Sozialproteste in Rumänien

Seit Mittwoch dem 11. Januar 2012 gibt es nach 23 langen Jahren seit dem Ende des Ceaucescu-Regimes welches nach anfänglichen Hoffnungen eine Ära der Resignation und sozialen Erstarrung einleitete, wieder Anzeichen für Bewegung in Rumänien. Tausende haben sich seit Freitag dem 13. Januar die Straßen genommen. Die Demonstrationen haben sich mittlerweile über das ganze Land ausgebreitet und fanden in mehr als vierzig Städten statt. Vollkommen spontan brachen die Proteste und Demonstrationen über das ganze Land herein, nachdem die Regierung Ende Dezember eine Reform auf den Weg gebracht hatte, die auf eine umfassende Privatisierung des kompletten Gesundheitssystems abzielte. Unter anderem sollte auch der landesweit ausgezeichnet funktionierende Rettungsdienst SMURD einer Totalprivatisierung unterzogen werden. Faktisch wäre es das Ende des allgemeinnützigen Rettungsdienstes SMURD gewesen, dessen Gründer Raed Arafat, ein gebürtiger Palästinenser, in der Bevölkerung ein ausgesprochen hohes Ansehen genießt. Doch es kam ganz anders als sich die Regierung das gedacht hatte. Noch im letzten Jahr hatte der Internationale Währungsfonds der rumänischen Regierung bescheinigt, wie vorbildlich sie den weitgreifenden Sozialabbau ohne nennenswerten Widerstand gegen die Bevölkerung durchgesetzt hatte. 2011 setzte die rumänische Regierung aus PDL (Partei der Demokraten / Liberalen) und UDMR / RMDSZ (Demokratische Union der Ungarn in Rumänien / Demokratischer Verband der Ungarn in Rumänien) eine der härtesten Lohnkürzungen in ganz Europa um: Allein den im öffentlichen Dienst Beschäftigten kürzte die Regierung die Löhne um ein glattes Viertel, die Renten um ganze 25%. und das sowieso furchtbar niedrige Arbeitslosengeld um 15%. Gleichzeitig wurde die Mehrwertsteuer von 19% auf 24%, also um 5%. heraufgesetzt. Dies in Zeiten in denen die Renten nicht einmal dazu ausreichen, selbst die dringend notwendigsten Medikamente zu bezahlen oder allein die Heizkosten zu begleichen.

Ich habe 35 Jahre als Lehrerin gearbeitet, jetzt muss ich mich für meine Rente schämen und kann nicht mal die Heizungskosten bezahlen. Dies ist eine furchtbare Erniedrigung

erklärte dazu die 60jährige Gabriele Vernat. Und in dieser Situation steht sie nicht alleine da. Gleichzeitig beschloss die Regierung Gesetze die die Rechte der ArbeiterInnen weitereinschränkten. Im Jahr 2011 stieg die Arbeitslosigkeit offiziell von 6,9% auf 7,2%. Die Preise für Strom, Wasser und Lebensmittel nahmen zu. Besondere in den Städten mit viel Tourismus stiegen die Lebenshaltungskosten weiter eklatant an. Zunächst sah alles danach aus, als ob das Ende Dezember 2011 von Staatspräsident Traian Basescu eingebrachte Gesundheitsgesetz genauso wie alle zuvor getroffenen Streichungen und Sozialkürzungen von der Regierung durchgesetzt würden. Doch die Regierenden haben sich verkalkuliert. Mit dem Gesundheitsgesetz war die massive Beschneidung der Leistungen der in den Krankenkassen Versicherten festgeschrieben. Zuzahlungen und die generelle Bezahlung aller Arztbehandlungen wären obligatorisch für die Versicherten gewesen. Dazu muss man wissen, dass das Gesundheitssystem in Rumänien, angesichts seiner niedrigen Löhne und seiner Korruption über die arbeitende Bevölkerung hinaus ein miserables Ansehen genießt. Cristian Cercel, rumänischer Korrespondent der englischen Zeitung Guardian beschreibt es so:

Viele Krankenhäuser in Rumänien lassen sich als Vorräume zum Tod bezeichnen, aber das System das Arafat gegründet hat, ist in den Augen vieler Rumänen eines der wenigen Dinge, die einwandfrei funktionieren - es rettet buchstäblich Leben.

