1871-2021: Vive la Commune!

Es gibt gewisse Ereignisse in der Geschichte der Arbeiterklasse, die als bleibender und unwiderruflicher Einschnitt das kommunistische Programm prägen und unverzichtbar sind. Wir verstehen sie als die Errungenschaften und Lehren aus früheren Kämpfen unserer Klasse. Das Jahr 1871 ist eines dieser Ereignisse. Am 18. März, vor 150 Jahren, übernahmen die Arbeiter in Paris die Stadt und erprobten 72 Tage lang die gesellschaftliche Umgestaltung.

Der französisch-preußische Krieg

Das Europa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde durch das Gespenst der Revolutionen von 1848 geprägt. In Frankreich errichtete Napoleon III. seine Diktatur auf den Leichen des Proletariats, das sich während der Junitage erhoben hatte, und versprach, das französische Kaiserreich wieder herzustellen. In Deutschland, welches immer noch aus 39 einzelnen Staaten bestand, war die liberale Revolution von 1848 gescheitert. Es war die Kaste der preußische Militärjunker unter der Führung von Bismarck, der Deutschland in ein Korsett pressen und vereinigen würde, um die Monarchie wieder herzustellen und die eigenen Klassenpositionen zu zementieren. Der Französisch-Preußische Krieg, der 1870 nach den Siegen Preußens über Dänemark und Österreich folgte, war der letzte Akt in Bismarcks Realpolitik, die er seit Anbeginn seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1862 in Angriff nahm. Napoleon III. wurde zu einer Kriegserklärung an Preußen verleitet, als Bismarck die Emser Depesche veröffentlichte, aus der hervorzugehen schien, dass der französische Botschafter vom preußischen König rüde abgewiesen worden wäre. Nationalisten demonstrierten in Paris und skandierten "à Berlin" (auf nach Berlin), so dass Napoleon III. am 28. Juli die französische Armee in Richtung Rhein führte, während sich die Preußen und ihre Verbündeten in den kleineren deutschen Staaten massiv an der französischen Grenze zu sammeln begannen. In den darauffolgenden Wochen erlitt die schlecht organisierte und manövrierunfähige französische Armee, eine Niederlage nach der anderen, bis am 2. September Napoleon III. selbst in der Schlacht von Sedan gefangen genommen wurde.

Mit der Abdankung Napoleons III. brach das zweite französische Kaiserreich faktisch zusammen. In Paris brach Panik aus, und zwei Tage später wurde eine provisorische Regierung der Nationalen Verteidigung von Mitgliedern der Nationalversammlung, darunter linken und rechten Republikaner, gebildet, die eine Dritte Republik ausriefen und sich verpflichteten den Krieg fortzusetzen. Die Ereignisse in Paris änderten den endgültigen Verlauf des Krieges nicht. Ab dem 19. September stand Paris unter Belagerung. Am 31. Oktober beschloss die Provisorische Regierung, Verhandlungen mit den Preußen aufzunehmen, was auf heftige Proteste der Bevölkerung stieß.

In Lyon war Bakunin dabei, einen Aufstand anzuzetteln - am 28. September besetzten er und seine Genossen das Rathaus, proklamierten die Abschaffung des Staates und verkündeten die Bildung einer revolutionären Konvention zur Rettung Frankreichs. Da sie wenig Unterstützung fanden, wurden die Revolutionäre noch am selben Tag auseinandergetrieben, und Bakunin brach nach Marseille auf, wo er versuchte, einen weiteren Aufstand anzuzetteln, der ebenso schnell endete. Bakunin musste sich in die Schweiz absetzen.

In der Zwischenzeit gründete Blanqui, der bereits im Januar und August bewaffnete Demonstrationen organisiert hatte, die republikanische Zeitung La Patrie en danger („Das Vaterland in Gefahr“) und übernahm am 31. Oktober eine führende Rolle bei der Organisation der revolutionären Elemente der Pariser Arbeiter und der Nationalgarde für den Sturz der Provisorischen Regierung wegen Verrats an der französischen Sache. Blanqui und seine Genossen besetzten das Rathaus (Hotel-de-Ville), kündigten die Bildung eines Komitees für öffentliche Sicherheit an, um bald darauf ebenfalls verhaftet zu werden. Blanqui ging in den Untergrund, wo er weiterhin gegen die provisorische Regierung intrigierte, bis er schließlich am 17. März 1871 in Bretenoux verhaftet wurde.

