War Games: Die Ukraine im Fokus der imperialistischen Konflikte

Welt­weit über­schla­gen sich die Er­eig­nis­se. In­ner­halb we­ni­ger Tage hat sich der Macht­kampf in der Ukrai­ne zu einem bri­san­ten in­ter­na­tio­na­len Kon­flikt ent­wi­ckelt. Die Welt steht vor einer der größ­ten und ris­kan­tes­ten geo­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen seit dem Ende des Kal­ten Krie­ges. Hun­dert Jahre nach Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs, der sog. „Ur­ka­ta­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts“ deu­tet vie­les dar­auf hin, dass das „Great Game“ der Groß­mäch­te um Macht-​und Ein­fluss­zo­nen aber­mals in einer ver­häng­nis­vol­len Dy­na­mik mün­det.

Die Ukrai­ne: Arm und hart um­kämpft

Auf­grund ihrer geo­stra­te­gi­schen Lage war die mul­ti­eth­nisch ge­präg­te Ukrai­ne schon immer ein von den Groß­mäch­ten hef­tig um­kämpf­tes Ter­ri­to­ri­um. Als Schau­platz des Ers­ten und Zwei­ten Welt­krie­ges blickt das Land auf eine leid­vol­le Ge­schich­te zu­rück. Die der­zeit zu­ta­ge tre­ten­den re­gio­na­len und so­zio­kul­tu­rel­len Un­ter­schie­de haben tiefe Wur­zeln. Mit dem Zu­sam­men­bruch des Ost­blocks rück­te das Land wie­der ver­stärkt in den Fokus im­pe­ria­lis­ti­scher Macht­po­li­tik. Die Frage der wirt­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Aus­rich­tung der Ukrai­ne bekam eine neue Bri­sanz. Vor­der­grün­ding voll­zog sich der „Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess zur De­mo­kra­tie“ in der Ukrai­ne wie über­all in Ost­eu­ro­pa: Alte und neue Eli­ten aus dem Staats-​und Par­tei­ap­pa­rat ris­sen sich die Fi­let­stü­cke der Wirt­schaft unter den Nagel, steck­ten un­ter­ein­an­der ihre Claims ab und schu­fen ein aus­ge­klü­gel­tes Sys­tem der Vet­tern­wirt­schaft und Kor­rup­ti­on. Diese Wen­de­jah­re waren von einem ra­san­ten in­dus­tri­el­len Ver­fall ge­prägt. Das BIP brach um 60% ein. Erst 1999 konn­te wie­der der Stand von 1989 er­reicht wer­den. In den Jah­ren 2000 bis 2007 kam es zu einer kur­zen wirt­schaft­li­chen Er­ho­lungs­pha­se. Doch die da­mals er­ziel­ten Wachs­tums­ra­ten von ca. 7 % ba­sier­ten maß­geb­lich auf dem da­ma­li­gen Roh­stoff­boom im All­ge­mei­nen und den ge­stie­ge­nen Welt­markt­prei­sen für Stahl (dem wich­tigs­ten Ex­port­gut der Ukrai­ne) im Be­son­de­ren. Mit dem Plat­zen der Spe­ku­la­ti­ons­bla­se 2007/2008 war der von Li­be­ra­len wie Na­tio­na­lis­ten ge­heg­te Traum einer wirt­schaft­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät der Ukrai­ne aus­ge­träumt. Die Krise traf das Land mit vol­ler Härte. Die In­fla­ti­on stieg von 12,8% (2007) auf 25,2% (2008) an, wäh­rend die In­dus­trie­pro­duk­ti­on um 34% ein­brach und die Staats­ver­schul­dung as­tro­no­mi­sche Höhen an­nahm. Nur durch mil­li­ar­den­schwe­re, an ra­di­ka­le Spar­auf­la­gen ge­kop­pel­te Kre­di­te des IWF konn­te der to­ta­le öko­no­mi­sche Zu­sam­men­bruch des Lan­des vor­erst ver­hin­dert wer­den. Die Rech­nung zahl­te wie über­all die Ar­bei­ter­klas­se. Heute leben über 30% der Be­völ­ke­rung von Ein­kom­men un­ter­halb des Exis­tenz­mi­ni­mums. Be­son­ders hart trifft es die Alten. 80% der Rent­ner müs­sen mit der Min­dest­ren­te von 81 Euro über die Run­den kom­men, was sprich­wört­lich weder zum Leben noch zum Ster­ben reicht. Die Ukrai­ne ist ein aus­ge­spro­che­nes Nied­rig­lohn­land und ge­ra­de des­halb für aus­län­di­sche In­ves­to­ren als ver­län­ger­te Werk­bank in­ter­es­sant. Mit einem Durch­schnitts­lohn von knapp 300 Euro und einem Min­dest­lohn von ca. 110 Euro ist das Lohn­ni­veau drei­mal nied­ri­ger als in Polen. Die der­zeit von der EU zur Dis­po­si­ti­on ge­stell­ten Sub­ven­tio­nen für Miet- und En­er­gie­kos­ten stel­len ge­wis­ser­ma­ßen die letz­te Bar­rie­re gegen die to­ta­le Ver­ar­mung von Mil­lio­nen Men­schen dar. Dazu kommt ein deut­li­ches Lohn-​und Ein­kom­mens­ge­fäl­le zwi­schen Stadt und Land und den un­ter­schied­li­chen Re­gio­nen des Lan­des. Be­son­ders schwer fällt hier die Kluft zwi­schen dem über­wie­gend land­wirt­schaft­lich ge­präg­ten Wes­ten und dem in­dus­tria­li­sier­ten Osten des Lan­des (wie bspw. die Re­gi­on Do­nezk) ins Ge­wicht. All dies för­dert re­gio­na­lis­ti­sche Ten­den­zen, ver­schärft oh­ne­hin schon tra­dier­te so­zio­öko­no­mi­sche Un­ter­schei­de und ver­tieft Spal­tungs­li­ni­en in der Ar­bei­ter­klas­se. Der zu­neh­men­den Ver­ar­mung und Ver­elen­dung der Be­völ­ke­rung ste­hen der Reich­tum und die un­be­schränk­te Macht der Olig­ar­chen ge­gen­über. Die mäch­tigs­ten 50 Olig­ar­chen kon­trol­lie­ren über zwei Drit­tel des Reich­tums. Ein Groß­teil die­ser Ver­mö­gen ist auf Steu­er­oa­sen im Aus­land ge­parkt. Doch ohne die Clans der Olig­ar­chen läuft in der ukrai­ni­schen Po­li­tik so gut wie nichts. Sie haben es von jeher ver­stan­den, ihre In­ter­es­sen ge­gen­über der über­gro­ßen Mehr­heit der Be­völ­ke­rung zu be­haup­ten und durch­zu­set­zen. In der Frage der au­ßen­po­li­ti­schen Aus­rich­tung gin­gen die Mei­nun­gen je­doch je nach Ge­schäfts­in­ter­es­se aus­ein­an­der. Wäh­rend die im En­er­gie­sek­tor tä­ti­gen Olig­ar­chen auf Russ­land setz­ten, ver­spra­chen sich an­de­re durch eine An­bin­dung an die EU satte Ge­win­ne. Diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen unter den Clans haben in den letz­ten Jah­ren das po­li­ti­sche Ge­sche­hen in der Ukrai­ne maß­geb­lich be­stimmt, zu den un­ter­schied­lichs­ten Re­gie­rungs­bil­dun­gen und wach­sen­der po­li­ti­scher In­sta­bi­li­tät ge­führt.

