Der Genozid an den Armeniern und die deutsche Beteiligung

„Wer redet heute noch von der Ausrottung der Armenier?“, fragte Hitler wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen in einer Besprechung, in der er u. a. ein hartes Vorgehen der SS-Totenkopfverbände gegen die Zivilbevölkerung ankündigte. Ein bemerkenswertes Zitat, welches zeigt, dass der armenische Genozid schon damals weitgehend bekannt war, und fanatischen Nationalisten wie Hitler auch als Vorbild diente. Gleichwohl werden die Ereignisse vor 95 Jahren zuweilen geleugnet, zumindest aber äußerst kontrovers diskutiert. Die historischen Fakten zu diesem Thema werden in der Türkei nach wie vor geleugnet, die Geschichtsbücher blieben gefälscht und wer z.B. als Journalist den Genozid auch nur erwähnt, ist schweren Repressalien ausgesetzt. Sehr oft kommt dies auch nicht vor, denn die liberale Presse untermauert tagtäglich die Geschichtsleugnung.

In Deutschland hingegen wird nicht der Genozid an den Armeniern an sich geleugnet, sondern es wird vor allem die Rolle deutscher Militärs - aus gutem Grund wie wir sehen werden - weitestgehend verschwiegen. Allgemein herrscht hier die Tendenz vor, den Genozid an den Armeniern wie auch den Holocaust als bedauerliche Episode der Geschichte abzutun.

Die populärste Grundlage für diese Umgehung von Tatsachen hat Stephane Courtois durch seine bewusst „wahllose“ Aneinanderreihung menschlichen Leids bereits in der Einleitung zu seinem „Schwarzbuch des Kommunismus“ geliefert:

„Das Osmanische Reich hat sich zum Genozid an den Armeniern hinreißen lassen und Deutschland zu dem an Juden, Roma und Sinti. Das Italien Mussolinis massakrierte die Äthiopier. Den Tschechen fällt es schwer zuzugeben, dass ihr Verhalten gegenüber den Sudetendeutschen in den Jahren 1945/46 nicht über jeden Verdacht erhaben war…“

Anstatt die Verbindung zwischen Juden und Armeniern zu erklären oder gar die deutsche Beteiligung am Genozid auszusprechen kann auf dieser Basis bestens die Gleichsetzung „aller Menschheitskatastrophen“ weiter propagiert werden.

Deutschland und der Völkermord von 1915

Im Januar 1916 gab es eine Anfrage von Karl Liebknecht an den deutschen Reichstag danach, dass „im verbündeten Türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnungen vertrieben und niedergemacht worden ist“ und er nach den Konsequenzen fragte.

Die Antwort des Dirigenten der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt und kaiserlichen Gesandten Dr. von Stumm:

„Dem Reichkanzler ist bekannt, dass die Pforte vor einiger Zeit durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebiete des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.“

Im Ersten Weltkrieg waren die Türkei und Deutschland Verbündete. Zur Zeit des Genozids hielten sich viele Deutsche in der Türkei auf und wurden Augenzeugen oder Zeugen von Aussagen. Sie wurden auch zu Tätern. Hier nur einige Beispiele. Die Deportationspläne für die Armenier stammten von Colmar Feiherr von der Goltz, der seit 1883 als Militärausbilder und Organisator im Osmanischen Reich tätig war, wo er als türkischer Feldmarschall nur „Golz-Pascha“ hieß.

Der deutsche Publizist Paul Rohrbach hat schon 1913 eine Deportation der Armenier vorgeschlagen um die „armenische Frage“ zu lösen.

1913 kamen unter dem General Liman etwas 800 deutsche Offiziere nach Istanbul, um den späteren Bündnispartner militärisch aufzurüsten. Einige der Offiziere nahmen an der Planung und Durchführungen der Deportationen teil.

Der deutsche General Fritz Bronsart von Schellendorf, der Chef des Generalstabs des osmanischen Feldheeres in Istanbul war, rechtfertigte noch nach dem Krieg sein verbrecherisches Vorgehen gegen die Armenier und schrieb 1919:

„Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte. (1)