Die Provisorische Regierung hielt den Stürmen bis ins neue Jahr stand. Am 18. Januar 1871, nachdem er den deutschen Nationalismus aufgepeitscht und die Franzosen gedemütigt hatte, erreichte Bismarck schließlich sein Ziel - die Vereinigung Deutschlands. Währenddessen wurden in Paris weitere Aufstandsversuche, wie die bewaffnete Demonstration der Blanquisten am 22. Januar (an der neben anderen Edouard Vaillant und Louise Michel teilnahmen), abgewehrt und führten zu weiteren politischen Repressionen. Aber die Versuche der Provisorischen Regierung, in den Provinzen Armeen aufzustellen, reichten nicht aus, um Paris zu retten, und die Belagerung setzte sich fort (ebenso wie die Friedensverhandlungen mit Preußen). Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 8. Februar in den Departements, die nicht von den Preußen besetzt waren, errangen die Monarchisten eine Mehrheit und wenige Tage später wurde der konservative Adolphe Thiers zum Chef der Exekutive der Französischen Republik ernannt. Er unterzeichnete am 26. Februar 1871 den Vertrag von Versailles, der den Französisch-Preußischen Krieg beendete.

Nun wurden diejenigen, die die Hoffnung hegten, dass das Ende der Krisen erreicht wäre, innerhalb kürzester Zeit enttäuscht. Der Siegesmarsch der deutschen Truppen durch Paris und die Anordnung die Nationalgarden zu entwaffnen rief große Unzufriedenheit hervor. Die in diesem Punkt von der provisorischen Regierung desillusionierte Nationalgarde sammelte Kanonen und Waffen in den Quartieren, die von der Arbeiterklasse bewohnt waren und wählte ihr eigenes unabhängiges zentrales Komitee. Als Thiers die reguläre Armee aussandte, um sie durch Gewalt und Zwang zu entwaffnen und in der Stadt für Ruhe und Ordnung zu sorgen, weigerten sich zahlreiche Soldaten und richteten stattdessen ihre Gewehre auf ihre Befehlshaber. Die provisorische Regierung zog sich nach Versailles zurück. Das Leben der Pariser Commune hatte begonnen.

Die Proletarier von Paris überdrüssig des Versagens und des Verrats der herrschenden Klassen, haben verstanden das die Stunde geschlagen hat, um ihre Situation in die eigenen Hände zu nehmen und die öffentlichen Angelegenheiten selbst zu regeln... Sie haben verstanden, dass es ihre dringende Pflicht ist, und ihr absolutes Recht über sich selbst zu bestimmen und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, indem sie selbst die Regierung stellen.

Zentrales Komitee der Nationalgarde, 18.März 1871

Die Erste Internationale

An dieser Stelle lohnt es sich kurz die politischen Tendenzen zu skizzieren, die zur damaligen Zeit die Arbeiterbewegung ausmachten. Die treibende Kraft war hier natürlich die 1864 gegründete Erste Internationale, ein loser Zusammenschluss von Gewerkschaftern, Republikanern und verschiedenen Radikalen, darunter Anarchisten und Kommunisten, in der Marx eine führende Rolle spielte.Tatsächlich war es Marx' Berichterstattung über den Deutsch-Französischen Krieg und die Pariser Kommune, die zunächst als Schriften an den Generalrat der Internationale gerichtet und später als die Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871) veröffentlicht wurde, die von der Weltöffentlichkeit als die entschiedenste Verteidigung der Commune wahrgenommen wurde und Marx zum „bestverleumdete[n] und meistbedrohte[n] Mann von London“ machte. (1)