Zwi­schen Brüs­sel und Mos­kau: Der Ei­er­tanz des Ja­nu­ko­witsch

Eine Zeit­lang sah es so aus, als ob der mitt­ler­wei­le ge­schass­te Prä­si­dent Ja­nu­ko­witsch diese di­ver­gie­ren­den In­ter­es­sen der Olig­ar­chen zu­min­dest de­ckeln konn­te. Ja­nu­ko­witsch wird gerne als be­son­ders russ­land­freund­lich por­trä­tiert. Das ist je­doch nur in­so­weit rich­tig, als dass der ge­lern­te Klein­kri­mi­nel­le Ja­nu­ko­witsch ein po­li­ti­sches Ge­schöpf des eher Russ­land zu­ge­neig­ten Olig­ar­chen Rinat Ach­me­tow war. Au­ßen­po­li­tisch be­müh­te sich Ja­nu­ko­witsch stets um eine Po­li­tik des Spa­gats zwi­schen der EU und Mos­kau. Da­hin­ter stand das Kal­kül, aus der geo­stra­te­gi­sche Lage der Ukrai­ne als wich­tigs­te Trans­por­t­rou­te für die Öl- und Erd­gas­lie­fe­rung von Ost nach West in Ka­pi­tal schla­gen zu kön­nen. Eine Po­li­tik, die letzt­end­lich schei­ter­te bzw. schei­tern muss­te. Das La­vie­ren zwi­schen dem As­so­zie­rungs­ab­kom­men mit der EU ei­ner­seits und der Neu­ver­hand­lung der Gas­ver­trä­ge mit Russ­land an­de­rer­seits er­höh­te lang­fris­tig nur den Druck von bei­den Sei­ten. Wäh­rend Russ­land mit dem Zu­dre­hen des Gas­hahns droh­te und zeit­wei­se einen re­gel­rech­ten Han­dels­krieg gegen die Ukrai­ne führ­te, poch­te die EU auf die ri­gi­de Um­set­zung der Auf­la­gen der Ret­tungs­kre­di­te des IWF. Dazu ge­hör­te u.a. die For­de­rung eines Ein­frie­rens der Löhne, der Abbau der Strom­sub­ven­tio­nen, dras­ti­sche Kür­zun­gen der öf­fent­li­chen Aus­ga­ben sowie die Er­hö­hung der Gas-​und En­er­gie­prei­se um 40%. For­de­run­gen also, die in einem oh­ne­hin ver­arm­ten Land wie der Ukrai­ne auf die Ver­elen­dung von Mil­lio­nen Men­schen hin­aus­lau­fen wür­den. Ja­nu­ko­witsch war und ist alles an­de­re als ein Men­schen­freund. Wäh­rend sei­ner Amts­zeit kam es zu einer Reihe ein­schnei­den­der so­zia­ler An­grif­fe. Den­noch sah er sich nicht in der Lage, das von der EU ge­for­der­te Kür­zungs­pro­gramm in die­sem Aus­maß in­nen­po­li­tisch durch­zu­set­zen und ge­riet folg­lich in eine immer ver­zwick­te­re Po­si­ti­on. Wäh­rend sich die Aus­lands­schul­den auf 75 Mil­li­ar­den ver­dop­pel­ten, schmol­zen die Gold­re­ser­ven der Ukrai­ne von 37 auf 15 Mil­li­ar­den zu­sam­men. Die Po­si­ti­on eines wirt­schaft­lich über­le­bens­fä­hi­gen Puf­fer­staa­tes zwi­schen Russ­land und der EU ließ sich immer we­ni­ger auf­recht­er­hal­ten. Dies war der Mo­ment, in dem Putin eine ge­schick­te Wende voll­zog und der Ukrai­ne drin­gend be­nö­ti­ge Kre­di­te und güns­ti­ge Gas­lie­fe­run­gen in Aus­sicht stell­te. Mit der Auf­kün­di­gung des EU-​As­so­zi­ie­rungs­ab­kom­mens durch die Ja­nu­ko­witsch-​Re­gie­rung hatte Mos­kau einen wich­ti­gen Punkt­sieg er­run­gen. Doch die Ant­wort aus Brüs­sel, Ber­lin und Wa­shing­ton ließ nicht lange auf sich war­ten.

