Die Bedeutung der ArbeiterInnenräte im 21. Jahrhundert

Die ArbeiterInnenräte nehmen in unserer Agitation einen wichtigen Platz ein. In letzter Zeit haben wir eine Reihe von Fragen dazu erhalten, bspw. was wir unter ArbeiterInnenräten verstehen, wie wir das Verhältnis zwischen politischen Organisationen und ArbeiterInnenräten sehen und wie ArbeiterInnenräte heute aussehen könnten. Unsere Antworten auf diese Fragen sind, wie immer, von den historischen Erfahrungen vergangener Klassenkämpfe geprägt.

Von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution

Als die Bewegung der ArbeiterInnenklasse zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal auf der historischen Bühne erschien, übernahm sie unweigerlich einen Großteil der Terminologie der vorangegangenen Generationen. Das Erbe von weltbewegenden Ereignissen wie der englischen, amerikanischen oder französischen Revolution wog besonders schwer. ArbeiterInnen und RevolutionärInnen aller Couleur versuchten, sich in verschiedenen „Clubs“, „Gesellschaften“, „Komitees“, „Verbänden“, „Parteien“, „Gewerkschaften“, sogar „Kommunen“ und auch „Räten“ zu organisieren. Diese Begriffe waren zwar noch recht unscharf, deuteten aber bereits auf die Notwendigkeit einer unabhängigen Organisation der ArbeiterInnen hin. Im Anschluss an die Revolutionen von 1848 schrieben Marx und Engels:

Statt sich abermals dazu herabzulassen, den bürgerlichen Demokraten als beifallklatschender Chor zu dienen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, dahin wirken, neben den offiziellen Demokraten eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden. (…) Sie müssen neben den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten, so daß die bürgerlichen demokratischen Regierungen nicht nur sogleich den Rückhalt an den Arbeitern verlieren, sondern sich von vornherein von Behörden überwacht und bedroht sehen, hinter denen die ganze Masse der Arbeiter steht.

Marx und Engels, Ansprache des Zentralkomitees an den Bund der Kommunisten, 1850

Hier werden die Begriffe „Komitees", „Räte“ und „Klubs“ nahezu deckungsgleich verwendet, doch die Botschaft ist klar: Wie immer man es auch nennen mag, die ArbeiterInnenklasse braucht Organisationen, die „frei von bürgerlichem Einfluss“ sind. Mit dem Wachstum der ArbeiterInnenbewegung bekamen einige dieser Begriffe allmählich neue oder spezifischere Bedeutungen. Als 1864 die Internationale Arbeiterassoziation (auch bekannt als die Erste Internationale) gegründet wurde, begannen sich bereits Unterschiede zwischen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen abzuzeichnen. Auf der einen Seite die Entwicklung der Gewerkschaften zu Organen der Vermittlung zwischen Arbeit und Kapital, auf der anderen Seite die Umwandlung der politischen Organisationen in parlamentarische Parteien. Die Erste Internationale versuchte, diese Kluft zu überwinden, konnte aber den Widerspruch zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen, der durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst vorangetrieben wurde, nicht auflösen. Die Lösung der Frage wurde durch den Klassenkampf selber herbeigeführt.

Im März 1871, im Gefolge des Deutsch-Französischen Krieges, erhoben sich die ArbeiterInnen in Paris gegen ihre herrschende Klasse und bildeten eine kurzlebige revolutionäre Regierung: die Pariser Commune, genauer gesagt den kommunalen Rat, den conseil communal, wie er auf Französisch hieß. Nachdem das Zentralkomitee der Nationalgarde, das sich aus Delegierten der revolutionären Bataillone zusammensetzte, die Macht übernommen hatte, kündigte es Wahlen zum Gemeinderat an. 275.000 von 485.000 wahlberechtigten Parisern nahmen an dieser Wahl teil. Die Machthaber in Versailles organisierten eine massive Stimmenthaltungskampagne, so dass die Wählerschaft zwangsläufig hauptsächlich aus ArbeiterInnenvierteln stammte, die den Aufstand unterstützten. Auch wenn nur eine Minderheit der in den Rat Gewählten selbst aus der ArbeiterInnenklasse stammte, zielten die meisten der verabschiedeten Dekrete darauf ab, die Probleme des Pariser Proletariats zu lösen. Die Pariser Commune, die sich aus abwählbaren Abgeordneten zusammensetzte und sowohl exekutive als auch legislative Befugnisse ausübte, war das, was man einen Vorläufer eines ArbeiterInnenrats nennen könnte. Damals betrachtete Marx sie als:

… die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte. (…) Die politische Herrschaft der Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtung. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen unzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht.

Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1871

Letztlich wurde dieses kurze Experiment der ArbeiterInnendemokratie innerhalb weniger Wochen gewaltsam niedergeschlagen. Doch trotz all seiner Beschränkungen hinterließ die Pariser Commune eine Reihe von Lehren darüber, wie die Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse in der Praxis aussehen könnte.

Die Generalprobe der russischen Revolution

Die berühmten ArbeiterInnenräte oder Sowjets, wie sie auf Russisch genannt wurden, traten erstmals im Zuge der Revolution von 1905 auf. Seit den 1870er Jahren hatte sich im Russischen Zarenreich eine ArbeiterInnenbewegung herausgebildet. In Ermangelung grundlegender Rechte und angesichts des repressiven zaristischen Regimes nahm die Bewegung hauptsächlich die Form spontaner Arbeitskämpfe an, die von sozialistischen Gruppen angeregt und von Streikkomitees und Hilfsvereinen unterstützt wurden. Die ArbeiterInnen erkannten schnell die Notwendigkeit von Einigkeit und Solidarität in ihrem Kämpfen gegen die Unternehmer und wählten ihre eigenen Delegierten, um ihre Forderungen vorzutragen. Der Russisch-Japanische Krieg, der 1904 ausbrach, verschärfte die sozialen Spannungen weiter, und als eine friedliche Prozession von Arbeiterinnen und Arbeitern, die von Pater Gapon, einem orthodoxen Priester und Informanten der Geheimpolizei Ochrana, angeführt wurde, von Soldaten des Zaren zusammengeschossen wurde, brach im ganzen Reich eine Welle intensiver Klassenkämpfe aus. Dieser Massenstreik wurde von den SozialistInnen ausführlich kommentiert, besonders von Rosa Luxemburg, doch was vielen damals entging, war die eigentliche Bedeutung der Arbeiterräte. Trotzki, der als Delegierter des St. Petersburger Sowjets Erfahrungen aus erster Hand machen konnte, charakterisierte ihn folgendermaßen:

Der Sowjet war die Achse aller Ereignisse, alle Fäden liefen auf ihn zu, jeder Aufruf zum Handeln ging von ihm aus. Was war der Sowjet der Arbeiterdeputierten? Der Sowjet entstand als Antwort auf ein objektives Bedürfnis - ein Bedürfnis, das sich aus dem Verlauf der Ereignisse ergab. Er war eine Organisation, die Autorität ausstrahlte und doch keine Traditionen hatte; die eine verstreute Masse von Hunderttausenden von Menschen sofort mit einbeziehen konnte, obwohl sie praktisch keinen Organisationsapparat besaß; die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinte; die zu Initiative und spontaner Selbstkontrolle fähig war - und die vor allem innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus dem Untergrund hervorgeholt werden konnte.

