Am Vorabend der Revolution: Die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg

(5. Teil unserer Artikelreihe zum Thema Klassenbewusstsein und revolutionäre Organisation)

Im letzten Teil unserer Artikelserie (leftcom.org) haben wir ausgeführt, dass nur die ArbeiterInnenklasse in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden und durch eine neue Gesellschaft zu ersetzen, die nicht auf Profitmaximierung, sondern auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist. Dies ist nicht einer irgendwie gearteten moralischen Überlegenheit, sondern dem Umstand geschuldet, dass die ArbeiterInnenklasse als ausgebeutete Klasse kein Eigentum zu verteidigen hat. Ihr objektives Interesse liegt in der Überwindung der eigenen Ausbeutung und damit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Allgemeinen.

Der Umstand, dass sie eine ausgebeutete Klasse ist, hat zur Folge, dass sie sich als potenziell revolutionäre Klasse historisch gesehen in einer einzigartigen Situation befindet. Sie kann sich als Klasse nicht aufheben, ohne sich über sich selbst und ihr objektives Interesse bewusst zu werden. Anders formuliert: Sie muss sich über ihr Ziel und ihre kollektive Kraft klar werden. Im Zuge des Prozesses ihrer Emanzipation muss die ArbeiterInnenklasse ihr eigenes Bewusstsein entwickeln. Klassenbewusstsein entwickelt sich aus den Bedingungen der Ausbeutung. Allerdings ist dies kein gleichförmiger und zeitgleicher Prozess. Andernfalls wäre der Kapitalismus schon vor Jahrzehnten zugrunde gegangen. Klassenbewusstsein entsteht mal hier mal dort. Lokale Niederlagen löschen es aus, beschränkte Kampferfolge geben ihm wieder neuen Auftrieb.

Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit führt zur Herausbildung einer politischen Struktur von ArbeiterInnen, die Erfahrungen auswerten und weitergeben und gleichzeitig verstehen, dass das eigentliche Ziel in der Überwindung des Kapitalismus als Ganzes bestehen muss. Dieser fortgeschrittene Teil des Proletariats darf also nicht nur als ein kollektives Gedächtnis der Klasse fungieren. Seine Aufgabe besteht darin, die gemachten Erfahrungen politisch zu verallgemeinern und ein Programm für die Zukunft zu entwickeln. Der Kampf für die Selbstbefreiung des Proletariats setzt also die Existenz einer politischen Organisation oder Partei voraus.

Wie bestimmt sich das Verhältnis von Partei und Klasse? Wie kann die große Mehrheit der Klasse selber kommunistisches Bewusstsein entwickeln? Im letzten Teil der Artikelreihe haben wir uns mit der Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung befasst, die sich in den letzten Lebensjahren von Marx und Engels herausbildete. Wir haben ausgeführt, wie sich in der Sozialdemokratie die Vorstellung durchsetzte, auf legalem Wege an die Macht zu kommen, obwohl dies im direkten Gegensatz zu den Theorien von Marx stand. Ebenso haben wir aufgezeigt, wie der linke Flügel im Zuge des Revisionismusstreits in die Minderheit geriet und marginalisiert wurde und die Sozialdemokratie mehr und mehr zum Bestandteil der bürgerlichen Ordnung wurde. Dies war jedoch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch nicht offensichtlich. Gleichwohl führte der linke Flügel in dieser Zeit eine sehr kontroverse und lebendige Debatte über die Frage des Klassenbewusstseins und die politische Organisation. Darauf wollen wir in diesem Teil näher eingehen.

Eine neue Generation von Revolutionären

20 Jahr nach Marxens Tod begann eine neue Generation von Revolutionären sich eingehender mit dem politischen Charakter der Sozialdemokratie auseinanderzusetzen. Rosa Luxemburg und Wladimir Ilitisch Uljanow (der später unter seinem Pseudonym Lenin bekannt wurde) waren beide im Zaristischen Reich aufgewachsen. Auf unterschiedlichen Wegen wurden beide später zu Symbolfiguren des revolutionären Marxismus (was beide wohl strikt zurückgewiesen hätten). Revolutionäre werden aber nun einmal nach ihrem Tod mystifiziert. Die Nachwelt tendierte dahin, Lenin für seinen Erfolg zu dämonisieren, während Luxemburg aufgrund ihres tragischen Scheiterns zur Heiligen verklärt wurde. Faktisch waren jedoch beide revolutionäre Marxisten, die sich gerade in der Frage des Klassenbewusstseins und der revolutionären Organisation näherstanden, als bürgerliche Historiker heute behaupten.

Das Ökonomische und das Politische

Von seinen Kritikern wird Lenin gerne als zynischer Machtpolitiker und Manipulator dargestellt. Das hat sehr viel mit seiner frühen Schrift „Was tun?“ zu tun. Lenins „Ursünde“ wird an seinen Bemerkungen über die damaligen Streiks im zaristischen Russland festgemacht. Diese Streiks bewegten sich auf einer rein gewerkschaftlichen Ebene und drückten den wachsenden Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern aus. Allerdings waren sich die ArbeiterInnen noch nicht über ihre Klassenlage und ihre Klasseninteressen im politischen und ökonomischen System vollauf bewusst. Vor diesem Hintergrund schrieb Lenin in _„Was tun?“:

Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an.(1)

Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus gesehen, müssen wir Lenins Formulierung natürlich zurückweisen, oder zumindest entschieden korrigieren. Marx und Engels waren ohne Frage Intellektuelle. Doch gerade aufgrund ihrer Analysen und wissenschaftliche Methode verstanden sie sich eben nicht als „gebildete Vertreter“ einer Klasse, geschweige denn des Proletariats. Wie wir bereits ausführten, ging es Marx nicht darum eine bestimmte Theorie auszuarbeiten, sondern die gesellschaftliche Realität zu analysieren. Marx ging also gewissermaßen aufgrund und während seiner Untersuchung der realen kapitalistischen Ausbeutung zum Proletariat über.