Der Mai­dan

Durch das bru­ta­le Vor­ge­hen der Po­li­zei be­ka­men die an­fangs recht un­spek­ta­ku­lä­ren Pro­tes­te gegen die Auf­kün­di­gung des EU-​As­so­zi­ie­rungs­ab­kom­mens eine be­son­de­re Dy­na­mik. Em­pö­rung über die Re­pres­si­on, so­zia­le Un­zu­frie­den­heit und weit­ver­brei­te­tes Miss­trau­en gegen die kor­rup­ten po­li­ti­schen Eli­ten bün­del­ten sich in einer brei­ten ge­sell­schaft­li­chen Pro­test­be­we­gung. Das Pa­ra­do­xe war je­doch, dass sich ge­ra­de diese Ele­men­te auf dem Mai­dan nicht in An­sät­zen po­li­tisch ar­ti­ku­lier­ten bzw. ar­ti­ku­lie­ren konn­ten. So­zia­le For­de­run­gen spiel­ten in der Be­we­gung so gut wie keine Rolle. Eben­so wenig griff die Ar­bei­ter­klas­se als ei­gen­stän­di­ge und or­ga­ni­sier­te Kraft in das Ge­sche­hen ein. Statt­des­sen be­herrsch­ten die Ver­tre­ter der pro­west­li­chen Op­po­si­ti­ons­par­tei­en die po­li­ti­sche Bühne. Sie konn­ten dabei auf die mas­si­ve fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung sei­tens der EU und der USA bauen. Nach An­ga­ben der US-​Staats­se­kre­tä­rin Nu­land soll die US-​Re­gie­rung seit 1991 rund 5 Mil­li­ar­den Dol­lar für eine „wohl­ha­ben­de und de­mo­kra­ti­sche Ukrai­ne“ in­ves­tiert haben, um so die Vor­aus­set­zun­gen für eine An­bin­dung des Lan­des an die EU zu schaf­fen.1 Ver­gleich­ba­re Aus­ga­ben der EU sind in Zah­len bis­her nicht be­kannt. Durch die me­di­en­wirk­sa­men So­li­da­ri­täts­be­su­che hoch­ran­gi­ger EU-​Ver­tre­ter und Po­li­ti­ker wie bspw. den US-​Se­na­tor John Mc­Cain, der EU- Au­ßen­be­auf­trag­ten Ca­the­ri­ne Ash­ton oder den deut­schen Eu­ro­pa­po­li­ti­kern Elmar Brok (CDU) und Re­bec­ca Harms (Grüne) bekam das Ganze eine in­ter­na­tio­na­le, ja geo­po­li­ti­sche Di­men­si­on. Da­durch spitz­te sich die Es­ka­la­ti­on auf dem Mai­dan kon­ti­nu­ier­lich zu. Dies führt uns zu einem wei­te­ren be­stim­men­den Mo­ment auf dem Mai­dan: Dem mas­si­ven Auf­tre­ten fa­schis­ti­scher Kräf­te wie der Par­tei „Svo­bo­da“ und den pa­ra­mi­li­tä­risch or­ga­ni­sier­ten Grup­pen des „Rech­ten Sek­tors“. Ihr Auf­tre­ten ba­sier­te auf einer lan­gen und sys­te­ma­ti­schen Vor­ar­beit. Ge­ra­de in der Ukrai­ne fan­den und fin­den die Fa­schis­ten einen güns­ti­gen Nähr­bo­den um aus der so­zia­len Mi­se­re, der Frus­tra­ti­on und Per­spek­tiv­lo­sig­keit Ka­pi­tal zu schla­gen. Die Rechts­ver­schie­bung der po­li­ti­schen Dis­kur­se, die Re­ha­bi­li­tie­rung und Ver­klä­rung des ukrai­ni­schen Fa­schis­ten­füh­rers Ste­pan Ban­de­ra, der von der „oran­ge­nen“ Re­gie­rung des Prä­si­den­ten Juscht­schen­ko am 22. Ja­nu­ar 2010 post­hum sogar den Eh­ren­ti­tel „Held der Ukrai­ne“ ver­lie­hen bekam, bot den Fa­schis­ten zu­sätz­li­che An­knüp­fungs­punk­te. Rech­te und ul­tra­na­tio­na­lis­ti­sche Po­si­tio­nen sind im po­li­ti­schen Es­ta­blish­ment der Ukrai­ne weit ver­brei­tet. Es kommt nicht von un­ge­fähr, dass die von der CDU-​na­hen Kon­rad Ade­nau­er Stif­tung auf­ge­bau­te und fi­nan­zier­te Par­tei des Bo­xers Vi­ta­li Klitsch­ko, UDAR, kein Pro­blem damit hat, ein of­fi­zi­el­les Bünd­nis mit der fa­schis­ti­schen „Svo­bo­da“ ein­zu­ge­hen. Doch die Fa­schis­ten hat­ten nicht nur po­li­ti­schen Rü­cken­wind, son­dern vor allem eine gut-​or­ga­ni­sier­te und fi­nan­zi­el­le In­fra­struk­tur. So war es ihnen mög­lich, ihren An­hän­gern Bus­fahr­ten und Ta­ges­gel­der zu zah­len, miss­lie­bi­ge Grup­pen ein­zu­schüch­tern und zu ver­trei­ben und sich mit ihren im Stra­ßen­kampf er­fah­re­ne­ren Schlä­ger­trupps als „Be­schüt­zer“ der Be­we­gung gegen die Po­li­zei­kräf­te auf­zu­spie­len. Mit den To­des­schüs­sen auf dem Mai­dan wurde eine Es­ka­la­ti­ons­stu­fe er­reicht, die letzt­lich einen Wen­de­punkt ein­lei­te­te. Es ist bis heute un­klar, wer genau hin­ter den Schüs­sen steckt. Fak­tisch wurde je­doch zu die­sem Zeit­punkt immer deut­li­cher, dass Ja­nu­ko­witsch nicht mehr in der Lage war, die Si­tua­ti­on in den Griff zu be­kom­men. Damit war er für die ihn un­ter­stüt­zen­den Olig­ar­chen immer we­ni­ger von Nut­zen. In dem Maße, wie diese von ihm ab­rück­ten, star­te­te die EU und allen voran die deut­sche Re­gie­rung, di­plo­ma­ti­sche Of­fen­si­ven, um unter dem Vor­wand der „po­li­ti­schen Dee­s­ka­la­ti­on“ aus der Si­tua­ti­on Ka­pi­tal zu schla­gen.

Olig­ar­chen, Fa­schis­ten und faule Oran­gen: Eine Rada von Mer­kels Gna­den

Er­geb­nis die­ser Be­mü­hun­gen war die Bil­dung der sog. „Über­gangs­re­gie­rung“ unter Ar­se­n­i­ij Ja­zen­uk, einem Ge­folgs­mann der mil­lio­nen­schwe­ren Olig­ar­chin Ju­li­ja Ti­mo­schen­ko. In­nen­po­li­tisch war die Re­gie­rungs­um­bil­dung Aus­druck einer ge­ring­fü­gi­gen Neu­ver­mes­sung im kom­ple­xen Macht­ge­fü­ge der Olig­ar­chen. Zu den zen­tra­len Strip­pen­zie­hern ge­hö­ren nun neben der „Gas­prin­zes­sin“ Ju­li­ja Ti­mo­schen­ko, der Stahl­ma­gnat Ser­gej Ta­ru­ta, der Scho­ko­la­den­kö­nig Petro Po­ro­schen­ko, der Me­dien­mo­gul Wik­tor Pin­chuk sowie Igor Ko­lo­mois­ky, der ge­mein­sam mit Gen­na­diy Bo­go­lyu­bow die größ­te Bank des Lan­des kon­trol­liert und mit einem ge­schätz­ten Ver­mö­gen von 6,5 Mil­li­ar­den Dol­lar als viertreichs­ter Ukrai­ner gilt. Auch Rinat Ach­me­tow, der mit 11 Mil­li­ar­den Dol­lar einer der reichs­ten Män­ner der Ukrai­ne ist und die Hälf­te der Stahl­pro­duk­ti­on, der Koh­le­för­de­rung sowie der Strom­er­zeu­gung kon­trol­liert, mach­te eine schnel­le Kehrt­wen­de: „Die An­wen­dung von Ge­walt und Ge­setz­lo­sig­keit von außen sind in­ak­zep­ta­bel“, ließ Ach­me­tow er­klä­ren. Sein Kon­glo­me­rat „mit 300.​000 Be­schäf­tig­ten, das die Ukrai­ne von Wes­ten nach Osten und von Nor­den nach Süden re­prä­sen­tiert“, werde alles dafür tun, die In­te­gri­tät des Lan­des auf­recht­zu­er­hal­ten.2 Hier mach­te sich of­fen­kun­dig be­zahlt, dass die EU von Sank­tio­nen gegen ihn ab­ge­se­hen hatte.