Die Jungtürken

Die jungtürkische Revolution von 1908 führte zur Absetzung von Abdülhamit II und schränkte die Rechte des Sultanats stark ein, ohne dieses grundsätzlich abzuschaffen. Unter Abdülhamit hatte die armenische Bevölkerung die schlimmsten Pogrome erfahren. Zwischen 1894 und 1986 wurden dabei Tausende Armenier ermordet. Zu diesem Zeitpunkt bestand das osmanische Reich weitgehend aus Bauern und einer riesigen Armee von Soldaten. Das Proletariat war äußerst klein, kam aber durch die Revolution zu seinen ersten bedeutenden Streiks. Die „Revolution“ wurde jedoch hauptsächlich von Offiziersgruppen getragen. Politisch war das in den 90er-Jahren gegründete „Komitee für Einheit und Fortschritt“ ITC (Itihat ve Terakki Cemiyet) daran beteiligt. Die Unzufriedenheit und Opposition der Jungtürken gegenüber Abdülhamit speiste sich vor allem aus militärischen Niederlagen, Gebietsverlusten, vor allem auf dem Balkan aber auch gegenüber Russland. Das Osmanische Reich hatte bereits 1875 seinen Staatsbankrott erklärt. Der russisch-türkische Krieg 1877/78 führte zu Gebietsverlusten in Armenien und auf dem Balkan. Mit dem Zerfall des Reiches und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch wuchs auch die Abhängigkeit vom Ausland, vor allem Deutschland. Im Januar setzten sich die ITC gegenüber anderen Oppositionsparteien durch und errang im Zuge schwerer Niederlagen im Balkankrieg durch einen Staatstreich die alleinige Macht. Talaat wurde Innenminister, Enver Kriegsminister und Cemal Marineminister. Diese drei bildeten ein Triumvirat und bleiben bis 1918 an der Spitze des Staates. Der Eintritt in den Weltkrieg auf der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns wurde durch das Triumvirat praktisch herbeiprovoziert, da die Basis ihrer Herrschaft in der Bevölkerung, die ohnehin kaum gegeben war, auch in Folge von Hungersnöten weiter wegschmolz. Die christliche Bevölkerung des Osmanischen Reiches hatte sowieso nichts zu erwarten, außer Verfolgungen und Massakern. Ihre anfänglichen Hoffnungen in die Jungtürkische Revolution zerschlugen sich schnell mit den Pogromen, die bereits lange vor 1915 wüteten. Der Pantürkismus setzte sich innerhalb der ITC immer weiter gegenüber dem traditionellen Osmanismus durch, der den Islam als herrschende Religion im Osmanischen Reich ansah, während andere Religionen bestimmten Repressalien wie beispielsweise einer Sondersteuer ausgesetzt waren. Nicht-Moslems durften bis kurz vor dem Völkermord 1915 nicht in den Militärdienst und wurden aus relevanten Schlüsselpositionen des Staatsapparates ferngehalten. Damit blieben sie weitgehend isoliert und sofern sie sich nicht zum Selbstschutz bewaffnet hatten und organisierten, waren sie Pogromen schutzlos ausgesetzt.

Der Pantürkismus unterschied sich vom Osmanismus dahingehend, dass er die Vormachtstellung des Islam mit dem der Nation verband. Das Übel allen Elends und der Niederlage sollte bei den Christen gesucht werden, bei den Griechen, Armeniern oder Aramäern. Das „Türkentum“ sollte sich verewigen bis ins ferne China. Enver äußerte sich im Juli 1915 gegenüber dem Vorsitzenden der deutschen Orientmission, Dr. Lepsius:

„Bedenken Sie, das Volk der Türken zählt 40 Millionen. Wenn sie erst einmal in einem Reich zusammengefasst sind, so werden wir in Asien dieselbe Bedeutung haben wie Deutschland in Europa (2).“

Damals lebten im Osmanischen Reich etwa 9 Millionen Türken. Um dieses Reich zusammenzufassen sollten die Armenier „ausgerottet“ werden, denn sie stellten für dieses nationalistische Expansionsprojekt ein strategisches Hindernis da. Zwar waren Pogrome gegen Christen im Osmanischen Reich keine Seltenheit, doch das Jahr 1915 übertraf alles bisher da Gewesene: Bereits 1914 wurden in Westanatolien zunächst Pogrome hauptsächlich gegen Griechen verübt, die weitgehend von den dem Kriegsministerium unterstellten Sondereinheiten der Teskalit i Mahsusa durchgeführt wurden. Bis 1916 wurden ca.500 000 Menschen allein in diesem Gebiet ermordet, weitere Tausend vertrieben. Der „Erfolg“ in Westanatolien ermunterte die Mörder der herrschenden Klasse, nun auch einen Völkermord an den Armeniern durchzuführen. Der Eintritt in den Weltkrieg bedeutete, dass man „in Ruhe“ Menschen umbringen konnte. Schließlich musste auf niemanden Rücksicht genommen werden und alle konnten als Kriegsopfer hingestellt werden.

Zunächst befahl Enver Pasa am 25. Februar 1915 armenische Soldaten zu entwaffnen, die in Arbeitsbataillonen zusammengefasst wurden. In diesen Arbeitsbataillonen kamen viele um oder wurden reihenweise erschossen. Am 24 April wurden 600 armenische Intellektuelle aus Istanbul deportiert und umgebracht. Nun konnte die eigentliche „Deportation“ beginnen. Zunächst wurden meist die Männer aus den Ortschaften abgeführt, danach kamen Frauen und Kinder. Es durfte in der Regel nichts mitgenommen werden. Sie wurden in langen Trecks zusammengefasst und auf einen langen Marsch geschickt, an dessen Ende fast immer der Tod wartete. Türken, Kurden, Tscherkessen, die den langen Trecks begegneten, griffen diese an, vergewaltigten und töteten. Andere versuchten zu helfen, worauf die Todesstrafe angewendet werden konnte. Die Trecks endeten in der syrischen oder irakischen Wüste, wo Krankheiten, Hunger und Durst die Menschen vernichteten.