Lenin recycelte gewissermaßen in „Was tun?“ die alten Argumente von Karl Kautsky und Georgi Plechanow, die stets auf die Wichtigkeit von Intellektuellen hingewiesen hatten (und die zu dieser Zeit vornehmlich den privilegierten Schichten der Gesellschaft entstammten). Dennoch lag Lenins Argumentation ein richtiger Kern zugrunde: Kommunistisches (oder wie man damals sagte sozialdemokratisches) Bewusstsein war und ist nicht einfach eine Reflektion des unmittelbaren Kampfes, den die ArbeiterInnenklasse im Kapitalismus um ihr Überleben führen muss.

Der rein ökonomische Kampf kann endlos weitergehen, ohne dass jemand auf die Gründe und Ursachen der kapitalistischen Ausbeutung zu sprechen kommt. Zur damaligen Zeit konnten nur diejenigen, die über ein gewisses Maß an Freizeit verfügten (und die hatte die Mehrheit der ArbeiterInnen mit einem 11 – oder 14 Stundentag nun einmal nicht) sich ernsthaft mit Analysen und Theorien auseinandersetzen. Gerade auf dieses Problem legte Lenin in „Was tun?“ besonderes Gewicht. Doch das bedeutete nicht, dass er ArbeiterInnen die Fähigkeit zu theoretischer und politischer Entwicklung rundweg absprach, wie heute oft und gern behauptet wird. Vielmehr hob Lenin die wichtigen wissenschaftlichen und theoretischen Beiträge, die gerade ArbeiterInnen für die Entwicklung der sozialistischen Bewegung geleistet hatten ausdrücklich hervor:

Das heißt selbstverständlich nicht, das Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nehmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem und geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelingt, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Arbeiter allgemein zu heben; ist es notwendig, dass die Arbeiter sich nicht in den künstlich eingeengten Rahmen einer Literatur der Arbeiter abschließen, sondern, dass sie immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen. Es wäre sogar richtiger anstatt `sich nicht abschließen´ zu sagen: nicht abgeschlossen werden, denn die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz vorgeschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben `für die Arbeiter´ genüge es, wenn man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und längst bekannte Dinge wiederkäut.(2)

Klassenbewusstsein entsteht also nicht einfach auf der Betriebsebene. Die Frage sei weniger, wer wo Klassenbewusstsein entwickle, sondern, wie dieses Bewusstsein weitergetragen werden könne. Lenin befand sich hier in voller Übereinstimmung mit Marx und Engels. Klassenbewusstsein ist nicht einfach nur ein Ausdruck der Lebens- und Existenzbedingungen des Proletariats, sondern das Ergebnis einer tieferen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Lehren des proletarischen Kampfes. Lenin polemisierte hier gegen eine Strömung der entstehenden sozialdemokratischen Bewegung, die argumentierte, dass nur die ökonomischen Kämpfe der ArbeiterInnenklasse von Bedeutung seien, während Politik an sich unwichtig sei. Diese Position war besonders bei den jungen Herausgebern (Lenin und Martow galten mit Anfang 30 damals in der Bewegung als „alt“) der Zeitschriften „Rabotschaja Mysl“ („Arbeitergedanke“) und „Rabotscheje Delo“ („Arbeitersache“) besonders stark ausgeprägt. Diese Strömung war entstanden, als die ersten sozialdemokratischen Organisationen von der zaristischen Geheimpolizei zerschlagen worden waren und ihre Aktivisten entweder verhaftet oder ins Exil geflohen waren.

Die neuen Wortführer der ökonomistischen Strömung glorifizierten die Spontanität des täglichen Kampfes, ohne ihm jedoch eine klare politische Orientierung zu geben. Lenin lag es fern zu behaupten, dass die ArbeiterInnen keine theoretische Arbeit leisten könnten. Vielmehr argumentierte er, dass die amateurhafte Vorgehensweise und die sog. „Handwerklerei“ der Ökonomisten den ArbeiterInnenkämpfen keine klare Orientierung gaben und die ArbeiterInnen aufgrund der Razzien und Verhaftungen zusehends das Vertrauen in die sozialistische Bewegung verlören. Vor diesem Hintergrund ging es Lenin vorrangig darum, aufzuzeigen und wiederholt darzulegen, dass der Mangel an Schulung und politischer Orientierung den spontanen Kämpfen die Stoßkraft genommen und zu einer ernsthaften Krise der sozialistischen Bewegung geführt hatte.

Doch das interessiert die zahlreichen oberflächlichen Leninkritiker, seien es nun Anarchisten, Rätekommunisten oder bürgerliche Liberale herzlich wenig. Für sie führt ein gerader Weg von Lenins angeblicher Behauptung, dass ArbeiterInnen kein revolutionäres Bewusstsein hervorbringen könnten, bis hin zur Herausbildung der Parteidiktatur 1917. Indem alles auf das Denken und Handeln eines einzelnen Mannes reduziert wird, ist für sie alles gesagt. Dabei wird geflissentlich ignoriert, dass „Was tun?“ in einem besonderen Kontext geschrieben wurde. Ebenso wird unterschlagen, das Lenin selbst später wiederholt erklärte, dass er in dieser Debatte mit den Ökonomisten den Bogen überspannt hatte. Lenin war sich über das Verhältnis von Tageskämpfen und dem langfristigen Interesse der ArbeiterInnenklasse im Klaren, wie nicht zuletzt ein Artikel aus dem Jahr 1899 zeigt:

Jeder Streik erweckt in den Arbeitern mit großer Kraft den Gedanken an den Sozialismus – den Gedanken an den Kampf der ganzen Arbeiterklasse für ihre Befreiung vom Joch des Kapitals. Sehr häufig wird es vorkommen, dass die Arbeiter einer bestimmten Fabrik oder eines bestimmten Produktionszweiges, einer bestimmten Stadt bis zu einem großen Streik fast nichts vom Sozialismus gewusst und nicht an ihn gedacht haben – nach dem Streik aber finden unter ihnen Zirkel und Verbände immer mehr Verbreitung und immer mehr Arbeiter werden zu Sozialisten. Ein Streik lehrt die Arbeiter verstehen, worin die Kraft der Unternehmer und worin die Kraft der Arbeiter liegt, er lehrt sie, nicht allein an ihren eigenen Unternehmer und nicht allein an ihre nächsten Kollegen zu denken, sondern an alle Unternehmer, an die ganze Klasse der Kapitalisten und die ganze Klasse der Arbeiter. (…) Ein Streik öffnet den Arbeitern die Augen nicht nur über die Kapitalisten, sondern auch über die Regierung und über die Gesetze.(3)

Ebenso wird gerne die Tatsache ignoriert, dass Lenin nach der von den Bolschewiki angeführten Machtübernahme des Proletariats 1917 die ArbeiterInnen wiederholt, dazu aufrief, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Hierfür lassen sich viele Belege finden, doch das folgende Zitat mag genügen, um diesen Punkt hier zu veranschaulichen:

Wichtig für uns ist die Heranziehung aller Werktätigen ohne Ausnahme zur Verwaltung des Staates. Das ist eine gigantisch schwierige Aufgabe. Den Sozialismus aber kann nicht eine Minderheit – die Partei – einführen. Einführen können ihn Dutzende von Millionen, wenn sie es lernen, das selbst zu tun.(4)

Gleichzeitig handelt es sich bei Lenins Argumentation in „Was Tun?“ keineswegs um eine historisch überkommene Polemik. Einiges von dem was er schreibt hat auch heute Gültigkeit:

Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des Credo, denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen.(5)

Was Lenin hier hervorhebt ist, dass die Ideen, das Programm und die Plattform einer Partei das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses sind, der wesentlich historisch bestimmt ist. Die sozialistische Perspektive entwickelt sich also weder einfach aus den täglichen Kämpfen heraus, noch ist sie das Ergebnis der abstrakten Überlegungen von Theoretikern. Wenn der tägliche Klassenkampf den gewerkschaftlichen Rahmen überschreitet, die bürgerliche Gesetzlichkeit infrage stellt und Züge eines Aufstandes annimmt, macht die Klassenbewegung und mit ihr das Klassenbewusstsein große Fortschritte. Doch wenn diese Momente vorbeigehen, werden die Erfahrungen des Kampfes und damit das Klassenbewusstsein nur in einer Minderheit der Klasse, der revolutionären Organisation, weitergegeben und weiterleben können. Die revolutionäre Partei kann nicht losgelöst von der Klasse existieren, bzw. überleben. Sie ist keine deus ex machina, sondern ein zentrales Element im dialektischen und gleichzeitig widersprüchlichen Prozess der Herausbildung des kommunistischen Bewusstseins der Klasse, das sich aus der unmittelbaren materiellen Realität ableitet. Als Lenin argumentierte, dass Klassenbewusstsein von außen in die Klasse getragen werden müsse, bezog er sich auf die unmittelbaren Begrenzungen des täglichen Klassenkampfes. Er behauptete niemals, dass sich dieser Prozess außerhalb und losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen vollziehen könne.

Wir haben bereits ausgeführt, dass sich Lenin auf Kautsky stützte und ihn auch ausführlich zitierte, um sein Argument zu untermauern, dass die Spontanität des täglichen Kampfes nicht ausreiche, um revolutionäres Bewusstsein hervorzubringen. Das dabei verwendete Zitat Kautskys drückte auch dessen elitäre Sichtweise aus. „Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz“ hatte Kautsky geschrieben. Kautsky zufolge sei „in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht auch der moderne Sozialismus entstanden“. Das ist natürlich grundlegend falsch und steht im Widerspruch zu dem, was Marx und Engels in der Deutschen Ideologie entwickelt hatten.

Kautskys Denken war typisch für eine Zeit, in der sich bürgerliche Intellektuelle als Sozialisten ausgaben und am besten zu wissen meinten, was für die ArbeiterInnenklasse gut sei. Lenin hatte mit solchen Auffassungen wenig am Hut (was seine späteren Schriften deutlich machten). Allerdings war er sich damals noch nicht darüber im Klaren, dass Kautsky bereits ein „Renegat“ des Marxismus war. Im Gegensatz zu Kautsky war Lenin der Ansicht, dass ArbeiterInnen die besten Berufsrevolutionäre seien:

Solche Arbeiter, Durchschnittsmenschen aus der Masse, sind fähig, in einem Streik, einem Straßenkampf gegen Polizei und Militär riesige Energie und Opfermut an den Tag zu legen, sie sind fähig (und nur sie allein können es), den Ausgang unserer ganzen Bewegung zu entscheiden _– aber gerade der Kampf gegen die_ politische Polizei erfordert besondere Eigenschaften, erfordert Berufsrevolutionäre. Und wir müssen nicht nur dafür sorgen, daß die Masse konkrete Forderungen „stellt“, sondern auch dafür, daß die Masse der Arbeiter aus ihrer Mitte in immer größerer Zahl solche Berufsrevolutionäre stellt.(6)

Heute stellt sich nicht das Problem, wer das revolutionäre Bewusstsein erarbeitet, sondern in welchem Rahmen es sich entwickelt. Und dieser Bezugsrahmen muss ein kontinuierlicher und politischer sein, genauer gesagt eine politische Partei.