Das Vorhaben den Rettungsdienst einer Totalprivatisierung zu unterziehen, brachte das Fass zum Überlaufen, so dass die Stimmung vollends kippte. Die absolute Privatisierung des Rettungsdienstes hätte bedeutet, dass ein jede/r gezwungen gewesen wäre, entweder zu zahlen, da er/sie andernfalls - selbst in Notfällen - keine medizinische Versorgung erhalten hätte. Die Absicht den Rettungsdienst SMURD dieser Rosskur auszusetzen, da heißt seine bisherige Funktion faktisch aufzuheben, veranlasste Raed Arafat, den Direktor des SMURD und Unterstaatssekretär, öffentlich zu erklären, dass das neue Gesetz das Gesundheitssystem zerstöre und er darum nicht zustimme. Der ohnehin in der Bevölkerung wegen seines autoritären Regierungsstils unbeliebte Traian Basescu setzte sich völlig in die Nesseln, als er Arafat in den Medien angriff und zum

größten Feind des privaten Gesundheitssystems

erklärte. Seine Attacke mündete in dem Satz:

Wenn er dem Gesetz nicht zustimmt , dann geht er.

Daraufhin trat Raed Arafat am Freitag den 13. Januar von seinen Ämtern zurück. Die Lawine kam ins Rollen. Schon am 11 Januar hatten in Targu Mures, dem einstigen Studienort Arafats, mehrere hundert Menschen ihre Solidarität mit Arafat auf die Straße gebracht. Auch in Cluj Napoca gingen mehrere hundert Menschen auf die Straße. Schnell und spontan ging eine ungeahnte Welle der Empörung und Solidarität durch das ganze Land. Im Banat, Apuseni und Maramuresch, in Siebenbürgen, Moldau, der Bukowina, in der Walachei, vor allem in Bukarest und am Schwarzen Meer versammelten sich Hunderte in den größeren und kleineren Städten, um ihre Wut gegen die Umsetzung des Gesundheitsgesetzes auf die Straße zu tragen. Schon am darauf folgenden Freitag gingen nach einer langen Zeit der politischen Apathie Tausende auf die Straße als wäre die das natürlichste der Welt. Große Demonstrationen zogen in Botosani, Deva, Alba Iulia, Craiova, Brasov, Piatra Neamt, Lasi, Timisoara und Arad, Suceava, Constanta, Oradea,Slatina, Giurgiu, Ploesti, Constanta, Pitesti, Vaslui, Galati, Sibiu und anderswo insgesamt mehrere zehntausende Menschen an. Erstaunlicherweise nahm die Zahl der Demonstranten zu, obwohl die Regierung einen Rückzieher machte. Staatspräsident Traian Basescu nahm das Gesundheitsgesetz Freitag fürs erste zurück. Raed Arafat konnte in sein Amt zurückkehren. Der Rettungsdienst SMURD soll weiter bestehen bleiben.

Der Charakter der Proteste

Wir haben die Parteien. Ob LDP (Liberaldemokraten) ob SDP (die poststalinistische Sozialdemokratische Partei) satt - Ihr seid alle gleich