In Deutschland prangerten die Mitglieder der Internationale, Wilhelm Liebknecht und August Bebel, im Namen der deutschen Sozialdemokratie den Krieg im Reichstag an, enthielten sich bei der Abstimmung über die Kriegsanleihen und drückten ihre Sympathie für die Kommune aus. Dafür wurden sie später des Hochverrats für schuldig befunden. In allen deutschen Städten fanden Massenversammlungen von Arbeitern statt, die Antikriegsresolutionen verabschiedeten. In Frankreich, wo die Internationale nur eine marginale Kraft war, die von ständigen Repressionen und Prozessen geplagt wurde, veröffentlichte die Pariser Sektion nichtsdestotrotz ein Manifest gegen den Krieg und richtete einen Appell an die deutschen Arbeiter. Nach dem September 1870 - dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs und der Gründung der Dritten Republik - wurde die Internationale in Paris wiederbelebt, und es wurden neue Komitees in verschiedenen Bezirken der Stadt gegründet. Dennoch gab es, wie Auguste Serrailler berichtete, viel Desorganisation, und nicht alle vertraten internationalistische Positionen (die Blanquisten und Proudhonisten weigerten sich, eine Übersetzung von Marx' zweiter Schrift an die Internationale zu veröffentlichen, da sie sie für "zu preußisch" hielten). Im Großen und Ganzen war die offizielle Politik der Internationale jedoch die des Friedens und gegen die Annexion von Elsass-Lothringen durch Deutschland. Die Internationale versuchte, die Arbeiter nicht nur in den beiden kriegführenden Nationen, sondern auch in England und Amerika für dieses Ziel zu mobilisieren.

In Paris beherrschte das republikanische Erbe von 1789, 1830, 1832 und 1848 das politische Leben in stärkerem Maß. Es waren die Ideen von Proudhon und Blanqui. Revolutionäre der vorangegangenen Generation, die die Arbeiterbewegung noch immer dominierten. Als die Kommune, der vom Zentralkomitee der Nationalgarde die Macht übertragen wurde, am 26. März ihre erste Wahl abhielt, erhielten die Mitglieder der Internationale nur siebzehn der zweiundneunzig Sitze, weil die Mehrheit an die Blanquisten ging. Blanqui selbst war der Lage der Dinge entsprechend nur ein paar Tage vor der Gründung der Kommune verhaftet worden, wurde aber in Abwesenheit zu ihrem Ehrenpräsidenten gewählt. Alle Versuche der Kommunarden, Geiseln im Austausch gegen die Freilassung Blanquis auszutauschen, wurden abgewiesen. Die Blanquisten hofften im Wesentlichen auf eine Militärdiktatur, die die nutzlose Provisorische Regierung ersetzen und den Krieg mit Preußen fortsetzen sollte. Die Anhänger Proudhons wollten eine Föderation von Kommunen, in denen Arbeit und Kapital gemeinsam koexistieren konnten, und mieden eine Beteiligung an politischen und wirtschaftlichen Kämpfen. Wie Engels jedoch feststellte, waren beide Strömungen angesichts der realen Bewegung zeitweise gezwungen, „das Gegenteil von dem [zu tun], was ihre Schuldoktrin vorschrieb.(2)

„Den Himmel stürmen“

Die Revolution vom 18. März stellt die Erringung der politischen Macht durch das Proletariat dar, so wie die Revolution von 1789 die Erringung der politischen Macht durch die Bourgeoisie darstellte.

Vermorel, L'ami du peuple, 24. April 1871

...für die vollkommene soziale Revolution, für die Abschaffung aller bestehenden sozialen und rechtlichen Strukturen, für die Beseitigung aller Vorrechte und Formen der Ausbeutung, für die Ersetzung der Herrschaft des Kapitals durch die Herrschaft der Arbeit... in Kürze, für die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst.

Vereinigung der Frauen für die Verteidigung von Paris und für die Hilfe der Verwundeten, 8. März 1871

So die Erklärung einiger Kommunarden. Aber die Pariser Kommune hatte nur begrenzte Zeit die unterschiedlichen Ideen in konkrete Taten umzusetzen. In den 72 Tagen ihrer Existenz wurde eine ganze Anzahl an Erklärungen verfasst. Obwohl nur vierzwanzig Mitglieder der Kommune Arbeiter waren, ist klar, dass die Mehrheit der Dekrete, wenn auch begrenzt, darauf abzielte, das Leben des Pariser Proletariats zu erleichtern:

  • 19. März: das Zentrale Komitee der Nationalgarde ordnet Neuwahlen für die Körperschaft einer neuen Regierung an - die Pariser Kommune;
  • 30. März: Die Kommune stellte ein Moratorium zur Bezahlung der Mieten vor. Das stehende Heer und die Wehrpflicht werden abgeschafft;
  • 2. April: Die Kommune ordnet die Trennung von Kirche und Staat an. Die Gehälter aller Mitglieder der Regierung und ziviler Dienste werden auf den Durchschnittslohn eines Handwerkers gesenkt
  • 12. April: Die Kommune verabschiedet ein Moratorium über die Einstellung der gerichtlichen Einziehung von Schulden;
  • 16. April: Die Kommune beschließt die Konfiszierung zurückgelassener Fabriken und Arbeitsstätten und überführt den Besitz den Kooperativen der Arbeiter;
  • 25. April: die Kommune legt fest, dass freigewordene Wohnräume konfisziert werden;
  • 27. April: die Kommune verbietet es Unternehmern Löhne durch Strafzahlungen herabzusetzen;
  • 28. April: die Kommune trifft den Beschluss, dass Bäckereiarbeiter nicht weiter nachts arbeiten müssen;
  • 1.Mai: die Kommune entscheidet mit 45 zu 23 Stimmen der Delegierten die Gewalt einem öffentlichen Wohlfahrtsausschuss zu übergeben;
  • 7. Mai: die Kommune trifft die Entscheidung das Besitztümer in Händen von Pfandhäusern vergesellschaftet werden;
  • 12. Mai: die Kommune beschließt, das Arbeiterkooperativen bei der Vergebung von Aufträgen bevorzugt werden.

Vor Ort entstanden auf Initiative der arbeitenden Klasse unzählige Komitees, Versammlungen und Gewerkschaften, Kooperativen, Debattierclubs, Demonstrationen und Gesellschaften gegenseitiger Hilfe. Die Kommune arbeitete mit diesen Formen der Selbstorganisation zusammen. Am 15. April beschlossen Vollversammlungen der Arbeiter einige Betriebe zu übernehmen und sie genossenschaftlich zu betreiben. Am 16. April verabschiedete die Kommune ein Dekret, das den Arbeitern die notwendigen Requisitionsaufträge erteilte. Es gab Versuche das Erziehungssystem und die Wissenschaften zu reformieren. Eine Anzahl symbolischer Aktionen fand statt: so wurde die Guillotine außerhalb Paris' in Stücke geschlagen und verbrannt, gleichermaßen wurde die Vendome-Säule, ein verhasstes Kriegssymbol am 16. Mai gestürzt. Im Geiste des Internationalismus erklärte die Kommune die rote Fahne zur Flagge der weltweiten Republik, was weit mehr als irgendein beliebiges Lippenbekenntnis war. Jaroslaw Dabrowski, ein polnischer Militäroffizier und Teilnehmer des Januaraufstands von 1863 wurde zum Oberbefehlshaber der Kommune gewählt. Léo Fränkel, ein ungarisches Mitglied der Internationale und enger Kontakt von Marx wurde zum Arbeitsminister gewählt. Die Frauenunion zur Verteidigung von Paris sowie zur Hilfe Verwundeter wurde von Nathalie Lemel, einem französischen Mitglied der Internationale und von Beruf Buchbinderin, sowie von Elisabeth Dmitrieff, einem russischen Mitglied der Internationale und ebenfalls in Korrespondenz mit Marx, geleitet. Dies betont die Gleichstellung der Geschlechter und organisierter Frauen für die sozialistische Sache.

Prosper-Olivier Lissagaray beschrieb die Szenen, welche er bei den Kommunalwahlen am 26 März beobachtete, folgendermaßen:

Wer noch den Monat zuvor verzweifelte, strahlte jetzt vor Begeisterung. Man begrüßte sich, man drückte sich die Hände, ohne sich zu kennen. Oh, wir waren keine Fremden, wir waren Kinder desselben Willens, desselben Glaubens, derselben Liebe. [...] Den anderen Tag kamen zweihunderttausend dieser Elenden auf das Stadthaus, um die Gewählten in ihr Amt einzusetzen. Die Bataillone zogen unter Trommelwirbel, die phrygische Mütze über der Fahne, die rote Troddel am Gewehr, durch Liniensoldaten, Artilleristen und Matrosen, welche treu zu Paris hielten, verstärkt, durch alle Straßen bis auf den Grèveplatz wie die tausend Bäche eines Riesenstromes. [...] Ein einziger Ruf aus der tiefsten Brust von zweihundertausend Menschen ist die Antwort. 'Es lebe die Kommune!' Die Käppis tanzen auf den Bajonettspitzen, die Fahnen werden geschwenkt. Aus den Fenstern, auf den Dächern lassen Tausende von Händen weiße Tücher wehen. Die schnell aufeinander folgenden Kanonenschüsse, die Musikchöre, die Zinken, die Trommeln, mischen sich zu einem einzigen ungeheuren Schall. Alle Herzen jauchzen, Tränen glänzen in den Augen. Seit der großen Föderation war das Herz von Paris nie so gewaltig erschüttert worden. [...] Dieser Blitzstrahl hätte Blinde sehend gemacht. Zweihundertsiebenundzwanzigtausend Wähler, zweihundert Menschen, die wie aus einem Munde ihre Stimme erheben - das war kein geheimes Komité, keine Handvoll Aufwiegler und Straßenräuber, wie man seit zehn Tagen behauptete. Es war eine ungeheure Kraft im Dienste einer bestimmten Idee: die kommunale Unabhängigkeit, die Grundlage des geistigen Lebens von Frankreich. Eine unberechenbare Kraft in dieser Stunde allgemeiner Schwäche [...](3)

Diese Volksbewegung, der die arbeitende Klasse von Paris eine praktische Führung gab, deren geistiger Geburtshelfer die Internationale wurde, war eine Kampfansage an Thiers und Co. Die alte Welt gruppierte sich neu, während Paris jubelte.

Die "blutige Woche" der Konterrevolution

Als sich die Nachrichten von der Pariser Kommune in den Provinzen verbreiteten, wurden überall in Frankreich Versuche unternommen, ähnliche Kommunen zu gründen: In Lyons, Marseilles, Toulouse, Narbonne, Saint-Etienne, Le Creusot und Limoges. Keine dieser Kommunen überlebte eine längere Zeit. Paris sollte bald eine noch größere Tragödie erleben. Im Nachhinein ist es immer einfacher, die Fehler unserer Vorgänger zu kritisieren, aber einige davon waren schon damaligen Zeitgenossen, Beobachtern wie TeilnehmerInnen offensichtlich. Die Kommune konnte das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital nicht aufheben und auch keineswegs alle Unterdrückung beseitigen. Es wäre absurd zu erwarten, dass sie den Sozialismus in einer einzigen Stadt einführen würden.

Aber die vorherrschenden Ideen der Bewegung (Proudhonismus und Blanquismus) hielten sie mehr als nötig zurück. Oft bedurfte es des Drucks von unten, damit die Kommune tatsächlich in das Recht auf Privateigentum eingriff (daher das Zögern, die Staatsbank zu übernehmen). Viele der neuen Genossenschaften funktionierten in der Praxis nicht anders als die kapitalistischen Unternehmen, mit denen sie hätten abschließen müssen (daher blieben die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten lang). Und obwohl die arbeitenden Frauen an der Basis eine bedeutende Arbeit leisteten, war es ihnen nicht erlaubt zu wählen und so hatten sie keine direkte Vertretung in den höheren Gremien der Kommune (obwohl beispielsweise Fränkel und Vaillant sich für ihre Sache stark machten).

Aber der letztendliche Untergang der Kommune wird oft auf Unentschlossenheit, verschwendete Zeit und fehlende Orientierung zurückgeführt. Das Zentralkomitee der Nationalgarde hielt sich nicht für ausreichend befugt, um zu handeln, und ging als solches daran, die Wahlen zur Kommune zu organisieren. Die Kommune spaltete sich entlang der Frage des Komitees der öffentlichen Sicherheit in eine Mehrheit und eine Minderheit, diskutierte und verabschiedete Dekrete. In der Zwischenzeit wurde Versailles die Gelegenheit gegeben, seine Kräfte zu sammeln. Und als es so weit war hatte die Kommune kein diplomatisches Druckmittel mehr, außer einem Haufen Geiseln. Marx sollte später kommentieren:

Sie werden mich vielleicht auf die Pariser Kommune verweisen; aber abgesehen davon, dass dies bloß Erhebung einer Stadt unter ausnahmsweisen Bedingungen war, war die Majorität der Kommune keineswegs so[zial]istisch, konnte es auch nicht sein. Mit geringem Quantum common sense hätte sie jedoch einen der ganzen Volksmasse nützlichen Kompromiss mit Versailles - das allein damals Erreichbare - erreichen können. Die Appropriation der Banque de France allein hätte der Versailler Großtuerei ein Ende mit Schrecken gemacht.(4)