Trotzki, Die Revolution von 1905

Der erste Sowjet soll im Mai 1905 in der bolschewistischen Hochburg Iwanowo-Woznesensk während eines Streiks von 40.000 ArbeiterInnen entstanden sein. Ironischerweise war es ein Fabrikinspektor, der den Vorschlag machte dass die ArbeiterInnen an ihren Arbeitsplätzen Delegierte wählen sollten, um die Verhandlungen zu erleichtern. Am nächsten Tag wurden 110 Abgeordnete gewählt. Der Sowjet war im Wesentlichen ein Streikkomitee, nicht für eine einzelne Fabrik, sondern für eine ganze Stadt. Es bestand bis Juli 1905 und schaffte es, den Streik trotz militärischer Repressionen, Unruhen und Erschöpfung aufrechtzuerhalten. Im selben Monat, in dem sich der Iwanowo-Woznesensker Sowjet auflöste, wurde in der benachbarten Stadt Kostroma ein weiterer Sowjet gegründet, der jedoch nur wenige Wochen Bestand hatte. Am bedeutendsten für die Einheit innerhalb der Streikbewegung war jedoch die Gründung des Sowjets in der Hauptstadt St. Petersburg im Oktober 1905. Auf seiner dritten Sitzung bestand er aus 226 Delegierten aus 96 Betrieben, VertreterInnen der neu gegründeten Gewerkschaften und - in beratender Funktion - VertreterInnen der sozialistischen Parteien (Menschewiki, Bolschewiki und Sozialisten-Revolutionäre). Er gab bald eine eigene Zeitung heraus und wurde zum Vorbild für ArbeiterInnen in anderen Gebieten des Russischen Reiches, die wiederum ihre eigenen Sowjets gründeten. Die Revolution von 1905 endete in einer Niederlage. In einigen Gebieten erschöpfte sie sich, in anderen wurde sie unterdrückt. Doch sie vermittelte den ArbeiterInnen die dringend benötigten Erfahrungen für den nächsten Kampf.

Es sei daran erinnert, dass die ArbeiterInnenräte nicht die einzigen Organe waren, die diese Revolution hervorbrachte. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Mitglieder revolutionärer Parteien, und es wurden alle Arten von Genossenschaften, Gewerkschaften und Kulturvereinen gegründet. In einem echten revolutionären Prozess werden die ArbeiterInnen immer damit experimentieren, ihr tägliches Leben durch freie Assoziationen neu zu organisieren. Die Frage ist jedoch, welche Organisation sich am besten für die Machtausübung der gesamten Klasse eignet.

Die ArbeiterInnenklasse ergreift die Macht

Der Erste Weltkrieg eröffnete eine neue Ära in der Geschichte. Obwohl er anfangs mit patriotischem Eifer geführt wurde, wurden die harten Realitäten des imperialistischen Konflikts bald deutlich. Im Russischen Reich reagierte die ArbeiterInnenklasse schließlich mit Demonstrationen, Streiks und Meutereien. Der Wille zur Bildung von Sowjets war wieder da, und die ArbeiterInnen begannen, Streikkomitees zu wählen. Die Bourgeoisie war jedoch von Anfang an entschlossen, der Revolution Grenzen zu setzen. Im Februar 1917 wurde hinter dem Rücken der Arbeiter ein provisorisches Exekutivkomitee des „Sowjets der Arbeiterdeputierten“ im Taurischen Palais von Politikern der Duma gebildet. Angesichts des Zusammenbruchs des Zarismus beabsichtigten sie, Russland in eine demokratische parlamentarische Republik umzuwandeln. Die Geschichte der Revolution von 1917 zeigt jedoch, wie die ArbeiterInnen stattdessen den Petrograder Sowjet in ein Organ zur Ausübung ihrer eigenen Macht umwandelten, indem sie ihn mit ihren eigenen Delegierten besetzten und weitere Sowjets aus Arbeiterinnen und Arbeitern, Soldaten und Bauern im gesamten russischen Reich ins Leben riefen. Nicht nur die Bourgeoisie hatte die Lehren aus dem Jahr 1905 gezogen. Als die Sowjets zum ersten Mal aufkamen, machten sich Revolutionäre wie Lenin bereits Gedanken über ihre Bedeutung:

Sowjet der Arbeiterdeputierten oder Partei? Mir scheint, man darf die Frage nicht so stellen, die Antwort muss unbedingt lauten: Sowohl Sowjet der Arbeiterdeputierten als auch die Partei. (…) Der Sowjet der Arbeiterdeputierten ging aus den Generalstreiks hervor, er entstand auf Grund der Streiks und für die Ziele der Streiks. Wer führte den Streik und führte ihn siegreich zu Ende? Das ganze Proletariat, unter dem es glücklicherweise in der Minderheit auch Nichtsozialdemokraten gibt. Vielleicht irre ich mich, aber mir scheint (auf Grund der in meinem Besitz befindlichen unvollständigen und rein papieren Unterlagen), dass der Sowjet der Arbeiterdeputierten in politischer Hinsicht als Keimform einer provisorischen revolutionären Regierung betrachtet werden muss.

Lenin, Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten, 1905

Später, in seinen in der Schweiz verfassten vorbreitenden Notizen zu seiner Schrift „Staat und Revolution“, kam Lenin, in Anlehnung an Marx, zu folgender Schlussfolgerung:

Ersetzung des alten ("fertigen") Staatsapparates und der Parlamente durch Sowjets der Arbeiterdeputierten und deren Organe. Darin liegt das Wesentliche!!

Lenin, Der Marxismus über den Staat, 1917

Für dieses Programm trat Lenin innerhalb der bolschewistischen Partei ein und bald darauf kämpften die Bolschewiki, für dieses Programm innerhalb der Sowjets. Sie beteiligten sich an der Bildung von Sowjets, sie bestanden auf der Einführung der Wähl- und jederzeitigen Abwählbarkeit von Delegierten und sie propagierten die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ auf die Straße. Im Oktober 1917 fand dieses Programm die Zustimmung der Mehrheit der revolutionären Arbeiterinnen und Arbeiter, und die provisorische Regierung, die bis dahin vom Petrograder Sowjet unterstützt worden war, wurde vom Revolutionären Militärkomitee des Petrograder Sowjets gestürzt.

Die Machtergreifung durch die Sowjets, die vom Zweiten Allrussischen Sowjetkongress bestätigt wurde, brachte neue Probleme mit sich. Auch wenn in den ersten sechs Monaten nach dem Oktober das Sowjetprinzip auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wurde, so wurden die Sowjets im Laufe des Bürgerkriegs, in dem die ehemals herrschende Klasse versuchte, die Macht mit Hilfe militärischer Interventionen von außen wiederzuerlangen, nach und nach ausgehöhlt. Objektive Faktoren wie Isolation, Krieg, Hungersnöte und Krankheiten waren dafür verantwortlich, aber auch subjektive Faktoren trugen dazu bei: so die Schaffung eines Rates der Volkskommissare (Sownarkom), der dem Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets (VTsIK) übergeordnet war, der Austritt der linken SR aus dem Sownarkom, was faktisch zu einer Einparteienregierung führte, die Wahlmanipulationen durch die Kommunistische Partei usw. Wir haben an anderer Stelle ausführlich über diesen Prozess geschrieben.(1) Obwohl Sowjetrussland, das im Zuge der Konterrevolution den Namen UdSSR annahm, auf dem Papier bis 1991 eine „Räterepublik" war, waren die Sowjets bereits 1921 zu leere Fassaden geworden. Trotz der tapferen Bemühungen derjenigen, die sich innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei für einen Kurswechsel einsetzten, wurde die Revolution von 1917 durch eine allmähliche Degeneration besiegt. Stalin versetzte ihr schließlich den Todesstoß.