... stand auf einem Plakat in Bukarest. Die Proteste gehen über die Kritik an der geplanten Privatisierung des Gesundheitssystems weit hinaus. Der Protest richtet sich gegen die katastrophalen Kürzungen der Mitte-Rechts Regierung des Kabinetts Emil Boc, gegen das autoritäre Verhalten und den Regierungsstil des Staatschefs Basescu; er richtet sich gegen das gesamte politische Establishment. Versuche der Oppositionsparteien PNL (Nationalliberale Partei) und SDP (Sozialdemokraten) aus die Protestbewegung in ihren Sinne zu kanalisieren und aus ihr politisches Kapital zu schlagen, schlugen weitgehend fehl. Es ist ihnen im Unterschied zu früher nicht gelungen die Proteste gegen die Regierung zu dominieren. Auf einigen Demonstrationen wurde mit Kerzen an die ermordeten Opfer der 89er „Revolution“ gedacht, die nicht vergeblich gewesen sein sollen. Es wird aus den unterschiedlichsten Gründen demonstriert. Was die meisten eint ist vor allem die Wut auf das politische Establishment, welches die immer breiter um sich greifende Verarmung durch ihre desaströse Kürzungspolitik weiter verschärft. Die Demonstrationen sind fast ein Querschnitt durch die ganze Bevölkerung. Die stärkste Beteiligung bei den Protesten kommt von den RentnerInnen, die seit langem die aktivsten GegnerInnen des Sozialabbaus sind. Dazu kommen StudentInnen wie jungen Arbeitslose, Krankenschwestern, MedizinerInnen, IT-Kräfte, ausgebildeten FacharbeiterInnen, die nicht gebraucht werden weil immer mehr Zweigbetriebe westlicher Konzerne das Land verlassen um in Ländern mit noch niedrigeren Löhnen produzieren zu lassen. Viele Slogans sind unausgegoren und allgemein lässt sich sagen, dass oft auf nationalistischer Basis argumentiert wird. Viele sehen die wirtschaftliche Misere - zu kurz gegriffen - als Folge der Kürzungspolitik der Regierung oder ihrer Fehler an. Die Einsicht dass die Misere vor allem ein Produkt der Krise des Kapitalismus ist und in einem internationalen Maßstab zu sehen ist, ist absolute Minderheitenmeinung. Sicherlich versuchen reaktionäre Kräfte wie die Monarchisten oder die faschistischen Neolegionäre, die während der Periode der langanhaltenden politischen Apathie an Einfluss gewinnen konnten, in der Bewegung Fuß zu fassen. Dennoch wäre es falsch die Proteste als nationalistisch abzutun. Eine solche Sichtweise wird nicht nur der gegenwärtigen Widersprüchlichkeit der Proteste nicht gerecht werden, sondern würde auch den reaktionären Kräften das Feld überlassen. Dies wäre in jeder Hinsicht fatal.

Das politische Establishment

Die führenden Politiker Rumäniens traten äußerst abgehoben auf und legten eine enorme Arroganz an den Tag. In dieser Hinsicht standen sie Nikolas Sarkozy und David Cameron in nichts nach. Basescu, sagte, das Volk verdiene seine Führer nicht. Der Außenminister Teodor Baconschi bezeichnete die Demonstranten - in Hinblick auf die anhaltenden Strassenkämpfe in Bukarest - als „unfähige und gewalttätige Slumbewohner“. Er wurde am 23. Januar von Premier Emil Boc entlassen. Politisch gefährlicher sind Pamphlete eines Mönchs der orthodoxen Kirche, der die Proteste als Werk ausländischer Kräfte, angezettelt vom Milliardär George Soros, darstellt, deren angebliches Ziel es sei Rumänien zu destabilisieren. Ein orthodox-nationalistischer EU-Abgeordneter appellierte in Hinblick auf Arafat an den „Patriotismus“ seiner Landsleute:

Mich ekelt dieser Protest. Wir sollten keine Araber verteidigen.