„In der Kemachschlucht, nahe der Stadt Erzurum wo der Euphrat tief in die Berglandschaft schneidet, wurden die Männer in Fünfergruppen zusammengebunden und hinunter gestoßen. Im Frühling trugen Schmelzwasser die Leichen in die Ebene, wo sie die Beute der elenden, immer hungrigen Dorfköter wurden. In Trabzent (Trabzon) deportierte man nur einen Teil der Armenier. Den Rest ertränkte man, zusammen mit einigen Griechen. Sie wurden auf Boote verladen und auf Meer verschleppt. Dort wurden die Boote einfach versenkt. Landbesitz, Tiere, Häuser, Läden und alle hinterlassenen Güter gingen in den Besitz der muselmanischen Nachbarn und der Beamten über (3).“

Die Zahl der Opfer des Genozids liegt möglicherweise bei 1,5 vielleicht sogar 2 Millionen Menschen. Die Mörder kamen bei den Prozessen in Istanbul unmittelbar nach dem Weltkrieg weitgehend davon. Die Prozesse wurden „auf Druck“ der Briten geführt.

Auch in diesem Zusammenhang zeichnete sich Deutschland dadurch aus, dass es gesuchte Mörder aufnahm. Z.B. Talaat Pasa, der 1921 als angesehener Bürger in Berlin lebte. Später wurde er dann von dem armenischen Studenten Salomon Teilirian erschossen, dessen Familie Opfer des Genozids war.

Kemalistische Mythen und imperialistische Interessen

Doch auch die Entente-Mächte hatten kein wirkliches Interesse, den Genozid aufzuklären. Den britischen Imperialisten ging es lediglich darum, möglichst viel vom Kuchen des zusammenbrechenden Osmanischen Reiches abzubekommen. Dafür benötigten sie eine Legitimation. Ähnlich verhielt es sich bei den anderen imperialistischen Staaten. Ihre imperialistischen Interessen erleichterten den türkischen Machthabern den Genozid. Spätestens nach Ausrufung der türkischen Republik 1923 war vom Völkermord keine Rede mehr. Die Siegermächte waren eher an einer starken Türkei interessiert, als „Bollwerk gegen den Kommunismus“. Doch der „Befreiungskampf“ nach dem Weltkrieg gegen die Besatzungsmächte unter Führung Atatürks stützte sich zu einem bedeutenden Teil gerade auf Einheiten der Teskilat-i Mahusa, die den Völkermord maßgeblich mitorganisierten. Atatürk selbst sorgte für deren Freilassung aus den Gefängnissen (sofern sie überhaupt inhaftiert waren) und viele, die sich armenisches Hab und Gut angeeigneten, hatten Angst davor, Überlebende könnten zurückkommen. Deshalb unterstützten sie sie umso vehementer Atatürk und den „Befreiungskampf“. Die türkische herrschende Klasse reagiert äußerst empfindlich auf Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Völkermord, denn ihre Herrschaft beruht gerade auf dem Mythos des „Befreiungskampfes“. Den Völkermord zu thematisieren heißt Atatürk und seine Republik, die auf der Vertreibung und Vernichtung anderer Volksgruppen beruht, in Frage zu stellen und den Kemalismus, der in weiten Teilen der türkischen Linken vorherrscht zu bekämpfen. Wie erwähnt kennt die türkische Geschichtsschreibung keinen Völkermord an den Armeniern. Türkische Schriftsteller und Publizisten haben in ihrer übergroßen Mehrheit verschiedene „Argumentationsstränge“ entwickelt. Ein gängiges Argument läuft darauf hinaus, dass Krieg gewesen sei und es daher auf beiden Seiten Tote gegeben habe. Andere behaupten, die Armenier seien deportiert worden, weil sie im Ersten Weltkrieg mit Russland kollaboriert hätten. Wiederum andere rechnen aus, wie viele Türken an den verschiedenen Fronten ums Leben gekommen sind und vergleichen die Zahlen. Die weitestgehende Legende macht die Opfer zu Tätern.

Auch in der in den letzten Jahren auf diplomatischer Ebene in Gang gekommenen Debatte über den armenischen Genozid geht es weniger um Aufklärung sondern um politische Geländegewinne untereinander konkurrierender Nationalstaaten. In diesem zynischen Machtspiel versuchen die Vertreter der herrschenden Klassen die Ereignisse vor 95 Jahren im Sinne ihrer eigenen imperialistischen Interessen zu interpretieren und auszuschlachten. Der armenische Genozid war die Folge eines nationalistischen Expansionsdrangs wie er für das Zeitalter des Imperialismus typisch ist. Erst wenn die Herrschaft des Imperialismus weltweit durchbrochen, die Diktatur des Kapitals endgültig aufgehoben ist, wird den Opfern dieses Massenordes Recht und Gerechtigkeit widerfahren sein.

(1) Alsan, F., Bozay K. u.a.: Die Grauen Wölfe heulen wieder, Münster 1997, Seite 30.

(2) Seidel-Pielen, Eberhard: Unsere Türken, Berlin 1995, Seite 51.

(3) Aslan, F., Bozay K. u.a.: Die Grauen Wölfe heulen wieder, Münster 1997, Seite 32.