SchülerInnen- und StudentInnenkämpfe in Chile

In Chile nimmt die Mobilisierung von ArbeiterInnen und StudentInnen sowohl in Zahlen als auch an Entschlossenheit zu. In den letzten Tagen sind 600 000 Menschen in der Hauptstadt Santiago auf die Straßen gegangen. In allen anderen größeren Städten demonstrierten Tausende.

Der Kampf richtet sich gegen die Privatisierung des Bildungssystems, die vor allem proletarische Familien und die Beschäftigten des Bildungssektors betrifft. Die Mobilisierung hat sich mittlerweile mit dem Kampf für eine bessere Gesundheitsversorgung und gegen die Kürzungen von Dienstleistungen verknüpft.

Während des zweitägigen Generalstreiks vom 24. bis 25. August ging die Regierung mit eiserner Faust gegen die Proteste vor. Ein massives Polizeiaufgebot und Spezialeinheiten wurden auf die Straße geschickt um den Protest mit Wasserwerfern und Tränengas zu ersticken. Über 1400 Menschen wurden festgenommen oder verhaftet. Mehrere Dutzend wurden verletzt, einige davon schwer. Ein junger Demonstrant, der 14jährige Gutiérrez Reinoso, wurde brutal von der Polizei ermordet. Er wurde von einem großen Polizeikaliber in die Brust getroffen. Ein anderer Jugendlicher, der 18jährige Mario Parrguez Pinto, wurde ins Auge getroffen und liegt noch immer im Krankenhaus von Santiago. In den Nächten nach den Demos kam es zu heftigen Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Barrikaden wurden gebaut, Autos angezündet und Geschäfte geplündert. Beim Versuch des Sturms auf eine Polizeiwache kam es auf beiden Seiten zu Dutzenden Verletzten. Die Lage vor Ort ist nun sehr angespannt.

Die Stoßrichtung der Proteste geht nun über die reformistische Orientierung der Oppositionsparteien und der Führung der Bewegung um die charismatische Camila Vallejo hinaus, die Sprecherin der FECH (Chilenischer Studierendenverband) und Mitglied der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ist. In ihrem gegenwärtigen Stadium zeichnet sich die Bewegung durch seit Monaten anhaltende sporadische Kämpfe auf der einen und brutale Polizeirepression auf der anderen Seite aus. Zu Anfang drückte sich der Unmut der SchülerInnen und StudentInnen in lebendigen und farbenfrohen Demonstrationen aus. Aber die Reaktion der Regierung um den Multimillionär und Konservativen Sebastián Piñera kam einer gewaltigen Provokation gleich. In einem Interview begegnete er der Forderung nach einer “freien, öffentlichen und ernsthaften Untersuchung” mit der Antwort, dass Bildung eine Ware sei, für die man zu zahlen habe und schließlich nichts im Leben umsonst sei. (1) Man kann darauf wetten, dass diese Erklärung die Vertreter der Bourgeoisie aus dem Schlaf gerissen hat, da auf die beschwichtigende und manipulierende Rhetorik der früheren Mitte-Links-Regierung gänzlich verzichtet wurde.

Dennoch ist die derzeitige Opposition für das Proletariat alles andere als glaubwürdig. Zwar wurde der Kurs zur Privatisierung des Bildungswesens und des “Abbaus des Sozialstaats“ in den letzten Jahren der Pinochet-Regierung eingeleitet. Gleichwohl sollte man daran erinnern, dass die diversen Mitte-Links-Regierungen mit unterschiedlicher Intensität die Arbeit der Bourgeoisie erledigt haben – nicht nur in Chile sondern überall auf der Welt. (2) Die vorherige Regierung und die “Sozialistin” Bachelet hatte faktisch versucht eine identische Reform des Bildungswesens durchzusetzen. (3)