Ginge es nach der Rechnung der sogenannten Oppositionsparteien, so sollten Neuwahlen stattfinden. Damit wäre der Protestbewegung ihr derzeitiger Schwung genommen. Wie ernst die Regierung die Proteste nimmt, zeigt auch das Vorgehen von Polizei und Gendarmerie, die brutal gegen die Demonstrationen vorgingen. Nach Augenzeugenberichten gingen Polizei und Gendarmerie mit Gewalt mitunter gegen Passanten und Unbeteiligte vor. In Bukarest führte das Vorgehen der Polizei dazu, das ein Mann, der auf dem Weg nach Hause war, von Polizisten bedrängt wurde, dann floh und schließlich von ihnen an einen Drahtzaun gedrückt wurde, wo ihm aus einem Meter Entfernung eine Tränengasgranate gegen das Bein geschossen wurde. Er trug schwere Knochenbrüche davon. Die rumänischen Sicherheitsdienste haben dazugelernt. So wurden mehrfach Benutzer der Bahn daran gehindert zur Unterstützung der Demonstrationen in andere Städte zu fahren, sei es dass sie an der Abfahrt gehindert wurden oder aus dem Zug gedrängt wurden.1989 vor dem Sturz Ceaucescus war es vor allem der von StudentInnen mitorganisierte Informationsaustausch zwischen den Städten der zu einer Ausweitung der Demonstrationen geführt hatte.

Ausblick

Derzeit lässt sich - auch aufgrund der sehr oberflächlichen Berichterstattung in den hiesigen Medien - keine Prognose wagen wie sich die Proteste entwickeln werden. Zu begrüßen ist , dass viele Protestierende weiterhin den kompletten Rücktritt der gesamten jetzigen Regierung fordern. Tag für Tag finden im ganzen Land Proteste statt. Scheinbar gibt es in Rumänien durchaus Illusionen, dass im Rahmen der „parlamentarischen Demokratie“ sich vieles besser gestalten ließe. Besser angesehen sind die Oppositionsparteien aber keineswegs. Neu ist das ein Teil der Demonstranten sich gegen die Gewalt der Polizei und Gendarmerie gewehrt hat. Aber es sollte nicht überbewertet werden, weil der Staat das nächste Mal besser gerüstet sein wird. Wenn hier in Deutschland davon die Rede ist, das die Gewalt bei den Demonstrationen von Fußballfans oder Hools ausging, ist das kritisch zu betrachten. Die Straßenkämpfe in Bukarest dauerten vier Tage an und erstreckten sich auf ein Gebiet von 6 km. Die sozialen Proteste, wie vielgestaltig sie vor Ort auch aussehen, als rumänischen „Volkszorn“ zu verunglimpfen wie es manche Medien hier tun, ist nichts anderes als aktive Desinformationspolitik, um etwaigen Solidarisierungen entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang ist es durchaus positiv, dass weltweit vor den Botschaften und Konsulaten Rumäniens Proteste verschiedenster Art und Größe zustande kamen. Es ist zu hoffen, dass sich die Demonstrationen mit Streiks in der Industrie und im Öffentlichen Sektor verschmelzen, und zu einer neuen Dynamik führen, die dafür sorgt, dass kleinbürgerliche Losungen und Lösungsansätze an Argumentationskraft verlieren. Genauso bedeutsam wäre es wenn, die Kämpfe dazu führen rassistischen und nationalistischen Argumentationsmustern den Boden zu entziehen. Nach Lage der Dinge sieht es derzeit nicht danach aus. Vor ein paar Tagen hätte aber auch niemand gedacht, dass der Außenminister Teodor Baconschi zurücktreten muss. Die weitere Entwicklung der Proteste in Rumänien bleibt abzuwarten. In ihrem derzeitigen Zustand sind sie jedoch wichtige Vorboten weiterer sozialer Explosionen mit denen angesichts der Verschärfung der internationalen Krise zu rechnen ist. National isolierte Wutausbrüche und Proteste werden jedoch nicht ausreichen, um die sozialen Angriffe der Herrschenden abzuwehren. Letztlich kann nur eine in der Klasse verankerte internationale wie internationalistische Organisation der ArbeiterInnen dazu beitragen, Spaltungslinien zu überwinden und den weltweiten Kämpfen eine revolutionäre Ausrichtung geben.

G.A.C.