Die Feststellung, dass der tägliche wirtschaftliche Kampf kein sozialistisches/kommunistisches/revolutionäres Bewusstsein aus sich selbst heraus entwickelt, ist so offensichtlich, dass sie ohne die Erfahrung der Entartung der russischen Revolution niemals bestritten worden wäre. Darauf werden wir später eingehen, konzentrieren wir uns zunächst auf die Debatte in der russischen Sozialdemokratie im Zeitraum von 1902 bis 1903. Wenn das Argument der Ökonomisten richtig gewesen wäre (und was spätere „Parteikritiker“ immer noch behaupten), dann gäbe es keinen Bedarf für eine revolutionäre Partei. Der Klassenkampf hört niemals auf, so die Argumentation. Er sei unvermeidlich, und deshalb sei auch die Herausbildung revolutionären Bewusstseins unvermeidlich. Leider ist das nicht richtig, und die historische Erfahrung der ArbeiterInnenklasse hat dies immer wieder gezeigt. Die britische Arbeiterklasse durchlebte bspw. im 19. Jahrhundert die härtesten ökonomischen Kämpfe. Sie schuf massive Gewerkschaften, entwickelte eine Klassenidentität und war sich ihrer Lage bewusst. Dennoch schaffte sie es nicht sozialistisches/revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln.

Das Gegenteil war der Fall! Der fortgeschrittene Sektor des britischen Proletariats, die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen, agierte als Flügel der liberalen Bourgeoisie, ohne seine Klassenautonomie zu wahren. Selbst führende Mitglieder der Ersten Internationale, die aus diesem Milieu entstammten, wurden schließlich liberale Abgeordnete. Das ist genau der Kern von Lenins Argument: Der ökonomische Kampf der Klasse wird nicht unpolitisch bleiben, wenn KommunistInnen sich aus ihm heraushalten. Vielmehr wird seine Politisierung eine bürgerliche Form annehmen:

Kann von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ‚dritte‘ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie.(7)

Die selbsternannten „Antikapitalisten" von heute sollten über diese Worte nachdenken. Man kann nicht antikapitalistisch sein, ohne kommunistisch zu sein. Anstatt oberflächlich über „dritte Wege" zu fabulieren, sollten sie langsam erkennen, dass es einen solchen Weg nicht gibt. Die historische Erfahrung in Großbritannien bestätigt jedoch einmal mehr die Gültigkeit von Lenins Argument. Beim Generalstreik in Großbritannien 1926 legte die ArbeiterInnenklasse unter dem Einfluss der Syndikalisten die Bourgeoisie neun Tage lang lahm. Doch die Syndikalisten hatten kein politisches Programm und gingen davon aus, dass die Bewegung von selbst den Kapitalismus zu Fall bringen würde. Stattdessen gingen die bürgerlichen Gewerkschaftsführer in die Downing Street No.10, und als der konservative Premierminister Stanley Baldwin sie vor die Alternative stellte, entweder den britischen Staat oder die britische ArbeiterInnenklasse zu unterstützen, entschieden sie sich für den Staat.

Wir könnten auch die Erfahrung der amerikanischen ArbeiterInnenklasse im 20. Jahrhundert anführen, die die Erfahrung der britischen im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Indem der ökonomische Kampf das Bewusstseinsniveau des einzelnen Arbeiters durch den kollektiven Kampf auf das Niveau der Identifikation mit dem Rest der Klasse hebt, eröffnet er die Möglichkeit für die Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins, aber eben nur die Möglichkeit. Ohne das Eingreifen einer Partei, die das historische Programm der ArbeiterInnenklasse in den materiellen Kampf von heute überträgt, wird das Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen abebben oder sogar eine reaktionäre Richtung einschlagen (worauf die Ideologen der Bourgeoisie gerne herumreiten).

Die Identifikation als Klasse kann durchaus auch mit reaktionärer Ideologie vereinbar sein. Zuweilen haben die reaktionärsten ArbeiterInnen, eine besonders starke Klassenidentität. Bei den großen Streiks in Südafrika nach dem Ersten Weltkrieg lautete die mobilisierende Losung der Streikenden währen der sog. Rand-Rebellion(8) von 1922: „Arbeiter der Welt vereinigt euch und kämpft für ein weißes Südafrika"!

Nach „Was tun?“

Die Partei vertritt und verteidigt das Programm, die revolutionären theoretischen Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse - das ist der Kern von Lenins Argumentation.

Gelegentlich wird behauptet, Lenin habe die Ideen von „Was tun?"_ nach der ersten russischen Revolution von 1905 revidiert oder sogar ganz verworfen. Lenin schrieb später selbst: „In `Was tun? ´ wird der von den Ökonomisten überspannte Bogen wieder ausgerichtet (…) `Was tun? ´ korrigierte polemisch den Ökonomismus und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten.(9) Doch wir sollten uns darüber im Klaren sein, was genau Lenin revidierte. Er ist kein einziges Mal von der Idee abgewichen, dass die Partei der Träger des revolutionären Bewusstseins sei, von der Tatsache, dass ihr Programm das Destillat der vergangenen Erfahrungen des Proletariats sei. Faktisch richtet sich „Was tun?" gegen eine Strömung, die sich bereits im Niedergang befand. Der „Ökonomismus", der im Jahr 1900 einflussreicher war als die UnterstützerInnen der sozialdemokratischen Zeitung Iskra, war 1902 bereits im Zerfall begriffen. In einem Land wie Russland, in dem Gewerkschaften illegal waren, wurde jeder ökonomische Streik unmittelbar zu einem politischen Streik. Jede Organisation, die in dieser Frage unentschlossen war, war dem Untergang geweiht.

Was Lenin jedoch keinesfalls revidieren wollte, waren die Dinge, die er zuvor über das Wesen und die Struktur der Partei geschrieben hatte. Lenin war klar, dass das deutsche sozialdemokratische Modell einer offenen Partei unter dem autokratischen Polizeistaat des Zaren eine Unmöglichkeit war. Deshalb forderte er zu dieser Zeit „eine Partei neuen Typs". Eine klandestine Partei, von Berufsrevolutionären (vorzugsweise aus Arbeiterinnen und Arbeitern und nicht aus unorganisierten russischen Intellektuellen) sollte gegründet werden, die in der Lage sein sollte, bei ihrer Propaganda -und Agitationsarbeit den Fallstricken der Polizei zu entgehen. Dieses Organ sollte den Funken schlagen, um den täglichen Kampf gegen das Kapital zu einem politischen Angriff auf den Staat zu überführen. Mit der Revolution von 1905 änderten sich die Dinge. Nachdem der Zar eine Verfassung zugestanden hatte, wurde es möglich, gewisse begrenzte Spielräume für legale Massenarbeit zu nutzen, wie bspw. die Wahlen zur Duma vor 1914.