Die Tat­sa­che, dass zum ers­ten Mal seit 1945 of­fe­ne Fa­schis­ten in einer von der EU an­er­kann­ten und pro­te­gier­ten Re­gie­rung sit­zen, ist je­doch von neuer Qua­li­tät. Durch ihr mas­si­ves Auf­tre­ten auf dem Mai­dan sind die Fa­schis­ten zu einer be­stim­men­den po­li­ti­schen Kraft in der Ukrai­ne ge­wor­den. Sie stel­len meh­re­re Mi­nis­ter und kon­trol­lie­ren wich­ti­ge Teile des Staats –und Si­cher­heits­ap­pa­ra­tes. Das er­mu­tig­te ihr Fuß­volk, ge­walt­sam gegen miss­lie­bi­ge po­li­ti­sche Kräf­te vor­zu­ge­hen und eine re­gel­rech­te Po­grom­stim­mung zu schaf­fen. In die­sem Klima der Angst muss­ten jü­di­sche Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen Not­hil­fen für die in der Ukrai­ne le­ben­den Jü­din­nen und Juden ins Leben ge­ru­fen.3 Ei­ni­ge Rab­bi­ner rie­fen ihre Ge­mein­den zur Flucht aus Kiew auf.4 Neben dem Ver­bot des Rus­si­schen als zwei­te Amts­spra­che brach­ten die Fa­schis­ten in der Rada eine Ge­set­zes­in­itia­ti­ve ein, die auf die Ab­schaf­fung eines Ar­ti­kels des ukrai­ni­schen Straf­ge­setz­bu­ches ab­zielt, der die Leug­nung der Ver­bre­chen des Fa­schis­mus unter Stra­fe stellt. All diese Maß­nah­men haben die rus­sisch­spra­chi­gen Lan­des­tei­le der Ost­ukrai­ne in Auf­re­gung und Alarm­stim­mung ver­setzt. Ganz un­be­grün­det sind diese Ängs­te nicht. Die 1991 als „So­zi­al-​Na­tio­na­le Par­tei“ ge­grün­de­te „Svo­bo­da“ mach­te aus ihren An­sich­ten nie­mals einen Hehl. Zu ihren zen­tra­len Zie­len ge­hört das Pro­jekt einer „eth­nisch rei­nen Großu­krai­ne“, die Ab­schaf­fung der Au­to­no­mie bzw. Ein­glie­de­rung der Krim in den ukrai­ni­schen Staat, die „Li­qui­die­rung bol­sche­wis­ti­scher Sym­bo­lik“, der Bei­tritt der Ukrai­ne zur NATO und der Sta­tus der Ukrai­ne als Atom­macht. „Um eine wirk­lich ukrai­ni­sche Ukrai­ne in den Städ­ten im Osten und Süden zu schaf­fen… wer­den wir den Par­la­men­ta­ris­mus aus­set­zen müs­sen, alle Par­tei­en ver­bie­ten, die ge­sam­te In­dus­trie und alle Me­di­en ver­staat­li­chen und den Im­port sämt­li­cher Li­te­ra­tur aus Russ­land in die Ukrai­ne ver­bie­ten… Die Spit­zen aller Be­hör­den des öf­fent­li­chen Diens­tes, des Bil­dungs­we­sens, des Mi­li­tär (vor allem im Osten) müs­sen kom­plett aus­ge­wech­selt wer­den, alle rus­sisch­spra­chi­gen In­tel­lek­tu­el­len und alle Ukrai­no­pho­ben müs­sen phy­sisch li­qui­diert wer­den (schnell und ohne Pro­zess er­schie­ßen! Jedes Mit­glied von Svo­bo­da kann Ukrai­no­pho­be mel­den), alle Mit­glie­der der an­ti-​ukrai­ni­schen Par­tei­en müs­sen hin­ge­rich­tet wer­den …“ hieß es in einer 2010 ver­öf­fent­lich­ten Bei­trag in einem of­fi­zi­el­len Forum der Par­tei.5 Neben der Ver­eh­rung des Fa­schis­ten­füh­rers Ste­pan Ban­de­ra zei­gen sich füh­ren­de Par­tei­mit­glie­der auch gerne mal in SS-​Uni­form.6 Im April 2013 führ­te die „Svo­bo­da“ in Lwiw einen Marsch zum Ge­den­ken an die SS Di­vi­si­on Ga­li­zi­en durch. Im An­schluss wur­den in der Lwi­wer Stadt­hal­le ehe­ma­li­gen SS-​Män­nern Me­dail­len ver­lie­hen. Für den EU- Bot­schaf­ter in der Ukrai­ne, Jan Tom­bin­ski, ist die Par­tei den­noch ein „gleich­wer­ti­gen Part­ner für Ge­sprä­che mit der EU“.7 Auch die deut­sche Bun­des­re­gie­rung hat mit der „Svo­bo­da“ keine Be­rüh­rungs­ängs­te. „Svo­bo­da“ sei eine rechts­po­pu­lis­ti­sche und na­tio­na­lis­ti­sche Par­tei, die zum Teil rechts­ex­tre­me Po­si­tio­nen ver­tre­te, aber in ihrer par­la­men­ta­ri­schen Ar­beit keine of­fen­sicht­li­chen rechts­ex­tre­men Ten­den­zen er­ken­nen lasse, teil­te sie auf eine par­la­men­ta­ri­sche An­fra­ge mit.8 Ähn­lich äu­ßer­te sich Elmar Brok, Vor­sit­zen­der des Aus­schus­ses für Aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments.9 Die „Svo­bo­da“ sei nicht die Par­tei, die er liebe, die aber im­mer­hin den Sturz Ja­nu­ko­witschs mög­lich ge­macht habe, er­klär­te der CDU-​Po­li­ti­ker, der sel­ber tat­kräf­tig auf der Bühne des Mai­dan mit­misch­te, ge­gen­über dem Nach­rich­ten­ma­ga­zin Pan­ora­ma. „So­lan­ge ge­währ­leis­tet ist, dass sich diese Par­tei für Rechts­staat­lich­keit ein­setzt und die De­mo­kra­tie in der Ukrai­ne mög­lich macht“, sei alles in Ord­nung. „Das ist, glau­be ich, das Ent­schei­den­de, nicht Sprü­che der Ver­gan­gen­heit.