ArbeiterInnenräte und RevolutionärInnen heute

Wenn wir auf der Grundlage der oben kurz skizzierten Erfahrungen der Vergangenheit eine kurze Definition von ArbeiterInnenräten geben sollten, könnten wir sagen, dass es sich um Organe handelt, die von den ArbeiterInnen im Zuge des Klassenkampfes geschaffen wurden und die:

  • ArbeiterInnen über diese oder jene Fabrik oder Branche hinaus einbeziehen;
  • sich nach den Prinzipien der Delegation und der Rückberufung organisieren;
  • die Einigung der Bewegung auf gemeinsame Ziele anstreben;
  • die Trennung zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf aufheben;
  • geeignet sind, die Machtausübung der ArbeiterInnenklasse als Ganzes in Angriff zu nehmen.

Natürlich können solche „feinsäuberlichen“ Definitionen der Realität nie ganz gerecht werden. Tatsächlich haben weder die Pariser Commune noch die Sowjets diese Kriterien zu jeder Zeit vollständig erfüllt. Ganz zu schweigen von den anderen, weniger bekannten Beispielen ähnlicher Organe in der Geschichte, wie bspw.:

  • Die ArbeiterInnenräte in Deutschland, Ungarn, Polen, der Ukraine, Finnland, Norwegen, usw. (1918-9)
  • Die Fabrikräte in Italien (1919-20)
  • Die Kommunen und Streikkomitees in China (1925-27)
  • Die Räte der Zuckerfabriken in Kuba (1933)
  • Die städtische und ländliche Kollektive in Spanien (1936-37)
  • Die ArbeiterInnenräte in Vietnam, der Tschechoslowakei und Polen (1944-47)
  • Die ArbeiterInnenräte in Ungarn und Polen (1956)
  • Die Streikkomitees und Fabrikräte in Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei (1968-69)
  • Die Cordones in Chile (1972-73)
  • Die Streikkomitees in Portugal und Argentinien (1974-76)
  • Die Schoras im Iran (1978-79)
  • Die überbetriebliche Streikkomitees in Polen (1980-81)
  • Die Versammlungen in Argentinien (2001)
  • Organisierungsräte im Iran (2021)

Diese Beispiele sind keineswegs erschöpfend, und nicht alle von ihnen waren das, was wir als tatsächliche ArbeiterInnenräte ansehen würden (auch wenn sie diesen Namen trugen), aber sie alle zeigen, dass die ArbeiterInnen auf den Höhepunkten des Klassenkampfes ihre eigenen klassenweiten Organe hervorbringen, um den Kampf voranzutreiben. RevolutionärInnen können diesen Prozess unterstützen und fördern, sind dafür aber nicht unbedingt notwendig. Ohne das Eingreifen von RevolutionärInnen in solche klassenweiten Organe ist es jedoch unvermeidlich, dass andere politische Kräfte das Vakuum füllen und sie dominieren, sabotieren und neutralisieren – wie bspw. die Sozialdemokratie in Deutschland (1918), der Stalinismus in Vietnam, in der Tschechoslowakei und in Polen (1944-47), oder sogar die religiöse Rechte wie im Iran (1978-79) und in Polen (1980-81).

Unsere politische Tendenz hat ihren direkten Ursprung in der Kommunistischen Linken, die seit den 1920er Jahren versucht hat, sich dem Strom der Konterrevolution zu widersetzen. Diese Kontinuität wurde für uns von den aus der Kommunistischen Partei Italiens Ausgeschlossenen aufrechterhalten, die sich dann während des Zweiten Weltkriegs in der Internationalistischen Kommunistischen Partei zusammenschlossen. Es gibt jedoch kein gemeinsames Verständnis der Rolle von ArbeiterInnenräten im gesamten Spektrum der Kommunistischen Linken. Einige, wie die RätekommunistInnen, die aus den Überresten der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) hervorgingen, kamen, nachdem sie gesehen hatten, wie die Kommunistische Partei in Russland eine Parteidiktatur schuf und die Sozialdemokratische Partei in Deutschland die Räte dem kapitalistischen Staat unterordnete, zu dem Schluss, dass die ArbeiterInnenräte frei vom Einfluss der politischen Parteien sein müssten. Diese Ansicht wird auch heute von einigen AnarchistInnen vertreten. Andere, wie die BordigistInnen, die sich 1952 von der Internationalistischen Kommunistischen Partei abspalteten, argumentieren gegen die ArbeiterInnendemokratie insgesamt und für einen proletarischen Staat, der von einer einzigen Partei getragen wird, die niemals die Macht abgeben wird. Andere wiederum, wie die IKS (Internationale Kommunistische Strömung), die ihren Ursprung in einer Gruppe in Frankreich hat, die sich 1945 weigerte, der Internationalistischen Kommunistischen Partei beizutreten, sind der Meinung, dass es in der Übergangszeit neben und getrennt von den ArbeiterInnenräten ein anderes repressives Organ geben müsse.(2)

