Thesen zur Prekarität und der „Gig-Economy"

Die folgenden „Thesen zur Prekarität und der Gig-Economy“ erschienen zum ersten Mal in Mutiny/Mutinerie, der zweisprachigen Flugschrift unserer GenossInnen von Klasbatalo, der kanadischen Sektion der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz. Wir möchten hier nur einige Bemerkungen machen, um die Darstellung der Situation in diesem Sektor zu ergänzen, als Beitrag für weitergehende Analysen und Diskussionen. Die Genossinnen und Genossen stellen zu Recht fest, dass die Zahl der Kämpfe in der "Gig-Economy" zunimmt und dass diese Kämpfe häufig außerhalb des traditionellen gewerkschaftlichen Vermittlungsrahmens stattfinden. Dies liegt auch daran, dass sich die traditionellen Gewerkschaften bisher wenig um diesen "aufstrebenden" Sektor gekümmert haben und erst jetzt auf Druck der Kämpfe anfangen sich damit zu befassen. Darüber hinaus muss betont werden, dass trotz der Kampfbereitschaft der KollegInnen in diesen Sektor, sich in ihren Aktionen, soweit wir wissen, bisher wenig Räume auftaten, um eine grundlegende Alternative zu diesem System der Lohnarbeit auf die Agenda zu setzen.

Dies ist für sich genommen auch wenig überraschend, da nur eine verankerte revolutionäre Organisation, die Klassenpartei, die Diskussion über eine kommunistische Perspektive ernsthaft anstoßen könnte. Stattdessen, und auch das ist wenig überraschend, blieben die Basisorganisationen, die aus diesen Kämpfen hervorgingen, im Wesentlichen in der gewerkschaftlichen Logik der Aushandlung der Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft verhaftet. Einer Logik, die ungeachtet aller leichten Verbesserungen, die kurzfristig dem Kapital abgerungen werden könnten, das fortbestehende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit voraussetzt und faktisch akzeptiert. Den Möglichkeiten solcher Verbesserungen sind heute sehr enge Grenzen gesetzt. Natürlich könnte man argumentieren, dass die Ausbeutung in der "Gig-Economy" so stark über dem Durchschnitt liegt, dass selbst begrenzte und nur durch entschlossene Kämpfe durchsetzbare Räume zur Abschwächung der Ausbeutung heutzutage nicht wenig wären. Es ginge also um nicht mehr und nicht weniger als die Erlangung dessen, was derzeit mit einem sehr zweideutigen Begriff der „ArbeiterInnenrechte“ definiert wird. Dazu zählen u.a. die Begrenzung und/oder Abschaffung der Akkordarbeit, Lohnerhöhungen, die Anerkennung des Status als Lohnempfänger (und nicht als Selbstständige), mit allem, was sich daraus ergibt, wie Krankengeld, Rentenansprüche (wenn es solche überhaupt gibt), Sozialleistungen etc.. Kurz gesagt, die Inanspruchnahme der "Rechte" der indirekten und aufgeschobenen Löhne, die Rechte eines lohnabhängigen Beschäftigten.

In gewisser Hinsicht ähnelt dieses Szenario in der „Gig-Economy“ dem der Logistik, einem Sektor, der von den „Kurieren“ der Lieferdienste oft als Bezugspunkt genommen wird. Es ist kein Zufall, dass die Bedingungen der FahrerInnen und der ArbeiterInnen in den Verteilungszentren sehr oft zu Recht als "Sklavenarbeit" und "19. Jahrhundert" bezeichnet werden, eben weil der Firmeneigentümer - den es immer noch gibt, auch wenn er sich hinter einem Algorithmus versteckt - die ArbeiterInnen genauso unterdrückt wie die Herren der dampfbetriebenen Fabriken des 19. Jahrhunderts. Die Rückkehr zu den Formen der Ausbeutung und der rücksichtslosen Beherrschung vom Typus des 19. Jahrhunderts findet sich heute mit mehr oder weniger Intensität in jeder Kategorie der Lohnarbeit und auch in der scheinbar "selbständigen" Arbeit.

Wir haben diese Entwicklung seit Beginn analysiert. Die "Manchesterisierung" der Arbeitswelt war (und ist) die Antwort des Kapitals auf seine eigene strukturelle Krise, die sich zum ersten Mal Anfang der 70er Jahre manifestierte, als grundlegende - wenn auch nicht die einzige - Gegenreaktion auf den tendenziellen Fall der Profitrate. (1)

Dieser Aspekt - die Verschärfung der Ausbeutung als zwingende Notwendigkeit des Kapitals bedeutet natürlich nicht, die kapitalistischen Verhältnisse passiv zu akzeptieren, mit der daraus folgenden politischen Entwaffnung der Klasse, um mechanisch auf die schicksalhafte Stunde X der Revolution zu warten. Es wäre ein Fehler, wenn die ArbeiterInnenklasse nicht täglich kämpfen würde, selbst für die kleinsten Forderungen, denn sonst wäre sie sicherlich nicht in der Lage, den Kampf zur Befreiung von den Ketten der Bourgeoisie weiterzuführen. Wir sagen nicht, dass man nicht "fordern" sollte, sondern nur, dass in Zeiten einer tiefen Krise die Spielräume für solche Forderungen erheblich eingeschränkt sind und sogar dazu neigen, zu verschwinden. Dies unterstreicht nur noch deutlicher, dass die Interessen des Kapitals und die der ArbeiterInnenklasse unversöhnlich entgegengesetzt sind und wirkliche Verbesserungen der Existenzbedingungen des "alten" und "neuen" Proletariats heute nur durch die Überwindung des kapitalistischen Profitsystems zu erlangen sind.