“ 10 Vor dem Hin­ter­grund der im Ja­nu­ar die­ses Jah­res von Bun­des­prä­si­dent Gauck pro­kla­mier­ten Kurs­kor­rek­tur zu einer „ent­schlos­se­ne­ren Au­ßen­po­li­tik“ war die deut­sche Me­dien­land­schaft an­ge­sichts der in Kiew exe­ku­tier­ten _„Of­fen­si­ve der deut­schen Di­plo­ma­tie“voll des Lobes. Die Bun­des­re­pu­blik sei in Ge­stalt des Au­ßen­mi­nis­ters Frank-​Wal­ter Stein­mei­er ihrer „Füh­rungs­rol­le in Eu­ro­pa nach­ge­kom­men“ju­bel­te das kon­ser­va­ti­ve Leit­or­gan FAZ. Ohne die „be­harr­li­che Über­zeu­gungs­ar­beit der Au­ßen­mi­nis­ter Deutsch­lands, Frank­reichs und Po­lens“_wäre „_die Ukrai­ne dem Ab­grund des of­fe­nen Bür­ger­krie­ges immer näher ge­kom­men. Das kön­nen sich auch die Ame­ri­ka­ner mer­ken.“11 Für diese„be­harr­li­che Über­zeu­gungs­ar­beit“_ gab und gibt es nach Aus­kunft des Aus­wär­ti­gen Amtes gute stra­te­gi­sche Be­weg­grün­de: _„Die Ukrai­ne weist eine Reihe von Stand­ort­vor­tei­len auf: einen mit rund 45,6 Mil­lio­nen Ein­woh­nern re­la­tiv gro­ßen Bin­nen­markt, ei­ni­ge hoch ent­wi­ckel­te Ni­schen­sek­to­ren, wie Flug­zeug-​ und Ra­ke­ten­bau, die geo­gra­phi­sche Nähe zu den Ab­satz­märk­ten in der EU und in Ost­eu­ro­pa, einen hohen Nach­hol­be­darf bei Kon­sum und Mo­der­ni­sie­rungs­in­ves­ti­tio­nen, gute na­tür­li­che Vor­aus­set­zun­gen für die Land­wirt­schaft sowie ein ver­gleichs­wei­se nied­ri­ges Lohn­ni­veau bei grund­sätz­lich hohem Aus­bil­dungs­stand.“_12 Un­ver­blüm­ter und auch für den letz­ten Dep­pen klar ver­ständ­lich, brach­te das On­lin­e­por­tal der „Ta­ges­schau“ die deut­schen In­ter­es­sen auf den Punkt: Die Ukrai­ne sei für Russ­land und die EU auch „von mi­li­tä­ri­schem In­ter­es­se“, da auf „der Krim die rus­si­sche Schwarz­meer­flot­te vor Anker“ liege. Als zweit­größ­ter Flä­chen­staat nach Russ­land sei sie die „Korn­kam­mer“ Eu­ro­pas und zudem ein_„wich­ti­ger Mo­sa­ik­stein im rus­si­schen Pro­jekt einer Eu­ra­si­schen Union.“Durch eine An­bin­dung der Ukrai­ne im Rah­men des ge­plan­ten Frei­han­dels­ab­kom­mens könn­ten die Eu­ro­pä­er je­doch „ihre Ab­satz­märk­te er­wei­tern und leich­te­ren Zu­griff auf die Roh­stof­fe und Bo­den­schät­ze der Ukrai­ne ge­win­nen.“13 Das weckt Er­in­ne­run­gen an tra­dier­te deut­sche Ex­pan­si­ons­stra­te­gi­en. Am, aus heu­ti­ger Sicht durch­aus ori­gi­nel­len Bei­spiel einer Oran­ge, er­läu­ter­te der da­ma­li­ge Vor­den­ker des Aus­wär­ti­gen Amts, Paul Rohr­bach (1869-​1956), die Ziele der wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges gegen Russ­land ge­rich­te­ten „Ost­po­li­tik_“ fol­gen­der­ma­ßen: “Wie diese Frucht aus ein­zel­nen leicht von­ein­an­der lös­ba­ren Tei­len be­steht, so das rus­si­sche Reich aus sei­nen ver­schie­de­nen Ge­biets­tei­len: bal­ti­sche Pro­vin­zen, Ukrai­ne, Polen usw.” Wenn es ge­län­ge, diese Ge­biets­tei­le _“von­ein­an­der ab­zu­lö­sen und ihnen eine ge­wis­se Au­to­no­mie zu geben”, werde es “ein leich­tes sein, dem rus­si­schen Groß­rei­che ein Ende zu be­rei­ten”._14 Al­ler­dings haben der­ar­ti­ge „De­kom­po­si­ti­ons­theo­ri­en“ heute einen ge­hö­ri­gen Haken. Das her­aus­ge­lös­te Oran­gen­stück ist reich­lich faul. Die Ukrai­ne ist wirt­schaft­lich aus­ge­laugt und steht fak­tisch vor dem Staats­bank­rott. Somit er­weist sich das Ex­pan­si­ons­drang nach Osten als glei­cher­ma­ßen ris­kan­tes und kost­spie­li­ges Pro­jekt. Zudem wird sich erst noch er­wei­sen müs­sen, ob die „eu­ro­päi­sche Füh­rungs­macht“ Deutsch­land nicht mit Zi­tro­nen ge­han­delt hat, als sie den Kon­flikt mit Russ­land auf neuer Stu­fen­lei­ter in Gang setz­te.