Für uns bedeutet die Diktatur des Proletariats, wenn sie etwas bedeuten soll, die ausschließliche Macht der ArbeiterInnenräte nach einer erfolgreichen Revolution. Sie ist nicht die Herrschaft einer einzigen revolutionären Organisation oder Partei. In der Tat war sogar die automatische Zuteilung von Sitzen an Parteien, wie wir sie in den Räten in Russland 1917 und Deutschland 1918 gesehen haben, problematisch. RevolutionärInnen, die bewusst von anderen ArbeiterInnen in klassenweite Organe delegiert werden, sind ein Ausdruck dafür, dass das kommunistische Programm von der Klasse angenommen wird. Unter solchen Umständen müssen sie daran arbeiten, den Auftrag zu erfüllen, mit dem sie delegiert wurden und für die Verbreitung des kommunistischen Programms eintreten. Es kann jedoch sein, dass die revolutionäre Organisation einmal eine Mehrheit in den Räten hat und ein anderes Mal in der Minderheit ist. Die ArbeiterInnenklasse muss immer die Möglichkeit haben, die Zusammensetzung der von ihr ins Leben gerufenen klassenweiten Organe zu ändern. Es ist durchaus möglich, dass sich die Stimmung in der Klasse von einem revolutionären Kurs wegbewegt, was bedeutet, dass die RevolutionärInnen ihr Mandat verlieren. Wenn sich die revolutionäre Organisation in einer solchen Situation um jeden Preis an die Macht klammert, bis hin zu dem Punkt, dass sie aktiv gegen die Räte vorgeht oder sich selbst an die Stelle der Räte setzt, wird sie zum Prozess der Konterrevolution beitragen. Wie unsere Vorgänger es ausdrückten:

Die Partei kann und darf die Aktion der Klasse nicht ersetzen, bzw. stellvertretend für sie handeln: Die Kommunistische Partei kann nicht die Macht übernehmen und im Namen des Proletariats ausüben, weil das Proletariat seine historische Mission an keinen noch so mächtigen Bevollmächtigten delegieren kann, nicht einmal an seine eigene politische Partei.

Politische Plattform der Internationalistischen Kommunistischen Partei, 1952

Für uns ist die Periode des Übergangs keine gesonderte Etappe, sondern ein Prozess der Zerschlagung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, der unmittelbar mit der Errichtung der Macht der ArbeiterInnenräte beginnt und mit dem endgültigen Verschwinden der Klassen endet. Der Erfolg dieses Prozesses hängt letztlich von der Eigeninitiative und der Selbstorganisation von Millionen von ArbeiterInnen ab, die sich in der kreativen Tätigkeit der ArbeiterInnenräte (und zahlloser anderer Formen des Zusammenschlusses, die ebenfalls von den Räten bestimmt werden) ausdrücken. Gleichzeitig kann sich die revolutionäre Organisation nicht in den Räten auflösen; bis zur endgültigen Abschaffung der Klassen bleibt es ihre Aufgabe, zur weltweiten Ausbreitung der Revolution beizutragen und auf die Annahme kommunistischer Maßnahmen hinzuarbeiten. Die Bildung von klassenübergreifenden Organen ist nur der Anfang des Kampfes zur Beseitigung der kapitalistischen Ideen und Praktiken in der ArbeiterInnenklasse. Die revolutionäre Minderheit der InternationalistInnen wird sich allen reformistischen und konformistischen Strömungen widersetzen müssen, die versuchen, sich in den Versuch des Aufbaus einer neuen Gesellschaft einzumischen. Sobald sich die Klassen und Klassengegensätze sich selbst auflösen, werden auch die Arbeiterräte „ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln.“ (Engels, 1873). Alle repressiven oder staatsähnlichen Funktionen, die die ArbeiterInnenräte bis dahin übernommen hatten, um zu verhindern, dass die ehemals herrschende Klasse wieder an die Macht kommt, werden zu diesem Zeitpunkt obsolet.