Selbiges wurde auch schon von Teilnehmern der Kommune geäußert. Die Kommune hätte nur eine Chance gehabt, wenn sie rechtzeitig zugeschlagen hätte, als Versailles noch in Schockstarre war. Danach konnte sie nur noch auf einen ausgehandelten Kompromiss hoffen. Anfang April hatte Thiers wieder die militärische Oberhand. Seine Truppen wurden verstärkt, als Bismarck umgehend französische Kriegsgefangene frei ließ und die Armee mit Rekruten aus den Provinzen verstärkt werden konnte. Unter Napoleon III. hatte sich Paris von einer Stadt mit engen Straßen, ideal für die Errichtung von Barrikaden, in eine Stadt mit breiten Alleen und Boulevards verwandelt, die Truppenbewegungen des Militärs erleichterten. Anders als am 18. März erwies sich der Versuch, sich mit den Truppen zu verbrüdern, als vergeblich. Trotz der tapferen Haltung vieler Kommunarden konnten die Kommune nicht standhalten. Thiers' Armee war rücksichtslos und massakrierte dort wo sie siegreich war die Besiegten. Aus Verzweiflung richteten die Kommunarden 63 Geiseln hin und setzten Teile von Paris in Brand. Dies war der sogenannte "rote Terror". Das volle Ausmaß des "weißen Terrors" sollte erst noch entfesselt werden:

So dauerte das methodisch regelrechte Gemetzel an der Kaserne Dupleix, am Lyceum Bonaparte, am Nord- und Ostbahnhof, im Jardin des Plantes, in vielen Rathäusern und Kasernen, mit den übrigen Schlächtereien wetteifernd, fort. Große Möbelwagen mit Gittertüren holten die Leichen und leerten ihren Inhalt auf dem nächsten Square [Straßenzug, d. Übers.] oder sonstigem leeren Platz aus. Die Opfer starben schlicht, ohne Prahlerei. Viele kreuzten die Armee vor den Flinten und kommandierten Feuer. Frauen und Kinder folgten ihren Gatten und Vätern, indem sie den Soldaten zuriefen: "Erschießt uns auch!" Und man erschoss sie wirklich. [...] Da die Armee weder eine Polizei noch genauere Unterweisungen hatte, so tötete sie blindlings. Der erste beste Vorübergehende, der einen anderen mit revolutionärem Namen anredete, gab Veranlassung, dass derselbe alsbald von den nach der Prämie lüsternen Soldaten erschossen wurde.(5)

Das Massaker kulminierte in der "semaine sanglante" ("blutigen Woche") vom 21. bis 28. Mai. Mehr als 20 000 Kommunarden und jene, von denen man annahm, dass sie welche seien, wurden in den Straßen von Paris von Thiers' Truppen abgeschlachtet. Etwa 40 000 wurden gefangen genommen; von diesen Tausenden wurden Weitere hingerichtet, deportiert, eingekerkert oder zur Zwangsarbeit gezwungen. Die Bourgeoisie zeigte kein Erbarmen. Die Arbeiterbewegung in Frankreich wurde mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sie sich davon erholte. Die Hoffnungen der Proletarier richteten sich nun auf das vereinigte Deutschland, wo sich die Bedingungen für die Entwicklung einer Arbeitermassenpartei eröffneten. Dies sollte jedoch, wie sich zeigte, später neue Probleme aufwerfen.

