Monate vor ihrem Erscheinen in französischer Sprache war sie bereits in Deutschland von „ aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkämpfern“ veröffentlicht worden. Hierbei handelte es sich um die Gruppe von Karl Korsch (22) um die Zeitschrift „Kommunistische Politik“, mit der die „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“ enge Verbindungen unterhielten. Die Übersetzung aus dem Russischen war von Korschs Frau Hedda geleistet worden.

Die Schrift „Vor dem Thermidor“ hat ein großes politisches Gewicht. Sie enthält eine radikale Kritik am Sowjetregime der 20er Jahre, von er wir einige Punkte hervorheben wollen, um ihre unschätzbare Bedeutung für die Arbeiterbewegung zu unterstreichen:

1) Was sind die wirklichen Klassenverhältnisse in Russland?

Das allgemein Resultat der Veränderung der Klassenverhältnisse während der NEP war die Entstehung und Entwicklung einer in erster Linie parasitären Bourgeoisie die sich auf den Gebiet des Handels, der Spekulation, der Wucherei und selbst Teilen der Produktion ausbreitete.

2) Die Notwendigkeit der Arbeiterdemokratie

Das Themen der linken Kommunisten in der Bolschewistischen Partei wurden wieder aufgegriffen und auf Arbeiterdemokratie und Arbeiterräte insistiert:

Es ist notwendig die Methoden der Arbeiterdemokratie kontinuierlich wiedereinzuführen, die während der drei Jahre des Bürgerkrieges starken Beschränkungen unterlagen. Vor allem ist es notwendig die Wählbarkeit aller Vertreter in den Organisation wieder einzuführen.

Die Verteidigung der Arbeiter wurde als besonders wichtiger Punkt hervorgehoben, damit sie und nur sie die Diktatur der Klasse ausüben. Von diesem Hintergrund wurde an die Beschlüsse des 11. Parteitages erinnert:

Die Legalisierung von Streiks in Staatsbetrieben mit der folgenden Einschränkung: Die Anwendung des Kampfmittels des Streiks in einem proletarischen Staat kann letztendlich nur durch bürokratische Korruption und andere Überbleibsel der kapitalistischen Vergangenheit gerechtfertigt werden.

4) Wie kann die Arbeitermacht ausgeübt werden?

Dieser Textabschnitt beginnt mit dem Verweis auf Lenins Position: Um die Ausbeutung zu Überwinden dürfen die Organe des Staates, nicht wie die Staatsorgane aller Staaten von „Dienern der Gesellschaft“ zu „Herrschern der Gesellschaft“ werden. Der Staat darf kein „Beamtenstaat“ sein, sondern nur „ ein „Staat bewaffneter Arbeiter(Staat und Revolution) (23).“ In diesem Sinne wird gefordert, dass Funktionsträger erstens „nicht nur wählbar sondern auch abwählbar“ sein müssten, und zweitens „nicht über den Arbeiter stehen“ dürften. Als grundlegende Maßnahmen zur Wiederbelebung der Arbeiterräte werden folgende Vorschläge gemacht:

1. Die Erneuerung der Sowjets als wirkliche Organe der proletarischen Diktatur erfordert, dass sie bedingungslos den Arbeitern und armen Bauern vorbehalten bleiben. Nicht arbeitende Elemente der Bourgeoisie und der Kulaken dürfen nicht an den Sowjetwahlen teilnehmen.
2. Die Autonomie der städtischen Sowjets muss als grundlegendes Element der Diktatur des Proletariats besonders in den industriellen Zentren wieder hergestellt werden.
3. Das Recht der Abwahl von Delegierten durch die Wähler muss genauso wieder hergestellt werden wie die Möglichkeit zur Wiederwahl. Die Freiheit der Kritik aller Sowjetorgane und ihrer Führer muss in der Arbeiterpresse, der Partei und den Versammlungen garantiert sein.

Die Kritik des internen Regimes der Partei und der Politik der Komintern fällt in diesem Dokument weitaus schärfer aus als bei anderen oppositionellen Fraktionen. So wurde z.B. festgestellt, dass die Politik des „Anglo-Russischen Komitees“ (24) auf einen „Verrat an den englischen Arbeitern hinausläuft“ und eine „interne Absprache der Führer der englischen Gewerkschaften mit den der russischen Gewerkschaften einen solchen Verrat nicht abwenden werden.“

Es hätte zu dieser Zeit keine energischere und kategorische Kritik an der Politik der Komintern geben können. Dieselbe Kritik wurde bezüglich der Politik der Komintern in China entwickelt. Das Dokument endet mit der Anklage, dass die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ auf eine „Übernahme nationalistischer Positionen und die Idealisierung der NEP“ hinauslaufe und im Gegensatz zur Politik Lenins stehe. Wenn man dieses Dokument liest und sich die Kritik an der Politik des Sowjetregimes vergegenwärtigt, ist es jedoch erstaunlich, dass die Schlussfolgerung unklar bleibt und auf keinen klaren Bruch mit dem Regime hinausläuft. So beginnt der letzte Abschnitt mit dem Satz: „Wir sind nicht der Auffassung dass die Partei vollständig degeneriert ist“. Dies steht im Widerspruch zum ganzen Inhalt des Papiers. Aber es ist durchaus nachvollziehbar, dass sich diese Oppositionellen an einem Punkt befanden, wo sie ihre Kritik noch nicht zu der logischen Schlussfolgerung führten, dass das Regime kein proletarisches mehr war, dass der Staat ein bürgerlicher und der Zeitpunkt des Thermidors schon lange überschritten war.