Auch ein Regierungswechsel würde nichts an der Politik ändern, die immer von den Interessen der herrschenden Klasse diktiert wird. Trotz aller guten Absichten und ihres begrüßenswerten Engagements befinden sich noch viele Jugendliche der Bewegung im Schlepptau der alten Parteien, die das Land für viele Jahre in der altbekannten Art und Weise regiert haben. Solange sie sich weiterhin im Orbit der Institutionen der Bourgeoisie bewegen, ist es unvermeidlich, dass sie sich letztendlich den Sachzwängen des Systems und der Diktatur der herrschenden Klasse beugen müssen. (…) Dass Chile (aufgrund der Einnahmen aus dem Kupferbergbau) in letzter Zeit ziemlich stabil war, ändert nichts an den Interessen der herrschenden Klasse, die lieber ihre Armee aufrüstet um in der imperialistischen Sphäre neue Demarkationslinien zu setzen, als die Lebensbedingungen des Proletariats zu verbessern. (4)

Eine politische Kraft die der ArbeiterInnenklasse eine politische Perspektive bieten will, kann sich vor dieser Realität nicht verschließen. Überall auf der Welt hat die ArbeiterInnenklasse kaum Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und ist von dem Reichtum, den sie tagtäglich produziert, ausgeschlossen. Um dies zu ändern, muss sie dem unmenschlichen System der Ausbeutung und Unterdrückung den Kampf ansagen.

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(1) In den folgenden Tagen versuchte Piñera zurückzurudern und machte mehrere Kompromissangebote, darunter auch eine Regierungsumbildung. Der Bildungsminister Joaquin Lavin, ein an der University of Chicago ausgebildeter Ökonom und Mitglied der UDI (einer von Pinochet-Anhängern gegründeten Partei) wurde entlassen. Dennoch konnte er dadurch kein Vertrauen zurückgewinnen und seine Wahlversprechen nach Prosperität und der Schaffung von Millionen Arbeitsplätze glaubhaft zu vertreten.

(2) Von 1990 bis 2000 wurde Chile von der Concertación, einem Mitte-Links-Bündnis regiert. Sie setzte sich aus der Christdemokratischen Partei, der “Por la Democracia”, der Radical Social Demócrata (PRSD), der Sozialistischen Partei (PS) sowie der (Partido Democrático de Izquierda (PDI)) und der MAPU Obrero Campesino zusammen. Bei den letzten Wahlen schloss sich die Concertación mit dem Bündnis “Juntos Podemos Más” zusammen, welches ursprünglich von der Kommunistischen Partei und linken Christen gegründet worden war.

(3) Über das sog. LGE (Ley General de Educación) der Bachelet-Regierung schrieben wir damals:

Das chilenische Bildunsgsystem zeichnet sich durch massive soziale Ungleichheit aus. Nur 1.8 Prozent der Schüler aus armen Familien schaffen einen höheren Schulabschluss, während 72% der aus bessergestellten Familien Abschlüsse an höheren Schulen machen. Das geplante Gesetz sieht vor private Schulen besser zu fördern, während die staatlichen Schulen weitestgehend sich selbst überlassen werden. Die Gewerkschaft der LehrerInnen und die Studierendenverbände hoffen weiterhin auf eine Verständigung mit der “befreundeten” Regierung. Aber die “demokratische” und fortschrittliche Bachelet-Regierung zeigt gerade, dass die Interessen der Bourgeoisie dieselben bleiben, auch wenn viel von politischem Wandel die Rede ist. Auch wenn die chilenische Bourgeoisie sich gegenwärtig hinter einer demokratischen Maske verschanzt, ändern sich die Dinge nicht grundlegend. Die derzeitigen Reformen sind nicht besser als die unter Pinochet. Alles was die Bourgeoise den Studierenden und dem Proletariat anzubieten hat sind Wasserwerfer, Tränengas und Polizeiknüppel.

(4) Chile gibt 4% seines Bruttoinlandproduktes für Bildung aus. Aber weniger als 1% davon kommen den staatlichen Schulen zugute. Ungefähr drei Viertel der Kosten für höhere Bildung müssen von den Familien übernommen werden. Von den 3.5 Millionen SchülerInnen an höheren Bildungseinrichtungen gehen 40% auf staatliche Schulen, 50% auf subventionierte Schulen, und 10% auf private Schulen. Die Gebühren für ein Studium können sich leicht auf 1000 Dollar im Monat belaufen, und der durchschnittliche Absolvent verlässt die Uni mit einem Schuldenberg von 40-50 tausend Dollar.