Protestbewegung in der Türkei: Die einzige Perspektive ist der Klassenkampf!

Seit Tagen wird die Türkei von einer Welle des Protestes gegen den autokratischen Regierungsstil der AKP-Regierung erfasst. Ausgehend von einem Protestcamp im Gezi Park breiteten sich die Demonstrationen wie ein Flächenbrand auf alle größeren Städte und Provinzen der Türkei aus. Mittlerweile ist eine Bewegung mit einer beeindruckenden aber auch widersprüchlichen Dynamik entstanden. Als die Menschen anfangs spontan auf die Straße gingen, verharmlosten regierungsnahe Zeitungen und TV-Sender das Geschehen und berichteten kaum darüber. Die Informationen verbreiteten sich aber schnell über Twitter und das Internet, woraufhin Ministerpräsident Tayip Erdoğan die sozialen Medien als "die schlimmste Bedrohung für das Land" bezeichnete. Viele Menschen sind wegen „der Verbreitung von Aufrufen auf Twitter“ festgenommen worden. In anderen Städten wurden die Proteste immer heftiger, in Ankara warf die Polizei Tränengasgranaten aus Hubschraubern und tötete mindestens einen Demonstranten bei dem Versuch, die DemonstrantInnen von einem zentralen Platz zu vertreiben. Auch in weiteren wichtigen Städten des Landes gab es große Demonstrationen mit mindestens einem weiteren Todesopfer in Antakya. Es gibt auch ein Gerücht, dass ein Demonstrant in Tunceli erschossen wurde. In Izmir und anderen Städten wurden Büros der AKP in Brand gesetzt.

Ursachen

Wie konnte so eine Situation in weniger als einer Woche entstehen? Wie konnte sich eine kleine Demonstration gegen die Baumaßnahmen in einem Park in Istanbul im ganzen Land ausbreiten und solch eine große Masse mobilisieren? Um dies zu verstehen, muss man sich die Hintergründe genau anschauen. Natürlich ist es nicht der Bau eines Supermarkts, der das ganze Land in Aufruhr gebracht hat. Die Ereignisse im Gezi Park haben lediglich das Fass zum Überlaufen gebracht. Es gibt fünf Hauptursachen für den aktuellen Flächenbrand.

  • Die Polizei-Gewalt: Vermutlich war die unmittelbare Ursache die brutale Gewalt der Polizei, mit der die DemonstrantInnen in Taksim vertrieben wurden. Bei der türkischen Polizei gibt es eine lange Tradition für gewalttätige Angriffe auf DemonstrantInnen und brutale Angriffe selbst auf kleine und friedliche Demonstrationen. In den letzten Jahren scheint dies noch schlimmer geworden zu sein. Der Einsatz von Reizgas und Wasserwerfern ist zur gängigen Methode geworden mit den unterschiedlichsten Situationen umzugehen: Maidemonstrationen, widerspenstige Fußballfans und kleine Umweltschützerproteste. Es ist die Reaktion auf diese Art von Gewalt, die die Situation entzündet zu haben scheint.
  • Taksim: Der Taksim-Platz selbst hat einen besonderen Platz in der Geschichte der ArbeiterInnenklasse und für die Linke in der Türkei. Er ist das Zentrum von Istanbul, der traditionelle Platz für die Maikundgebungen und genau hier wurden am 1. Mai 1977 42 Menschen erschossen und 220 verletzt. In den letzten Jahren wurden mit einer einzigen Ausnahme Aufmärsche auf dem Platz verboten und in der Folge kam es regelmäßig zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und den Menschen, die versuchten den Platz trotzdem zu erreichen. Der Taksim-Platz hat einen festen Platz im Herzen der türkischen Linken, und das Vorhaben der türkischen Regierung dort eine Moschee zu bauen wird möglicherweise noch kritischer aufgenommen als der geplante Bau eines Supermarkts.
  • Die schleichende Islamisierung: Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ist die direkte Nachfolgerin der Wohlfahrts-Partei (RP), die 1997 aus dem Amt gedrängt wurde, was in der Türkei als postmoderner Putsch bezeichnet wird. Im darauf folgenden Jahr wurde die Partei wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Säkularismus verboten. Die AKP ist seit 2002 an den Macht, verbesserte ihr Wahlergebnis mit jeder Wahl und erreichte bei den Wahlen 2011 ein überwältigendes Ergebnis von 49,8% der Stimmen. In diesem Zeitraum sägte sie nach und nach am säkularen System. Das bekannteste Beispiel ist die Sache mit den Kopftüchern an den Universitäten, dazu kommen die jüngsten Beispiele: Beschränkungen bei der Werbung für Alkohol und dessen Verkauf in Geschäften, die Absenkung des Eintrittsalters in religiöse Schulen und die Schilder in der Ankaraer Metro, die Paare davor warnt sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Eine andere Sache, die die Aleviten, die die größte religiöse Minderheit der Türkei darstellen, massiv verärgert hat, ist der vom Staat gewählte Name für die neue Bosporusbrücke. Der Name der neuen Brücke ist so umstritten, dass sogar das Bauunternehmen gezögert hat ihn zu benutzen und die Brücke statt Sultan Selim Brücke nur "die dritte Brücke“ nennt. Sultan Selim war verantwortlich für die größten Massaker gegen Aleviten und andere Schiiten. Es wäre fast dasselbe, wenn man eine Brücke im Irak „Saddam Hussein Memorial Bridge“ taufen würde.
  • Die Regionalpolitik: Wahrscheinlich waren die beiden wichtigsten Facetten der türkischen Politik das Friedensabkommen mit der PKK und die Unterstützung für die syrischen Rebellen. Natürlich sind die Säkularisten unzufrieden mit der Unterstützung islamistischer Gruppen gegen einen säkularen Staat; streunende Raketen, Bomben und Massen von Flüchtlingen haben zudem diesen Krieg ins Land gebracht. Das Friedensabkommen der Regierung mit den kurdischen Nationalisten hat auch zu Unruhe bei den türkischen Nationalisten des „linken“ und rechten Flügels geführt. Das Zentralkomitee der stalinistischen Türkischen „Kommunistischen“ Partei (TKP) machte in einem Statement vom 4. Juni deutlich, dass die türkische Nationalflagge „in den Händen des Volkes“ bleiben soll, dass die kurdischen Nationalisten keinen Deal mit der AKP machen sollten, dass sie ein Teil einer „vereinigten, patriotischen und aufgeklärten Arbeiterbewegung“ werden sollten und am besten diese Blut getränkte (türkische) Flagge ebenso schwenken sollten wie sie selbst.
  • ArbeiterInnenkämpfe: Seit der Bewegung, die sich im Winter/Frühjahr 2010 auf die Kämpfe um/bei Tekel konzentrierten, verliefen die letzten paar Jahre relativ friedlich. Doch vor kurzem gab es einen deutlichen Anstieg der Militanz mit wichtigen Streiks in der Textilbranche und den Häfen an der Mittelmeerküste. Bei Turkish Airlines gab es einen zweiwöchigen Streik und noch vor der Eskalation der aktuellen Ereignisse waren die 240.000 Mitglieder der KESK zum Streik aufgerufen worden. Darüber hinaus gibt es einen Streikaufruf der 110.000-Mitgliederstarken Metallgewerkschaft für Ende Juni.