Thesen zur Prekarität und der „Gig-Economy“

  • Das Auftauchen neuer Jobs in der sog. "Gig-Economy" kann nicht losgelöst von der anhaltenden Krise des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der Prekarität unter breiteren Schichten der ArbeiterInnenklasse betrachtet werden. Gerade in der durch die kriselnde Weltwirtschaft hervorgebrachten Ära der Austerität, sind viele ArbeiterInnen gezwungen, zusätzliche "flexible“ Jobs anzunehmen, um angesichts der Kürzungen im öffentlichen Dienst, steigender Mieten und eines allgemeinen Anstiegs der Lebenshaltungskosten überleben zu können.
  • Die neuen prekären Jobs in der "Gig-Economy" sind zum Teil durch den Einsatz neuer digitaler Technologien definiert. Indem sie Apps als Hauptkoordinatoren der Arbeitsverteilung einsetzen, treten die Unternehmen der Gig-Economy in Konkurrenz zu den tradierten Formen des Dienstleistungsgewerbes. Unternehmen wie Uber und Foodora nutzen Telefon-Apps, die von Algorithmen unterstützt werden als Bindeglied zwischen ArbeiterInnen und Kapital. Der Einsatz dieser Apps entspricht dem kapitalistischen Traum von der obsessiven Berechnung und lückenlosen Kontrolle der Arbeit.
  • Politiker und TV-Persönlichkeiten des Kapitals scheinen den Tränen nahe, wenn sie den Unternehmergeist und die Innovation dieser Unternehmen und deren Management in höchsten Tönen loben. In Wirklichkeit wurden diese Technologien größtenteils durch den militärisch-industriellen Komplex des Staates und Drittmittelprojekte der Universitäten entwickelt und finanziert. Trotz der bürgerlichen Illusionen, mit denen hausieren gegangen wird, bleibt das Kapital auf die zunehmende Hilfe des Staates angewiesen, während der Staat den Interessen des Kapitals unterworfen ist.
  • Die Fähigkeit dieser neuen Tech-Firmen, ihre ArbeiterInnen bis zum Äußersten auszubeuten, beruht zu einem großen Teil auf der Methode, die ArbeiterInnen nicht als Angestellte, sondern als selbständige AuftragnehmerInnen zu bezeichnen. Das erlaubt dem Kapital, "Leistungen" zu verweigern. Typisch für "Gig"-Jobs ist auch die Rückkehr zur Akkordarbeit, d. h. die Bezahlung der Arbeiter nach der Anzahl der erbrachten Dienstleistungen statt nach Arbeitsstunden. In Verbindung mit der stetigen Abschaffung der Werkhalle als Bezugspunkt ermöglicht diese digitale, aufgabenbezogene Akkordarbeit dem Kapital, die Löhne zu senken, indem es die ArbeiterInnen aufgrund ihrer Isolation effektiv gegeneinander ausspielt. Diese Konkurrenz zwischen den ArbeiterInnen zielt darauf ab, die durchschnittliche Effizienz der Arbeiter zu erhöhen, die ständig Gefahr laufen, als nicht leistungsfähig genug und damit für die Arbeit „unwürdig“ eingestuft zu werden. Dies dient sowohl der Intensivierung der Arbeit als auch der Verlängerung des Arbeitstages und damit der Senkung des Lohnes: „Der Stücklohn wird nach dieser Seite hin zu fruchtbarster Quelle von Lohnabzügen und kapitalistischer Prellerei.“ (MEW 23, S. 576)
  • Doch trotz der Trennung von ArbeiterInnen und Angestellten durch die zunehmende Eliminierung der herkömmlichen Werkshalle, und obwohl "Gig"-ArbeiterInnen nicht als Angestellte registriert sind und daher wenig bis gar keinen Schutz haben, drängt der Klassenkampf in der "Gig-Ökonomie" die ArbeiterInnenklasse sofort zu unvermittelter Selbstaktivität wie bspw. wilden Streiks. Von Foodora-ArbeiterInnen in Italien über die Deliveroo-ArbeiterInnen in Großbritannien bis hin zu Uber-Fahrern in Los Angeles ist die Militanz in der "Gig-Wirtschaft" auf dem Vormarsch.
  • Das Elend der ArbeiterInnen in der "Gig-Economy" offenbart weiterhin eine der tragischen Ironien des Kapitalismus. Trotz der objektiven Fähigkeit diese neuen digitalen Technologien, zum Wohle der Menschheit einzusetzen, werden sie innerhalb des kapitalistischen Bezugsrahmens stattdessen zu Instrumenten der Intensivierung und Organisierung verschärfter Ausbeutung. Nur eine umfassende soziale Revolution kann dieses Elend beseitigen. Die "Gig-Economy" ist ein Teil dieser Krise und ihre Kämpfe müssen mit dem verallgemeinerten Kampf des Proletariats gegen das Kapital verbunden werden. Die ArbeiterInnenklasse hat kein Vaterland ebenso wie die einmal enteigneten und in den Dienst der Gesellschaft gestellten Produktionsmittel! Nur mit dieser Maxime wird unsere Klasse ihre Autonomie auf internationaler Ebene erklären und Verhältnisse schaffen können, die die Technologie endlich von den Ketten des Profits befreien und auf die Bedürfnisse der Menschen ausrichten. (Klasbatalo)

1) Siehe dazu u.a.: leftcom.org

Sunday, December 12, 2021