Der Kampf um Eu­ra­si­en – die heiße Phase des Great Games

Die Kos­tü­mie­rung der di­ver­sen „Selbst­ver­tei­di­gungs­kräf­te“ und Ko­sa­ken­ver­bän­de, die Mos­kau auf der Krim in Ak­ti­on setz­te, mag mehr oder we­ni­ger ori­gi­nell sein, doch es be­durf­te wenig Im­pro­vi­sa­ti­on, um in den süd­öst­li­chen Re­gio­nen der Ukrai­ne zum Ge­gen­schlag aus­zu­ho­len. Die Er­eig­nis­se in Kiew haben die Span­nun­gen und se­pa­ra­tis­ti­schen Be­stre­bun­gen zum Ko­chen ge­bracht. Mit einem dif­fu­sen Pro­pa­gan­da­ge­misch aus „an­ti­fa­schis­ti­schen“ Flos­keln, So­wjet­nost­al­gie und groß­rus­si­schen Na­tio­na­lis­mus ver­sucht Mos­kau diese Stim­mung wei­ter an­zu­hei­zen, und zur Of­fen­si­ve über­zu­ge­hen. Ge­ra­de die Krim hat in Russ­land hohen na­tio­na­lis­ti­schen Sym­bol­wert und ist zudem von gro­ßem stra­te­gi­schem In­ter­es­se. Der Ver­lust der Krim und des Flot­ten­stütz­punk­tes Se­was­to­pol würde Russ­lands Be­we­gungs­spiel­raum im Mit­tel­meer­raum und der Kau­ka­sus­re­gi­on ent­schei­dend be­gren­zen. Be­reits 2008, wäh­rend des Ge­or­gi­en­krie­ges, war die Krim Ge­gen­stand hef­ti­ger Aus­ein­an­der­set­zun­gen, als der da­ma­li­ge pro­west­lich ori­en­tier­te ukrai­ni­sche Prä­si­dent Juscht­schen­ko damit droh­te, den Sta­tio­nie­rungs­ver­trag der rus­si­schen Schwarz­meer­flot­te nicht mehr zu ver­län­gern. Doch es geht um weit­aus mehr als die Krim. Die der­zei­ti­ge Krise ist le­dig­lich der Kul­mi­na­ti­ons­punkt einer lan­gen Reihe in­nerim­pe­ria­lis­ti­scher Kon­flik­te. „Uns sei be­wusst, dass die Zu­ge­hö­rig­keit eines ver­ein­ten Deutsch­lands zur Nato kom­pli­zier­te Fra­gen auf­wer­fe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten aus­deh­nen. (…) Was im Üb­ri­gen die Nicht­aus­deh­nung der Nato an­be­tref­fe, so gelte die­ses ganz ge­ne­rell“, soll der da­ma­li­ge deut­sche Au­ßen­mi­nis­ter Gen­scher laut einer lange ge­heim ge­hal­te­nen Pro­to­koll­no­tiz am 10. Fe­bru­ar 1990 ge­gen­über dem da­ma­li­gen so­wje­ti­schen Un­ter­händ­ler Sche­ward­nad­se am Rande Ver­hand­lung der „Zwei-​plus-​Vier-​Ver­trä­ge“ ver­si­chert haben.15 Fak­tisch trat je­doch das Ge­gen­teil ein. Sys­te­ma­tisch wurde die Na­to-​Ost­erwei­te­rung vor­an­ge­trie­ben. 1999 wur­den Polen, Tsche­chi­en und Un­garn in die NATO auf­ge­nom­men. Fünf Jahre spä­ter folg­ten die bal­ti­schen Re­pu­bli­ken Li­tau­en, Lett­land und Est­land sowie Bul­ga­ri­en, Ru­mä­ni­en, die Slo­wa­kei und Slo­we­ni­en. 2009 schlos­sen sich Al­ba­ni­en und Kroa­ti­en dem west­li­chen Mi­li­tär­bünd­nis an. Die Pläne eines US-​Ra­ke­ten­ab­wehr­schirms in Eu­ro­pa, die Krie­ge im Irak, der Kon­flikt um Sy­ri­en und die far­ben­fro­hen Re­vo­lu­ti­ons­spek­ta­kel wie die_„Ro­sen­re­vo­lu­ti­on_“ 2003 in Ge­or­gi­en, die „Oran­ge­ne Re­vo­lu­ti­on“ 2004 in der Ukrai­ne und die „Tul­pen­re­vo­lu­ti­on“ in Kir­gi­si­en 2005 sorg­ten für zu­sätz­li­chen Kon­flikt­stoff. Russ­land re­agier­te auf diese Ein­krei­sung mit dem Pro­jekt einer „Eu­ra­si­schen Union“. Nach dem Vor­bild der EU sol­len nach den Plä­nen des Kreml Russ­land, Weiß­russ­land, Ar­me­ni­en, Ka­sachs­tan, Ta­dschi­kis­tan, Kir­gis­tan und die Ukrai­ne einen ge­mein­sa­men Wirt­schafts­block bil­den. Die ehe­ma­li­ge US-​Au­ßen­mi­nis­te­rin Hil­la­ry Clin­ton be­zeich­ne­te die­ses Pro­jekt nicht von un­ge­fähr als „Neu­er­schaf­fung der So­wjet­uni­on“. Mit der „Eu­ra­si­schen Union“ würde zwi­schen China und der „west­li­chen Welt“ eine neue Kraft mit einer von Russ­land do­mi­nier­ten Si­cher­heits-​ und Mi­li­tär­po­li­tik ent­ste­hen. Nicht zu­letzt auf­grund der geo­stra­te­gi­schen Kon­trol­le wich­ti­ger Roh­stof­fe und En­er­gie­we­ge würde den USA und der EU ein kaum zu über­win­den­des Ge­gen­ge­wicht er­wach­sen. Be­reits in den Tsche­tsche­ni­en­krie­gen stell­te Mos­kau seine Ent­schlos­sen­heit unter Be­weis, seine Au­ßen­gren­zen in der stra­te­gisch wich­ti­gen Kau­ka­sus­re­gi­on mit aller Ge­walt zu ver­tei­di­gen. Im Zuge des Ge­or­gi­en­kriegs 2008 konn­ten den west­li­chen Am­bi­tio­nen eine deut­li­che Ab­fuhr er­teilt und auch im di­plo­ma­ti­schen Tau­zie­hen um Sy­ri­en ge­gen­über den USA wich­ti­ge Punkt­sie­ge er­zielt wer­den. In der Frage der Ukrai­ne, die in den Plä­nen einer zu­künf­ti­gen „Eu­ra­si­schen Union“ eine Schlüs­sel­rol­le spielt, geht es je­doch ums Ein­ge­mach­te. „Ohne die Ukrai­ne ist Russ­land kein eu­ra­si­sches Reich mehr“, er­klär­te die graue Emi­nenz der US-​Geo­po­li­tik, Zbi­gniew Brze­zin­ski, in sei­nem Buch „Die ein­zi­ge Welt­macht: Ame­ri­kas Stra­te­gie der Vor­herr­schaft“. Da al­lein „ihre bloße Exis­tenz als un­ab­hän­gi­ger Staat zur Um­wand­lung Russ­lands“ bei­tra­ge, sei die Ukrai­ne ein „geo­po­li­ti­scher Dreh-​und An­gel­punkt“ und ge­ra­de in der jet­zi­gen Si­tua­ti­on ein ent­schlos­se­nes Auf­tre­ten des Wes­tens ge­bo­ten. Um auf alle Fälle vor­be­rei­tet zu sein, müsse die Nato ihre Not­fall­plä­ne um­set­zen und stär­ke­re Trup­pen­kon­tin­gen­te in Mit­tel­eu­ro­pa sta­tio­nie­ren.16 „Wenn die EU eine ernst­haf­te Rolle in der Welt spie­len möch­te, dann kann sie in der Ukrai­ne damit an­fan­gen“, so Brze­zin­ki wei­ter.17 Die stra­te­gi­sche Ziel­set­zung die­ser Po­li­tik ließe sich auf eine ein­fa­che For­mel brin­gen: Wer Eu­ra­si­en be­herr­sche, be­herr­sche die Welt. Dazu müsse je­doch Russ­lands Ein­fluss zu­rück­ge­drängt und letzt­lich ge­bro­chen wer­den. Russ­land wird dem lo­gi­scher­wei­se nicht ta­ten­los zu­se­hen. Der Ver­lust der Ukrai­ne wäre ein ge­wal­ti­ger Rück­schlag der ei­ge­nen Groß­macht­am­bi­tio­nen. Mos­kau wird daher alle macht­po­li­ti­schen Mit­tel aus­nut­zen, um ent­we­der eine West­in­te­gra­ti­on samt Na­to-​Mit­glied­schaft gänz­lich zu ver­hin­dern und/oder neben der Krim wei­te­re Re­gio­nen der Süd- und Ost­ukrai­ne her­aus­zu­lö­sen.