Wenn man all diese Dinge zusammennimmt und sich den autokratischen harschen semi-imperialen Regierungsstil Tayip Erdoğans anschaut, ist es keine Überraschung, dass diese Aufstände entbrannt sind. Die Proteste sind in ihrer jetzigen Form eine klassenübergreifende Bewegung all derjenigen, die eine Wut auf das Regime haben und sie repräsentiert alle möglichen politischen Gruppierungen von links außen bis rechts außen. Auf dem Taksim-Platz wurden Bilder des inhaftierten Führers der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan gezeigt, türkische Fahnen entrollt und man sah sogar gelegentlich den Gruß der Grauen Wölfe (der türkischen Ultranationalisten).

Perspektiven

Natürlich kann eine Massenbewegung wie diese ohne die Macht der ArbeiterInnenklasse nicht vorwärts kommen. In Twitter und Facebook kursierten seit Sonntagnacht Aufrufe zu einem Generalstreik, ob und inwieweit diese Aufrufe befolgt werden, bleibt abzuwarten. Bisher sind einige Universitäten in Ankara und Istanbul gemeinsam mit einigen Krankenhäusern in Ankara in den Streik getreten. Die streikenden Krankenhäuser haben erklärt, dass sie nur noch Notfälle und DemonstrantInnen versorgen würden. Die Platzbesetzungen, Kundgebungen und Demos in den Städten sind für die herrschende Klasse störend. Gleichzeitig sind diesen Aktionsformen aber auch Grenzen gesetzt. Das sollten die Erfahrungen der Bewegung der „I_ndignados_“ und nicht zuletzt des „Arabischen Frühlings“ zur Genüge gezeigt haben. Bei kollektiven Streikaktionen sieht die Sache jedoch ganz anders aus. Letztendlich wird nur die kollektive Stärke der ArbeiterInnenklasse der Repression des Staats widerstehen und die Bourgeoisie zu Zugeständnissen zwingen können. Eine solche Dynamik würde auch die Stärkung kommunistischer Kräfte begünstigen. In der Türkei und anderswo ist es notwendig eine revolutionäre Organisation zu entwickeln, die Kämpfe vereinigen und in Zeiten der sozialen Krise politische Orientierung geben kann. Andernfalls wird die Bewegung auf den Straßen und Plätzen lediglich darauf reduziert als Ventil für weit verbreitete Wut und Empörung zu dienen, ohne eine weitergehende Klassenperspektive zur Überwindung des Systems der Ausbeutung und sozialen Verelendung eröffnen zu können. (GIS)

Für die staaten- und klassenlose Gesellschaft!

Die InternationalistInnen
Friday, June 7, 2013