Rosa Luxemburg

Gerade in Hinblick auf die Organisationsfrage wird Rosa Luxemburg gerne von bürgerlichen Kommentatoren als Gegenpol zu Lenin dargestellt, als eine tolerante und nicht diktatorische Marxistin. Selbst von jahrelanger „anti-leninistischer“ Propaganda benebelte Möchtegern-Revolutionäre, sehen Luxemburg als entschiedene Kritikerin von Lenins mechanischen Tendenzen mit einem viel dialektischeren Verständnis der Frage des Klassenbewusstseins. Franz Borkenau, ein einflussreicher Ex-Kommunist, behauptet bspw. in seiner „Geschichte der Kommunistischen Internationale“, dass

...Lenin, statt an die proletarische Revolution zu glauben, seine Hoffnungen auf eine zentralisierte Gruppe unter seiner Führung gesetzt hatte, während Rosa Luxemburg allein weiterhin an das Proletariat glaubte.(10)

Das ist die übliche Schönfärberei, der aber häufig gerade diejenigen auf den Leim gehen, die nicht bereit sind, sich selbst zu informieren. Es mag einige von ihnen schockieren, dass Luxemburg, weit davon entfernt, eine blinde Anbeterin der Spontaneität und Gegnerin der Partei zu sein, sogar in ihrer Kritik an Lenin von 1904 die Notwendigkeit der „Heranbildung einer klassenbewussten, urteilsfähigen Vorhut des Proletariats“ ausdrücklich hervorhob. Weit entfernt, die Spontanität über die Organisation zu stellen, argumentierte sie für eine Partei, die „politische Bewegungsfreiheit, gepaart mit scharfem Blicke für die prinzipielle Festigkeit der Bewegung und für ihre Einheitlichkeit“ kombinieren könne.

Nach der Russischen Revolution bekräftige Luxemburg diese Position:

Daraus erklärt sich, dass in jeder Revolution nur diejenige Partei die Führung und die Macht an sich zu reißen vermag, die den Mut hat, die vorwärtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen.(11)

Nur die Bolschewiki hätten, so Luxemburg, die wirkliche Dialektik der Weltrevolution verstanden:

Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der „Mehrheit des Volkes“ gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine `Mehrheit´. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d. h. vorwärtszutreiben versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mußten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht.(12)

Worin besteht also der Unterschied zwischen Luxemburg und Lenin in Bezug auf das Klassenbewusstsein? Um dies zu erklären, müssen wir wieder den Kontext verstehen, in dem die beiden ihre Theorien entwickelten. Während Lenin die Ökonomisten als die russische Version von Bernsteins Revisionismus betrachtete, war Luxemburg zu der Erkenntnis gelangt, dass die deutsche Sozialdemokratie an einer anderen Krankheit litt. Während Lenin in Russland versuchte, den Dilettantismus zu überwinden, waren die „Berufsrevolutionäre", denen Luxemburg in Deutschland tagtäglich begegnete, weit vom Ideal Lenins entfernt. In Wirklichkeit waren sie Karrieristen, Gewerkschaftsbürokraten, kleine Angestellte eines bürokratischen Parteiapparats oder reformistische Parlamentarier. Letztendlich waren sie es, die aus Angst vor dem Verlust ihrer Privilegien die deutsche Sozialdemokratie dazu brachten, sich mit dem deutschen Militär zu verbünden und den imperialistischen Krieg von 1914 zu unterstützen. Der Zentralismus, den Lenin für notwendig erachtete, um die in ganz Russland verstreuten Sozialistinnen und Sozialisten zusammenzubringen, wurde bereits durch das Verhalten vieler Sozialisten in der deutschen Partei karikiert. Luxemburg brachte das zentrale Dilemma folgendermaßen auf den Punkt:

Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß.(13)

Rosa Luxemburg und die Sozialdemokratie

Rosa Luxemburgs Konfusionen wurzeln in ihren Erfahrungen in der Sozialdemokratie, die sie mit der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter gleichsetzte:

Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse.(14)

Kein Wunder, dass es ihr selbst nach dem Verrat von 1914 schwerfiel, sich von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu lösen. Luxemburg neigte dazu, in der Sozialdemokratie die Klassenbewegung zu sehen, auch wenn sie erkannte, dass diese von Opportunismus durchsetzt war. Ihr Glaube an den Massenstreik nach 1904 war gewissermaßen ihre Antithese zum Opportunismus und den Kapitulationstendenzen der sozialdemokratischen Mehrheit. In Hinblick auf die Partei sprachen Lenin und Luxemburg also von zwei gänzlich verschiedenen Dingen. Aus Lenins Sicht kämpft die kleine revolutionäre Partei innerhalb der Klasse für ein revolutionäres Bewusstsein, während Luxemburg auf die spontane Bewegung der Klasse setzt, um die Sozialdemokratie vom Abgleiten in den Reformismus und Opportunismus zu bewahren. Daher ihre Schlussfolgerung in ihrer Kritik gegen Lenin:

Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.(15)

Das richtete sich in Wirklichkeit gegen bestimmte Tendenzen in der deutschen Partei und hatte wenig mit dem zu tun, wofür Lenin argumentierte (wie er selbst bemerkte). Es ist auf jeden Fall eine unsinnige Dichotomie, die darauf hinausläuft, das Scheitern gegenüber dem Erfolg zu verklären. Luxemburg hatte den unerschütterlichen Glauben, dass neue Kämpfe in Deutschland den Kurs der Sozialdemokratie von selbst korrigieren würden:

Wird es in Deutschland aus irgendeinem Anlass und in irgendeinem Zeitpunkt zu großen politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich eine Ära gewaltiger gewerkschaftlicher Kämpfe in Deutschland eröffnen, wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihren Segen gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich sogar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens nur der sein, dass die Gewerkschaftsführer genau wie die Parteiführer im analogen Fall von der Welle der Ereignisse einfach auf die Seite geschoben und die ökonomischen und politischen Kämpfe der Klasse ohne sie ausgekämpft werden.(16)

Wie die Partei- und Gewerkschaftsführer „beiseitegeschoben“ werden sollten, sagte Luxemburg nicht. Ebenso wenig machte sie sich Gedanken über die daraus folgende logische Konsequenz, nämlich die Frage wie sich eine Spaltung der Sozialdemokratie und die Bildung einer neuen Partei vollziehen könnte. In ihrer letzten Rede auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei Deutschlands ging Luxemburg noch weiter. Nachdem sie nur wenige Monate zuvor endgültig mit der Sozialdemokratie gebrochen hatte, erklärte sie in Hinblick auf ihre einstigen „Genossen“:

Die proletarischen Massen sozialistisch schulen, das heißt ihnen Vorträge halten und Flugblätter und Broschüren verbreiten. Nein, die sozialistische Proletarierschule braucht das alles nicht. Sie werden geschult, wenn sie zur Tat greifen.(17)

Dies war ein gefährlicher Irrtum. Erstens hatten die Sozialdemokraten kein Interesse an der Revolution, so dass jede Diskussion über ihre Methoden jetzt irrelevant war, und zweitens führte eine solche Betonung der Aktion als einziger Erzieher der ArbeiterInnenklasse zum Voluntarismus, was im Falle der KPD fatale Folgen nach sich zog. Zwar verurteilte Luxemburg Karl Liebknechts überstürztes Vorgehen während des sog. „Spartakusaufstandes“ vom Januar 1919, doch ihre Auffassung von der Entwicklung des Klassenbewusstseins hatte den Glauben in derartige Aktionen zum Teil antizipiert.

Die Debatte über den Zentralismus

Einer der wesentlichen Differenzen zwischen Lenin und Luxemburg besteht darin, dass Lenin einer der ersten russischen Marxisten war, der durch die Bedingungen des Klassenkampfes in Russland in den 1890er Jahren geprägt wurde. Luxemburg kam aus Polen, um sich der ihrer Meinung nach größten sozialistischen Partei der Welt, der SPD, anzuschließen. Ihr Unglück war, dass sie nie so sehr in Parteifragen eingebunden war wie Lenin. Lenin war bei der Gründung der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) dabei gewesen. Er hatte gesehen, was mit ihr geschehen würde, wenn sie keinen klaren organisatorischen Rahmen hätte. Daher betonte er die Notwendigkeit des Zentralismus.

Luxemburg hingegen unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu allen Reformisten in der Sozialdemokratie und äußerte sich häufig in privaten Briefen an Leute wie Clara Zetkin sehr bestürzt über den Weg, den die Parteiführer gingen. Aber anstatt eine öffentliche Kritik und harte Polemik gegen sie zu entwickeln, wie Lenin es gegen Leute tat, die er respektierte und sogar liebte (wie bspw. Vera Sassulitsch und George Plechanow), setzte Luxemburg ihr Vertrauen in die Aktivität der Klasse, die die Fehler Kautskys korrigieren sollte! Und in jeder Hinsicht richtet sich ihre Kritik an Lenins Text „Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück“ im Grunde genommen gar nicht gegen die russische Partei. Lenin beschwerte sich sogar darüber, dass Luxemburg „den Leser nicht mit meinem Buch bekannt macht, sondern mit etwas anderem bekannt macht". Lenin nahm jeden Vorwurf, den Luxemburg gegen ihn erhob, systematisch auseinander. Wir wollen uns hier nur auf ein Beispiel konzentrieren. Luxemburg hatte Lenin vorgeworfen, in der Tradition des neojakobinischen Aktivisten Auguste Blanqui zu stehen, der glaubte, eine kleine Elite (in diesem Fall das Zentralkomitee der Partei) könne die Revolution machen. Lenin war gezwungen, darauf zu antworten:

Gen. Luxemburg meint, nach meiner Auffassung erscheine _das Zentralkomitee als der eigentliche aktive `Kern der Partei´_. Ich habe diese Auffassung niemals vertreten. Im Gegenteil, meine Opponenten (die Minderheit des II. Parteitages) beschuldigen mich in ihren Schriften, dass ich die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Zentralkomitees nicht genügend in Schutz nehme, dass ich es viel zu sehr der im Ausland befindlichen Redaktion des Zentralorgans und dem Rat der Partei unterordne. Auf diese Beschuldigungen habe ich mit meinem Buch geantwortet, dass die Parteimehrheit, als sie im Rat der Partei die Oberhand hatte, niemals den Versuch machte, in die Selbstständigkeit des ZK einzugreifen; das geschah aber sogleich, als der Rat der Partei zu einem Kampfinstrument der Minderheit wurde. Gen. Luxemburg sagt, für die Sozialdemokratie Russlands sei es keine Frage, dass eine einheitliche Partei notwendig ist und der ganze Streit drehe sich um den größeren oder geringeren Grad der Zentralisation. In Wirklichkeit ist das unwahr. Hätte sich Gen. Luxemburg die Mühe gegeben, die Resolution der vielen Lokalkomitees der Partei, die die Mehrheit bilden, kennenzulernen, so hätte sie leicht verstehen können (das ist übrigens auch aus meinem Buch ersichtlich), dass der Streit bei uns hauptsächlich darum geht, ob das Zentralkomitee und das Zentralorgan die Richtung der Parteitagsmehrheit vertreten sollen oder nicht, über diese `ultrazentralistische´ und rein `blanquistische´ Forderung sagt die werte Genossin kein Wort; sie zieht es vor, gegen die mechanische Unterwerfung eines Teils unter das Ganze, gegen den Kadavergehorsam, gegen die blinde Unterordnung und andere Schreckgespenster zu wettern. Ich bin Gen. Luxemburg sehr dankbar für die Darlegung des höchst geistreichen Gedankens, dass der Kadavergehorsam für die Partei sehr schädlich ist, aber ich möchte doch gerne wissen: Hält die Genossin es für normal, kann sie es zulassen, hat sie in irgendeiner Partei je gesehen, dass in den Zentralbehörden, die sich Parteibehörden nennen, die Minderheit des Parteitags dominieren darf ?(18)