Ziem­lich beste Freun­de: Die geo­po­li­ti­sche Kri­sen­dy­na­mik

In An­be­tracht die­ser har­ten Hal­tung Russ­lands tun sich mitt­ler­wei­le Risse zwi­schen der EU und den USA auf. Wäh­rend die USA und die ost­eu­ro­päi­schen Na­to-​Staa­ten Polen, Li­tau­en, Est­land und Lett­land auf ein schär­fe­res Vor­ge­hen gegen Russ­land po­chen, setzt die Bun­des­re­gie­rung auf eine mo­de­ra­te­re Linie. Das liegt auch – aber nicht nur – am deut­schen Be­stre­ben,„di­plo­ma­ti­sche Spiel­räu­me“ er­hal­ten und nut­zen zu wol­len. Die BRD be­zieht 40% ihres Erd­ga­ses und 35% ihres Erd­öls aus Russ­land. Das In­ves­ti­ti­ons­vo­lu­men deut­scher Un­ter­neh­men be­läuft sich auf 22 Mil­li­ar­den Dol­lar. Es steht also ei­ni­ges auf dem Spiel. Das Kal­kül, die West­ein­bin­dung der Ukrai­ne mög­lichst schnell und ge­räusch­los durch­zu­zie­hen, hat sich als fa­ta­ler Trug­schluss her­aus­ge­stellt. Des­we­gen ist man nun be­müht, die Kos­ten so ge­ring wie mög­lich zu hal­ten und in der Rolle des Ver­mitt­lers an po­li­ti­schen Ge­län­de­ge­win­nen zu ar­bei­ten. Gleich­zei­tig muss man sich je­doch an­ge­sichts der in Kiew selbst ge­schaf­fe­nen Fak­ten­la­ge ein­ge­ste­hen, dass man dem rus­si­schen Bär nicht das Fell wa­schen kann, ohne ihn nass zu ma­chen.„Stufe Drei war in mei­nen Ge­dan­ken immer ent­hal­ten. Der heu­ti­ge Tag hat die­sen Ent­schluss noch be­fes­tigt“, er­klär­te Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel, nach­dem der EU-​Son­der­gip­fel am 6.3. zum ers­ten Mal seit Ende des Kal­ten Krie­ges wie­der einen mehr­stu­fi­gen Sank­ti­ons­plan gegen Mos­kau be­schlos­sen hatte.18 Den USA kön­nen die wirt­schafts­po­li­ti­schen Be­den­ken der EU und allen voran Deutsch­lands im der­zei­ti­gen Kon­flikt egal sein. Sie sind weder en­er­gie­po­li­tisch noch wirt­schaft­lich be­son­ders mit Russ­land ver­floch­ten und sehen nach den Rück­schlä­gen im Sy­ri­en­kon­flikt und den Ver­wer­fun­gen der NSA-​Af­fä­re die Chan­ce, ver­lo­re­nes Ter­rain wie­der wett­zu­ma­chen. Die Viel­stim­mig­keit und die fra­gi­le In­ter­es­sens­kon­stel­la­tio­nen der west­li­chen Staa­ten­ge­mein­schaft ma­chen die Si­tua­ti­on nicht un­ge­fähr­li­cher. Die Tat­sa­che, dass China kürz­lich den ei­ge­nen Mi­li­täre­tat um gi­gan­ti­sche 95 Mil­li­ar­den Euro auf­stock­te, zeugt von der Bri­sanz der der­zei­ti­gen geo­po­li­ti­schen Kri­sen­dy­na­mik.19 Bis­her hat sich China im Ukrai­ne­kon­flikt eher mä­ßi­gend und zu­rück­hal­tend ge­äu­ßert. Lang­fris­tig ge­se­hen würde eine West­an­bin­dung der Ukrai­ne je­doch auch wich­ti­ge wirt­schaft­li­che und stra­te­gi­sche In­ter­es­sen Pe­kings be­rüh­ren. China hat in der Ukrai­ne mil­li­ar­den­schwe­re In­ves­ti­ti­ons­pro­jek­te ge­tä­tigt und ver­folgt im Rah­men der „Shang­hai Co­ope­ra­ti­on Or­ga­ni­sa­ti­on“ eine Po­li­tik der engen wirt­schaft­li­chen und mi­li­tä­ri­schen Ko­ope­ra­ti­on mit Russ­land, um so den Ein­fluss der USA in Zen­tral­asi­en zu­rück­zu­drän­gen. Daher ist nicht davon aus­zu­ge­hen, dass Pe­king im Falle einer wei­te­ren Zu­spit­zung des Kon­flikts eine neu­tra­le Rolle ein­neh­men wird.