Die ArbeiterInnenräte sind die historisch entdeckte Form, die durch den Mechanismus der Wähl-und jederzeitigen Abwählbarkeit von Delegierten es allen ermöglicht eine aktive Rolle bei der Entscheidungsfindung zu spielen. Dahinter steht der Gedanke, dass der Kommunismus/Sozialismus eben nicht nur ein weiteres Wirtschaftssystem ist, das von einer politischen Elite beherrscht wird, sondern eine Gesellschaft, die sich in jeder Hinsicht grundlegend von früheren, durch Klassengegensätze geprägten Gesellschaften unterscheidet. Im Kommunismus/Sozialismus wird es immer noch Debatten darüber geben, wie man Probleme angehen soll (z.B. die Umweltzerstörung). Diese Debatten werden jedoch nicht in dem Sinne antagonistisch sein, dass Meinungsverschiedenheiten Ausdruck unterschiedlicher Klassenpositionen sind, sondern dass man unter Rückgriff auf den wissenschaftlichen Kenntnisstand sich für die bestmögliche Option entscheidet. Der Vorteil am Prinzip der jederzeitigen Wähl-und Abwählbarkeit von Delegierten ist, dass Entscheidungen revidiert werden können, wenn die Folgen früherer Entscheidungen auf eine andere Weise angegangen werden müssen. Im Rätesystem werden Entscheidungen keiner Kommune aufgezwungen, sondern sie erwachsen in erster Linie aus den grundlegenden Bedürfnissen der Kommunen. Und wie die Russische Revolution gezeigt hat, werden die Räte nur die letzte Entscheidungsinstanz sein, während viele andere Aktivitäten über Genossenschaften und lokale Komitees in den Produktionseinheiten und Stadtvierteln entwickelt werden.

Wenn die ArbeiterInnenklasse den Kampf wieder aufnimmt, und das wird sie unweigerlich müssen, wenn es noch einen Planeten zum Leben geben soll, werden daraus klassenweite Organe entstehen. Diese mögen zunächst aus Streikkomitees, Massenversammlungen oder Nachbarschaftsvereinigungen hervorgehen, aber sie sind mehr als das. Sie sind die soziale und politische Triebfeder für eine neue Welt. Es mag sein, dass die Arbeiterräte der Zukunft andere Namen haben werden. Es ist nicht Aufgabe der RevolutionärInnen, Blaupausen und Entwürfe für das zu erstellen, was durch die Erfordernisse des Klassenkampfes entschieden werden wird. RevolutionärInnen müssen jedoch in der Lage sein, den Klasseninhalt der entstehenden Organe zu erkennen und aktiv in sie einzugreifen, um das kommunistische Programm zu vertreten: für den Sturz der kapitalistischen Herrschaft, für die Macht der ArbeiterInnenräte, für die Umwandlung in eine klassenlose Gesellschaft. Kurzum, sowohl ArbeiterInnenräte als auch revolutionäre Organisationen sind notwendig, und beide haben eine aktive Rolle im Prozess der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise zu spielen. (Dyjbas)

(1) Siehe dazu u.a. leftcom.org

(2) Zur Kritik der Konzeption der IKS siehe: leftcom.org

Saturday, September 17, 2022