Der Massenstreik

Dies führt uns zu Luxemburgs Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“. Rosa Luxemburg schrieb diese Broschüre, als sie sich 1906 in Finnland bei Lenin und anderen bolschewistischen Führern aufhielt. Sie war gerade nach drei Monaten Haft aus einem polnischen Gefängnis entlassen worden, nachdem sie festgenommen worden war, weil sie illegal nach Polen eingereist war, um sich an der Revolution von 1905 zu beteiligen, die damals im gesamten Russischen Reich stattfand. Als Vorsitzende der „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPL) nahm sie an den Diskussionen teil, die damals zur Vereinigung mit den Bolschewiki führten. Dies allein sollte jeden davon überzeugen, dass sie, ungeachtet der politischen Differenzen mit den Bolschewiki, deren revolutionäre Vorstellungen teilte. Mit diesen revolutionären Intentionen schrieb sie auch ihre Schrift „Massenstreik“.

Ihr Angriffsziel war wie immer die deutsche sozialdemokratische Partei, insbesondere die Gewerkschaftsführer. Bereits vor ihrer Inhaftierung hatte Luxemburg versucht, die deutsche Partei dazu zu bewegen, eine Resolution zugunsten des Massenstreiks zu verabschieden. Auf dem Jenaer Parteitag von 1906 konnte man sich jedoch gerade noch darauf einigen, dass die SozialistInnen im Falle der Einschränkung des Wahlrechts durch den Kaiser zu einem Massenstreik aufrufen würden. Selbst das war zu viel für die Gewerkschaftsführer, die sich zum ersten Mal offen gegen die sozialdemokratische Politik stellten. Luxemburgs Broschüre zielte darauf ab, die Partei davon zu überzeugen, die Entscheidungen dieser Gewerkschaftsführer zu kippen. Einmal mehr wird Luxemburgs revolutionäre Absicht nicht durch stichhaltige revolutionäre Argumente untermauert. Erstens verkennt sie das Wesen der Gewerkschaften, indem sie darauf besteht, dass sie „Kampforganisationen des Proletariats" seien. In den Anfängen der Gewerkschaften, als es noch keine ständigen Funktionäre gab, mag dies teilweise richtig gewesen sein. Allerdings waren die Gewerkschaften nie etwas anderes als defensive Organisationen der Klasse. Sie waren sicherlich nicht die Organe, die den Angriff auf das Kapital anführen würden, und 1904 standen die bürokratisierten Gewerkschaften der deutschen Sozialdemokratie jeder proletarischen Revolution ablehnend gegenüber. Daraus ergibt sich ein zweiter Irrtum, nämlich das in ihrer Schrift entwickelte Argument, dass im Massenstreik das Ökonomische und das Politische von gleicher Bedeutung seien:

Mit einem Wort: Der ökonomische Kampf ist das Fortschreitende von einem politischen Knotenpunkt zum anderen, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkungen wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Russland. Und ihre Einheit ist eben der Massenstreik.(19)

Doch wie so oft überschattet die Eleganz ihres Stils die Schwäche des Arguments. Es ist richtig, dass die ökonomischen Kämpfe der Klasse, oder genauer gesagt die Massenmomente solcher Kämpfe, politische Forderungen aufwerfen, die zu einer Entwicklung der Klassenidentität führen und die Klasse ihre politischen wie wirtschaftlichen Interessen erkennt. Aber das Bewusstsein, das aus diesen Kämpfen hervorgeht, beruht auf den politischen Vorstößen des Proletariats, die von seinen klassenpolitischen Organen formuliert werden. Manchmal ist die Klasse hier der Partei voraus, wie 1905 in Russland, wo der Versuch der Menschewiki, einen Weg zur Vereinheitlichung von Streiks und Streikkomitees zu finden, zur Bildung des Petrograder Sowjets führte. Dieser entstand spontan aus dem Kampf von 1905, aber seine erfolgreiche Wiederherstellung als Organ der Arbeitermacht 12 Jahre später war darauf zurückzuführen, dass die russischen Sozialdemokraten aus dieser Erfahrung gelernt und den Wert dieses Organs für die Herausbildung der Arbeiterautonomie erkannt hatten. Luxemburg fetischisierte in der Tat die Formen des Kampfes, von denen sie glaubte, dass sie automatisch zur Herausbildung eines Klassenbewusstseins führen würden, was zuweilen fast religiöse Züge annahm:

Das Kostbarste, weil bleibende, bei diesem scharfen revolutionären Auf und Ab der Welle ist ihr geistiger Niederschlag: das sprungweise, intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für ein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampf bietet.(20)

Doch das ist ein Mythos. Sobald die Periode des offenen Klassenkampfes vorbei ist, zieht sich das Bewusstsein des Proletariats zurück, die Klasse ist wieder atomisiert und gespalten. Die ArbeiterInnen, die 1905 die Sowjets gründeten, zogen 1914 in den Krieg, und als sie 1917 die Sowjets wieder ins Leben riefen, hatten diese noch keinen authentisch proletarischen Inhalt (da sie sich im Wesentlichen auf die Unterstützung der Provisorischen Regierung fokussierten). Erst als die Bolschewiki in den Sowjets auf der Grundlage der Lehren von 1905 eine Klassenpolitik einwickelten, wurde das Problem überwunden. Luxemburg versäumte es in ihrer Schrift „Der Massenstreik“ konsequent, den Inhalt des Kampfes zu analysieren, was sie letztlich als Anbeterin der Spontaneität erscheinen lässt. Dies wäre auch so, wenn sich in ihrer Schrift nicht auch Passagen wie die folgende finden würden:

Die Sozialdemokratie ist die aufgeklärteste, klassenbewusste Vorhut des Proletariats. Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der `revolutionären Situation´ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muss wie immer, der Entwicklung der Dinge vorauseilen, sie beschleunigen suchen. Dies vermag sie aber nicht dadurch, dass sie zur rechten und unrechten Zeit ins Blaue hinein plötzlich die `Losung´ zu einem Massenstreik ausgibt, vor allem dadurch, dass sie den breiten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht.(21)

Doch genau das hatte Luxemburg innerhalb der Sozialdemokratie versäumt, und ihre Tragödie besteht darin, nicht früher mit der Sozialdemokratie gebrochen zu haben. Im Nachhinein ist es natürlich einfach, eine solche Diagnose zu stellen. Während der Verrat der sozialistischen Parteien von 1914 in unseren Köpfen haften bleibt und uns heute unvermeidlich erscheint, war er damals sowohl für Lenin als auch Luxemburg ein harter Schlag, der sie zeitweise paralysierte. Vor 1914 gab es kein einziges Ereignis, das eine Abspaltung leicht gemacht hätte. Auch wenn kleine Gruppen wie die Gruppe „Lichtstrahlen“ oder die „Internationalen Sozialisten Deutschlands“ diesen Schritt vollzogen, galt die Sozialdemokratie nicht nur als die Organisation der ArbeiterInnen, sondern als die ArbeiterInnenklasse selbst. Der Glaube an die Spontaneität als Regenerator der Partei war zuweilen Luxemburgs einziger Trost. Das Beste, was wir heute tun können, ist, aus dieser Erfahrung zu lernen. Luxemburg dachte an Selbstmord, als sie erfuhr, dass die Reichstagsfraktion der SPD für die Kriegskredite gestimmt hatte. Sie wurde verhaftet, weil sie sich gegen den Krieg stellte. Das gleiche Schicksal ereilte Karl Liebknecht, den ersten Abgeordneten, der gegen die Kriegskredite stimmte (der zweite war Otto Rühle). Unter klandestinen Bedingungen gründeten beide den Spartakusbund. Aber auch diese agierte bezeichnenderweise lange Zeit in der USPD, den pazifistischen Sozialisten unter Führung von Kautsky und Bernstein! So hat Luxemburg auch während des imperialistischen Krieges kein Banner aufgepflanzt, um das sich Revolutionäre hätten scharen können.

Nach der Novemberrevolution hatte die SPD die Mehrheit in den Räten und nur wenige Arbeiterinnen und Arbeiter hatten überhaupt von den Spartakisten gehört. Die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands fand über Neujahr 1919 statt. Wenig später wurden sowohl Luxemburg als auch Liebknecht durch die von der SPD angeheuerten Freikorpstruppen ermordet. Diese Tragödie unterstreicht nur die Notwendigkeit, eine revolutionäre Partei lange vor der spontanen Erhebung der Klasse zu bilden. Damit sind auch die theoretischen Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin umrissen, die, wie wir gezeigt haben, mehr mit ihren realen Erfahrungen zu tun haben als mit einem unterschiedlichen revolutionären Temperament. Während Luxemburg glaubte, dass die Partei die Klasse sei und dass die spontane Bewegung die Partei in revolutionäres Fahrwasser bringen würde, verstand Lenin sehr wohl, dass nur eine Minderheit im Vorfeld der Revolution kommunistisches Bewusstsein erlangen würde. Diese Minderheit müsste innerhalb der spontanen Kämpfe für eine kommunistischen Revolution wirken. Einmal begonnen, würde diese Revolution die Arbeiterklasse massenhaft verändern und sie als „ungeheure Mehrheit" befähigen, „die Gesellschaft neu zu begründen" (Marx). Im nächsten Teil unserer Artikelserie werden wir uns mit den Auswirkungen der Russischen Revolution von 1917 auf die Frage des Klassenbewusstseins und der revolutionären Organisation befassen.

Zum Weiterlesen:

Die Ära der Sozialdemokratie und der Kampf gegen den Revisionismus: leftcom.org

Marx, Engels und die Frage der proletarischen Organisation: leftcom.org

Die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins: leftcom.org

Idealismus und bürgerlicher Materialismus: leftcom.org

Anmerkungen:

(1) Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, Berlin 1988, Seite 53.

(2) Ebenda Seite 64.

(3) Lenin, Über Streiks, Werke, Bd.4, S.311

(4) Lenin, Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei, Ausgewählte Werke, Bd. IV, Seite 223.

(5) Lenin, Was Tun, Seite 64 f.

(6) Ebenda, S. 144.

(7) Ebenda, S. 64.

(8) Die sog. Rand Rebellion war ein Aufstand weißer Bergarbeiter im Jahr 1922. Er entzündete sich als die Unternehmer schwarze Arbeiter einstellten, um diese als Lohndrücker einzusetzen.

(9) Lenin, Werke, Bd. 13, S. 100.

(10) Franz Borkenau, World Communism, Ann Arbor 1962, S. 45.

(11) Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution, o.O., o.J. Seite 80.

(12) Ebenda

(13) Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, marxists.org

(14) Ebenda

(15) Ebenda

(16) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Politische Schriften, Bd. 1, S.209.

(17) Rosa Luxemburg, Unser Programm und die Politische Revolution, Politische Schriften Bd. II, S. 200.

(18) Lenin, Werke, Bd. 7, S. 481.

(19) Rosa Luxemburg, Politische Schriften, Bd. I, S. 178.

(20) Ebenda S. 164.

(21) Ebenda S. 199.

Sunday, January 2, 2022