Es gibt keine „rich­ti­ge Seite“ im im­pe­ria­lis­ti­schen Krieg

Das ge­gen­wär­ti­ge Ge­ran­gel um „Sank­tio­nen“, „_di­plo­ma­ti­sche Lö­sun­gen“_und „mi­li­tä­ri­sche Re­ak­tio­nen“ läuft auf ein ge­fähr­li­ches Va­ban­que­spiel hin­aus. Ein Spiel, wel­ches mit hohen Ein­satz und wech­seln­den Al­li­an­zen ge­spielt wird. Ein Spiel, bei dem sich letzt­lich jeder selbst der nächs­te ist. Die Schlag­wor­te „ter­ri­to­ria­le In­te­gri­tät“, „Völ­ker­recht“ und „staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät“ stel­len dabei (wie immer) nur die ideo­lo­gi­sche Be­gleit­mu­sik dar. Den Takt gibt die Krise vor, die sich ent­ge­gen aller Ver­laut­ba­run­gen po­ten­ziert und die Aus­ein­an­der­set­zung der Herr­schen­den um Macht und Ein­fluss­zo­nen auf die Spit­ze ge­trie­ben hat. Das der­zei­ti­ge Schla­mas­sel ist also nicht ein­fach nur das Werk ein­zel­ner Staa­ten oder fehl­ge­lei­te­ter Po­li­ti­ker, son­dern „ Pro­dukt eines be­stimm­ten Rei­fe­gra­des in der Welt­ent­wick­lung des Ka­pi­tals, eine von Hause aus in­ter­na­tio­na­le Er­schei­nung, ein un­teil­ba­res Gan­zes, das nur in allen sei­nen Wech­sel­be­zie­hun­gen er­kenn­bar ist und dem sich kein ein­zel­ner Staat zu ent­zie­hen ver­mag“ (Rosa Lu­xem­burg) Des­halb wäre es fatal zu mei­nen, „eine rich­ti­ge Seite“ wäh­len, oder auf „ein klei­ne­res Übel“ hof­fen zu kön­nen. Wenn vor­geb­li­che „Linke“ im ukrai­ni­schen Macht­po­ker Seite be­zie­hen, und dies wahl­wei­se mit „ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­sen“ auf dem Mai­dan, dem „na­tio­na­len Selbst­be­stim­mungs­recht“, oder der an­geb­lich „an­ti­fa­schis­ti­schen“ Stoß­rich­tung von Pu­tins Po­li­tik be­grün­den, zei­gen sie nur ein­mal mehr, dass sie Teil des Pro­blems sind. Der­ar­ti­ge „tak­ti­sche Po­si­tio­nie­run­gen“ sind fest mit dem In­ter­pre­ta­ti­ons­rah­men der Herr­schen­den ver­wach­sen und tra­gen mit dazu bei, die Ver­hält­nis­se ideo­lo­gisch zu ze­men­tie­ren. Die Ver­tei­di­gung von „Na­ti­on“ und_„Va­ter­land“_ be­deu­tet immer und über­all die Ver­tei­di­gung des Ka­pi­ta­lis­mus, eines Ge­sell­schafts­sys­tems, wel­ches die Mensch­heit immer wei­ter in Chaos, Krie­ge und Bar­ba­rei treibt. Es gibt kei­nen ir­gend­wie „fort­schritt­li­chen“ oder „ge­sun­den“ Na­tio­na­lis­mus. Der Na­tio­na­lis­mus mag die un­ter­schied­lichs­ten Er­schei­nungs­for­men an­neh­men, er läuft je­doch immer und über­all auf die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den eig­nen Aus­beu­tern und die Un­ter­ord­nung des Pro­le­ta­ri­ats unter die Be­lan­ge von Staat und Ka­pi­tal hin­aus. Der ein­zi­ge Aus­weg aus dem Di­lem­ma be­steht darin, sich von „der Vor­mund­schaft der Bour­geoi­sie, die sich in dem Ein­fluss der na­tio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie äu­ßert“ (Rosa Lu­xem­burg) frei­zu­ma­chen, auf Na­ti­on und Stand­ort zu pfei­fen, und den Kampf für die ei­ge­nen In­ter­es­sen auf­zu­neh­men. Streik­kämp­fe und so­zia­le Be­we­gun­gen, die sich der Kon­trol­le von Staat und Ge­werk­schaf­ten ent­zie­hen, waren schon immer die ein­zig rea­lis­ti­sche Frie­dens­ar­beit. Dies er­for­dert einen or­ga­ni­sa­to­ri­schen Rah­men, den Auf­bau einer in­ter­na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­lis­ti­schen kom­mu­nis­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­on, die in der Lage ist, eine Per­spek­ti­ve aus der ka­pi­ta­lis­ti­schen To­des­spi­ra­le von Krise und Krieg auf­zu­zei­gen. Das alles wird nicht ein­fach sein. An­ge­sichts der ent­fes­sel­ten De­struk­tiv­kräf­te des Ka­pi­ta­lis­mus gibt es je­doch keine an­de­re Al­ter­na­ti­ve. „Der Wahn­witz wird erst auf­hö­ren und der blu­ti­ge Spuk der Hölle wird ver­schwin­den, wenn die Ar­bei­ter (…) end­lich aus ihrem Rausch er­wa­chen, ein­an­der brü­der­lich die Hand rei­chen und den bes­tia­li­schen Cho­rus der im­pe­ria­lis­ti­schen Kriegs­het­zer wie den hei­se­ren Schrei der ka­pi­ta­lis­ti­schen Hyä­nen durch den mäch­ti­gen Schlacht­ruf der Ar­beit über­don­nern: Pro­le­ta­ri­er aller Län­der, ver­ei­nigt euch!“, schrieb Rosa Lu­xem­burg vor bei­nah hun­dert Jah­ren mit­ten in den Wir­ren des im­pe­ria­lis­ti­schen Welt­kriegs. Worte, die ge­ra­de heute nicht an Ak­tua­li­tät ver­lo­ren haben. JW

1) Siehe dazu ​www.​state.​gov

2) n-tv.​de

3) ​www.​timesofisrael.​com

4) ​www.​jewishpress.​com

5) ​www.​wsws.​org

6) Be­richt des rus­si­schen Fern­seh­sen­ders Ros­si­ja 1: ​www.​youtube.​com Siehe auch:​www.​worldjewishcongress.​org

7) In­ter­view im Focus vom 21.​Dezember 2013

8) ​dip21.​bundestag.​de

9) Elmar Brok blickt auf eine stei­le Kar­rie­re zu­rück. 2007 wurde er sogar zum „Pfei­fen­rau­cher des Jah­res“ ge­kürt. Der Eu­ro­pa­po­li­ti­ker ist schon län­ger in der Ukrai­ne en­ga­giert und setz­te sich für die Frei­las­sung Ti­mo­schen­kos ein. Sein En­ga­ge­ment für De­mo­kra­tie und Men­schen­rech­te in Kiew kom­bi­nier­te mit Bor­dell­be­su­chen, um sich dann ab­fäl­lig über ukrai­ni­sche Frau­en zu äu­ßern. Die Grup­pe FEMEN nahm ihm das übel: ​femen.​org . Nach An­sicht Broks sei FEMEN le­dig­lich einer Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne der ukrai­ni­schen Re­gie­rung auf­ge­ses­sen. Mit Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen kennt sich Brok je­den­falls aus. So nutz­te er seine guten Kon­tak­te zum FAZ-​Her­aus­ge­ber Gün­ther Non­nen­ma­cher, um einen Jour­na­lis­ten der kri­tisch über ihn be­rich­te­te mund­tot zu ma­chen. Von der „Zei­tung für Deutsch­land“ wurde das na­tür­lich prompt de­men­tiert.

10) ​daserste.​ndr.​de

11) ​www.​faz.​net

12) ​www.​auswaertigesamt.​de

13) ​www.​tagesschau.​de

14) Wal­ter Mogk: Paul Rohr­bach und das “Grö­ße­re Deutsch­land”. Ethi­scher Im­pe­ria­lis­mus im Wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ter, Mün­chen 1972

15) ​www.​spiegel.​de

16) ​www.​washingtonpost.​com

17) ​www.​huffingtonpost.​com

18) Ber­li­ner Zei­tung, 7.​3.​2014

19) ​www.​eurasischesmagazin.​de

Thursday, March 20, 2014