Michel Olivier

(1) Schapiro, Leonard: The Orgins of Communist Autocracy, Cambridge, Mass, 1955.

(2) Gemeint ist die „Erklärung der 46“.

(3) Ebenda, Seite 334.

(4) Zit. nach Daniels, R.V.: Das Gewissen der Revolution – Kommunistische Opposition in Sowjetrussland, Köln 1962, Seite 259.

(5) Dezist war die gebräuchliche Abkürzung für die Demokratischen Zentralisten“. Das Moskauer „Center for Education and Research“ hat eine umfangreiche Sammlung der Dokumente und Materialien der Dezisten erstellt.

(6) Zit. nach Daniels: Das Gewissen der Revolution, Seite 112.

(7) Siehe dazu: Socialisme ou Barbarie Nr. 35 (März 1964), Seite 107.

(8) Zit. nach Daniels, Seite 137

(9) Ebenda Seite 146.

(10) Ossinski: Zur Frage der „Militarisierung der Wirtschaft“ (IX Parteitag,1920), in Kool, Oberländer(Hrsg.):Dokumente der Weltrevolution Bd. 2, Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Seite 151.

(11) Ebenda, Seite 154

(12) Alexandra Kollontai: Die Arbeiteropposition, in Kool/Oberländer, Seite 186.

(13) Ebenda Seite 223.

(14) Einzig Mjasnikow weigerte sich am Angriff auf Kronstadt teilzunehmen

(15) Karl Radek erklärte auf dem Parteitag: „In solch einem Augenblick – ganz gleich, gegen wen sich das Schwert richten mag –, in solch einem Augenblick ist es notwendig, diese Entschließung anzunehmen und zu sagen: Lasst das Zentralkomitee im Augenblick der Gefahr die strengsten Maßnahmen gegen die besten genossen treffen, wenn es das für notwendig hält. Worauf es ankommt, ist ein klare Linie des Zentralkomitees. Das beste Zentralkomitee kann einen Fehler machen, aber das ist nicht so gefährlich wie das Schwanken, das wir jetzt sehen.“ Zit. nach Daniels, Seite 182.

(16) Kollontai starb im März 1952, genau ein Jahr vor Stalin.

(17) Sergej Medwedew (1885-1937) trat 1900 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) bei und wurde 1903 Bolschewik. Er war Mitglied der All-Russischen Metallarbeitergewerkschaft. Er wurde 1933 aus der Partei ausgeschlossen und am 10 September 1937 hingerichtet.

(18) Siehe dazu P.Avrich: The Kornstadt Tragedy, Seite 132.

(19) Lenin: Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler des Genossen Trotzki, in Ausgewählte Werke Bd.VI, Seite 54.

(20) Die „Plattform der 15“ vom Juni 1927 wurde in Frankreich von den „Gruppen der kommunistischen Avantgarde“ unter dem Titel „Vor dem Thermidor“ veröffentlicht. Sie wurde von Korschs Frau Hedda ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel „Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Sowjetrussland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei“ publiziert.

(21) Ante Ciliga war ein oppositioneller Kommunist. Seine Erlebnisse in der Sowjetunion schilderte er in dem Buch „Im Land der verwirrenden Lüge“.

(22) Karl Korsch (1886-1961) Beteiligte sich 1918 an den Arbeiterräten in Deutschland. Er wurde ein bekanntes Mitglied der USPD und begrüßte die Gründung der VKPD(Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands) Zur gleichen Zeit als Georg Lukasc „Geschichte und Klassenbewusstsein“ schrieb verfasste er „Marxismus und Philosophie“ Er war einen Monat Justizminister in der Einheitsfrontregierung von Thüringen und danach Reichtagsabgeordneter und Herausgeber der theoretischen Zeitschrift der KPD „Die Internationale“. Er kam auf dem Fünften Kominternkongress mit Sapranow und Schljapnikow sowie mit Amadeo Bordiga in Kontakt und ging in Opposition zur Komintern. 1925 publizierte er die Zeitschrift „Kommunistische Politik“. Er wurde 1926 aus der KPD ausgeschlossen. Im Herbst 1933 floh er aus Deutschland, verweilte einige Zeit bei seinem Freund Brecht in Dänemark, um dann in die USA überzusiedeln.

(23) Lenin in „Staat und Revolution“.

(24) Eine formale Vereinbarung der russischen Gewerkschaften mit dem britischen TUC. Es diente eher dazu, dass sich die Führung des TUC ein linkes Image zulegte.