Revolutionärer Marxismus und die Pariser Kommune

Marx selbst war durchaus pessimistisch, was die Aussichten eines Aufstandes in Paris anging. Als dieser aber ausbrach, stellte er sich natürlich mit seinem ganzen Gewicht hinter ihn. Was die Kommune außergewöhnlich machte, waren nicht die recht begrenzten Reformen, die sie verabschiedete, sondern ihr Charakter als "eine dem Wesen nach echter Regierung der Arbeiterklasse". Das Beispiel zeigte, dass die arbeitende Klasse willens und fähig ist ihr eigenes Schicksal selbst zu gestalten. Damit gab sie der internationalen Arbeiterklasse ein herausragendes Beispiel sowie einen Orientierungspunkt. Eines der wesentlichen Merkmale der marxistischen Methode ist, dass wir nicht ewige Prinzipien aufstellen oder utopische Schemata entwerfen, sondern von und mit der realen Bewegung lernen. Das Bewusstsein, dass die gesellschaftliche Transformation zur "freien Assoziation" schließlich die Abschaffung des Staates zur Folge haben würde, war in den Werken von Marx schon vor der Pariser Kommune angelegt. Hier brauchen wir nur Die deutsche Ideologie (1845) zu zitieren, wo Marx erkannte, . Hier brauchen wir nur Die deutsche Ideologie (1845) zu zitieren, wo Marx erkannte, dass die Proletarier „ihre eigne bisherige Existenzbedingung [...] aufheben“ müssen, was auch bedeutete, dass "_sie den Staat stürzen “_müssen, oder Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), wo Marx beobachtete, wie seit der Französischen Revolution von 1789 "alle Revolutionen diese [Staats-]Maschine vervollkommneten, statt sie zu zerbrechen", wie die streitenden Parteien einfach „die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Siegers“ betrachteten.

Die Pariser Kommune war das erste praktische Beispiel für das "Aufbrechen" dieser Staatsmaschinerie - sie schaffte die stehende Armee ab, sie fegte das bürgerliche Parlament beiseite. An seiner Stelle errichtete sie etwas qualitativ anderes (wenn auch mit den Geburtsmalen der alten Gesellschaft). Die Pariser Kommune half Marx, zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass:

die Arbeiterklasse (…) nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.(6)

Diese Einsicht war so wichtig, dass die berühmten zehn Punkte, die schon im Kommunistischen Manifest (1848) vorgeschlagen wurden und die sofortigen Maßnahmen zur Zentralisierung des Staates forderten, nun als antiquiert galten „gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune“ (7)

Engels sollte später kommentieren:

In letzter Zeit ist der sozialdemokratische Spießer wieder mit heilsamem Schrecken erfüllt bei den Worten: Diktatur des Proletariats. Gut und schön, meine Herren, wollen Sie wissen, wie diese Diktatur aussieht? Schauen Sie sich die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.(8)

Dies wurde im Zusammenhang mit den revisionistischen Debatten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zu dieser Zeit geschrieben. Nachdem Marx 1883 gestorben war, war die Bahn frei für reformistische Elemente, den Marxismus allmählich seines revolutionären Kerns zu berauben. In seinen letzten Lebensmonaten wurde sogar selbst Engels vom Parteiapparat zensiert. Die Lektionen, die man in Paris gelernt hatte, wurden bald vergessen oder absichtlich verschleiert. Einer neuen Generation von Revolutionären sollte die Aufgabe zufallen, in einer Welle von Erhebungen der Arbeiterklasse den Marxismus gegen die sogenannten „Marxisten“ zu verteidigen. Diese Tendenz fand ihren Ausdruck in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917. 1905 entdeckten die russischen Arbeiter die Räte der Arbeiterdelegierten (d. h. die Sowjets), die von den Arbeitern, die sie wählten, jederzeit abrufbar waren. Dies war ein enormer Fortschritt gegenüber der bürgerlichen repräsentativen Demokratie, in der die gewählten Vertreter für einen bestimmten Zeitraum im Amt sind, während die Wähler keine Kontrolle über sie haben. Als die Sowjets 1917 wieder erstanden, unterstützten die Bolschewiki am lautesten die Idee, dass sie die Führung der Gesellschaft als alternative Macht zur bürgerlichen Provisorischen Regierung übernehmen sollten. Am 7. November wurde die Parole "Alle Macht den Sowjets" in der Oktoberrevolution verwirklicht. Da der Repressionsapparat des alten Regimes faktisch gelähmt war, warteten die Roten Garden nicht ab, um gegen „ihr Versailles“ vorzugehen - Regierungsbüros wurden besetzt und der Winterpalast eingenommen. Darüber hinaus besetzten sie nicht nur Bahnhöfe, die Telefonzentrale und die wichtigsten Brücken der Stadt, sondern auch die Staatsbank. Es war Ministerpräsident Kerenski, der ins Ausland fliehen musste. Dieses Vorgehen war kein Zufall- revolutionäre Marxisten wie Lenin hatten die Jahre damit verbracht, die Lehren von 1848 über 1871 bis 1917 am Leben zu erhalten:

Die Kommune hat das europäische Proletariat gelehrt, die Aufgaben der sozialistischen Revolution konkret zu stellen. Die Lektionen, die das Proletariat erhalten hat, werden nicht vergessen sein. Die Arbeiterklasse wird davon Gebrauch machen, wie sie es bereits in Russland während des Dezemberaufstandes (1905) getan hat.(9)

In den nächsten darauffolgenden Monaten förderten die Bolschewiki aktiv die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Russland. Wenn die Pariser Kommune das erste Mal war, dass sich die Arbeiterklasse erhob, um die herrschende Klasse in einer Stadt zu stürzen, so war die Russische Revolution das erste und bisher einzige Mal, dass sich die Arbeiterklasse erhob, um die herrschende Klasse in einem großen imperialistischen Land zu stürzen. Dies war jedoch nicht ihr einziges Ziel. Die Bolschewiki waren Internationalisten und sie wussten, dass die Revolution, um Bestand zu haben, auf andere Länder übergreifen musste. Eine Revolution nach der anderen scheiterte jedoch und wurde in Deutschland, Ungarn, Finnland, China usw. niedergeschlagen. Die Kommunarden verloren ehrenvoll, indem sie von der Konterrevolution niedergeschlagen wurden. Bei den Bolschewiki war das anders. Sie fanden sich als Verwalter eines staatskapitalistischen Monstrums wieder, das sie schließlich fast vollständig in sich aufsaugen sollte.

Heute halten wir die Lehren von 1871 und 1917 lebendig. Die internationale Arbeiterklasse, jetzt größer als je zuvor, hat immer noch das Potenzial, das kapitalistische System zu entwurzeln und den Weg zu einer wahrhaft menschlichen Zukunft zu ebnen. Seit den Tagen der Kommunarden hat der Kapitalismus alle Arten von sozialem Elend produziert und ist von Krise zu Krise getaumelt. Die herrschende Klasse hat keine Lösung für die aktuelle Wirtschaftskrise anzubieten, als den Planeten weiter zu zerstören oder uns auf den Weg zu einem allgemeinen Krieg zu führen. Die einzige Hoffnung für die Menschheit liegt in der Arbeiterklasse, die ihre eigenen Formen der Selbstorganisation wieder entdecken kann, wie das Beispiel der russischen Arbeiter in den Jahren 1905 und 1917 und das der Pariser Kommune von 1871 zeigt. (Dyjbas)

(1) Marx an Ludwig Kugelmann, 18. Juni 1871, in MEW Band 33, Seite 238

(2) MEW Band 17, Seite 622)

(3) Lissagary,Prosper-Olivier: Geschichte der Kommune von 1871, vom Verfasser durchgesehene Auflage, Stuttgart, J.H.W.Dietz,1894, S. 117.

(4) Marx an Domela Nieuwenhuis, 22. Februar 188, MEW Bd.35, Seite 160 ff.

(5) Lissagary,Prosper-Olivier: Geschichte der Kommune von 1871, S. 353f.

(6) Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Pariser Kommune II, Texte von Marx, Engels, Lenin und Trotzki, Hrsg. von Dieter Marc Schneider, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1971, S. 22.

(7) MEW Bd.4, S. 573

(8) Engels, Friedrich: Der Bürgerkrieg in Frankreich (Einleitung). Hier heißt es entsprechend: "Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsame Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats." London, am zwanzigsten Jahrestag der Pariser Kommune, 18.März 1891 Friedrich Engels. Je nach Edition scheint es (leicht) verschiedene Fassungen zu geben, was jedoch auch an den Übersetzungen des Originaltexte in andere Sprachen liegen mag.

(9) Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Lehren der Kommune, in: Pariser Kommune II, Texte von Marx, Engels, Lenin und Trotzki, Hrsg. von Dieter Marc Schneider, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1971, S.71.

Einige weitere Leseempfehlungen:

Frank Jellinek, Die Pariser Kommune von 1871 (London 1937)

Eugene Schulkind, Die Pariser Kommune von 1871 (1972)

Stewart Edwards, Die Kommunarden von Paris, 1871 (1973)

John Merriman, Massaker: Leben und Tod der Pariser Kommune (2014)

Mitchell Abidor, Stimmen der Pariser Kommune (2015)

Louise Michel, Die Pariser Commune (2020; erstmals in dt. Übersetzung)

Wednesday, March 17, 2021