Lehren aus den revolutionären Erfahrungen in Russland

Buchbesprechung: Simon Pirani (1): The Russian Revolution in Retreat, 1920-24

„In dieser letzten Periode (…) ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese aber jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzkis mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab`s gewagt! Das ist das Wesentliche und bleibende der Bolschewiki- Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und mit der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem „Bolschewismus.“ (Rosa Luxemburg: Die Russische Revolution)

Nachdem Simon Piranis Buch mittlerweile zu Taschenbuchpreisen erhältlich ist, sind auch wir in der Lage es zu lesen. Und die Lektüre lohnt sich. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Öffnung der Staatsarchive wurden uns immer neuere Enthüllungen über die heimtückischen Taten der Führer der Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki), wie sie seit 1918 offiziell hieß, versprochen.

Was uns seitdem präsentiert wurde, war jedoch weitgehend banal und nicht sonderlich überraschend, da beispielsweise die Tatsache, dass Lenin während des Bürgerkrieges gegen die Weißen anordnete Deserteure zu erschießen auch vor 1990 keinesfalls ein Geheimnis war. Für Revolutionäre, die versuchen zu verstehen, wie die Hoffnungen von 1917 so schnell in sich zusammenbrachen, sind die Pionierarbeiten von Historikern, die schwerpunktmäßig der Frage nachgehen, inwieweit (bzw. inwieweit nicht) die Revolution von unten ausging, weitaus aufschlussreicher und interessanter. In dieser Hinsicht taten sich in der Forschung besonders Diane Koenker, Mary McAuley, Ronald Suny, William Rosenberg, Donald Raleigh und Steve Smith hervor. Steve Smith war Piranis Doktorvater und sein Buch „Red Petrograd“ war ebenso wie Alexander Rabinowtchs „The Bolsheviks Come to Power“ eine wichtige Inspirationsquelle für uns als wir unsere Broschüre „1917“ verfassten (2). Pirani teilt viele Grundannahmen der Kommunistischen Linken.

Auch er ist der Meinung, dass die Oktoberrevolution ein „herausragendes Ereignis“ war, die er von „einem sozialistischen Standpunkt“ aus untersuchen möchte. Er geht dabei der großen und quälenden Frage nach, „warum sich nur innerhalb weniger Monate nach dem Oktoberaufstand die Revolution von dem einst proklamierten Ziel der sozialen Befreiung entfernte“. Genau wie wir versteht er unter Sozialismus (oder Kommunismus - für Marx waren diese Begriffe gleichbedeutend) eine „Bewegung zu einer Gesellschaft, die entfremdete Arbeit, Privateigentum und den Staat aufhebt“. Wir stimmen auch mit Piranis Einschätzung überein, dass „das Frühjahr 1921 ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Sowjetstaates“ war. Genau diesen Punkt hatten wir schon in unserem Text „Kronstadt 1921: Beginn der Konterrevolution“ herausgearbeitet.

Der Aufstand von Kronstadt findet bei Pirani allerdings wenig Erwähnung, da er sich vorrangig auf Moskau und die Streikwelle in den Fabriken konzentriert, die Kronstadt vorausging. Pirani arbeite präzise heraus, wie der revolutionäre Prozess nach 1921 abebbte. Er widerlegt die Argumente rechter Historiker (Pipes und Figes) und einiger Anarchisten, die behaupten dass eine sog. „dritte Revolution“ im Frühjahr 1921 eine reale Option war.

Gleichzeitig kommt er jedoch zu folgender Feststellung:

„Der 10. Parteikongress, der in der ersten Märzwoche während der Niederschlagung der Kornstädter Revolte stattfand, beschloss die Getreiderequirierungen durch eine Naturalsteuer zu ersetzen. Er führte auch zum Fraktionsverbot in der Partei und bestärkte die weitere Zentralisierung des Apparats. Dies, zusammen mit der Unterdrückung von Kronstadt und der Invasion in Georgien, bestärkte den autoritären, apparatszentrierten Kurs, den der Sowjetstaat einnahm.“

Dem können wir nur hinzufügen, dass die (drei Monate später) von der Dritten Internationale beschlossene Einheitsfrontpolitik mit der Sozialdemokratie einen enormen Rückschritt auf internationaler Ebene darstellte. Dies war die faktische Aufgabe der Perspektive der Weltrevolution. Da der Oktoberaufstand auf der Prämisse der Weltrevolution basierte, war dies nicht nur eine theoretische Frage. Der Hauptgrund für das Scheitern der Revolution lag in ihrer Isolation. Niemand in der revolutionären Bewegung, von Lenin bis Luxemburg (das einleitende Zitat unterstreicht dies) glaubte ernsthaft daran, dass der Aufbau des Sozialismus im isolierten Russland möglich sei. Pirani führt diesen Punkt kaum aus (auch wenn er sich darüber im Klaren ist).

Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt weniger auf der Fragestellung „warum“ die Revolution gescheitert ist, sondern „wie“ sie scheiterte. Diesbezüglich leistet er viel. Für Revolutionäre stellt die russische Erfahrung bei ihrer ganzen unwiederholbaren Einzigartigkeit eine der wenigen Gelegenheiten dar zu untersuchen, wie Arbeitermacht funktionieren (oder vielmehr nicht funktionieren) kann.

Seine Darstellung ist sehr schlüssig. Pirani unterstreicht anschaulich dass die „Russische Kommunistische Partei /Bolschewiki“ (RKP/B) oder die Bolschewiki wie sie Pirani fortlaufend bezeichnet, da sie von den Arbeitern weiterhin so genannt wurden, am Ende des Bürgerkrieges vor der Wahl standen: Einerseits die proletarische Selbstaktivität wiederbeleben oder als Partei fortlaufend mit dem Staatsapparat zu verschmelzen. Sie entscheiden sich für Letzteres. Ausgehend vom 10. Parteikongress stellt er dar, wie sich innerhalb der Partei der Ton gegen Dissidenten verschärfte. Bucharin (der 1918 selber Dissident war), argumentierte für „eine geschlossene Partei, mit einer Psychologie und einer Ideologie.“ Wie Trotzki ein Jahr zuvor forderte er stärkere „Zentralisierung und Militarisierung“, was eindeutig gegen die linkskommunistischen Oppositionsgruppen wie die „Arbeiteropposition“ und die „Demokratischen Zentralisten“ abzielte.

Pirani wendet sich dann der wirtschaftlichen Erholung während der NEP zu, die das politische Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und der Russischen Kommunistischen Partei grundlegend änderte:

„Es entstand ein neuer Gesellschaftsvertrag unter dem die Arbeiter die Arbeitsdisziplin beibehalten, die Arbeitsproduktivität steigern und jede Entscheidungsmacht an die Partei abgeben mussten, die im Gegenzug eine kontinuierliche Verbesserung des Lebensstandards versprach. (…) Das Bestreben von 1917 nach kollektiver demokratischer Beteiligung wurde aufgeben, und die politische Aktivität der Arbeiterklasse in den Räten und Gewerkschaften beschränkte sich darauf vorgegebenen Beschlüssen zuzustimmen, anstatt selber die Entscheidungen zu treffen.“

Als die Arbeiter dazu übergingen, aus Protest bei den Sowjetwahlen für parteilose Kandidaten zu stimmen (weil alle anderen Parteien entweder verboten waren oder nicht das Vertrauen der Arbeiter hatten), änderte die RKP (die 1921 in keiner einzigen Moskauer Fabrik eine Mehrheit gewinnen konnte) das Wahlrecht. Die Wahlen wurden von nun an nur noch jährlich, statt wie bisher vierteljährlich abgehalten.

Niemand sprach nunmehr vom Prinzip der jederzeitigen Abwählbarkeit. Kandidaten die nicht der Partei angehörten, konnten nur mit Zustimmung der RKP Mitglied in Leitungsausschüssen werden.

Die meisten dieser parteilosen Kandidaten waren bereit mit der RKP zusammenzuarbeiten, (viele waren ehemalige Bolschewiki) um mitzuhelfen die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Aus diesem Grund nahmen sie die Diktatur der Partei zunehmend hin. Gleichzeitig gelang es der RKP viele dieser parteilosen Kommunisten aufzusaugen, da die meisten von ihnen zu dieser Zeit überzeugt waren, dass nur „die Partei“ einen Weg nach vorn aufzeigen könnte. Lenin gehörte zu jenen, die argumentierten, dass die Arbeiterklasse in Russland ein „zusammengewürfelter Haufen gleichgültiger Elemente“ sei, was ihm den Tadel des Anführers der Arbeiteropposition, Schliapnikow eintrug, der dem entgegenhielt, dass

„wir niemals eine andere oder bessere Arbeiterklasse haben werden, und uns mit dem begnügen müssen was wir haben.“

Auf einer offenen Sitzung der Betriebszelle der RKP(B) machte ein ehemaliger linker Sozialrevolutionär, Beliakow, eine weitsichtige Bemerkung:

„Jeden Tag entfernen wir uns weiter von unseren im Oktober erkämpften Errungenschaften. In Russland gibt es keinen Kommunismus. Die Kommunisten sind nicht einmal an der Macht. Sie unterschrieben die Dekrete, die allerdings von Nicht-Kommunisten verfasst wurden. Diese Dekrete richten sich gegen die Arbeiterklasse.“

Dies war kurioserweise die Vorwegnahme dessen, was Lenin auf dem 11. Parteikongress 1922 feststellte:

„Es mangelt der Schicht von Kommunisten, die leitende Funktionen in der Verwaltung ausüben an Kultur. Man nehme doch Moskau - die 4700 verantwortlichen Kommunisten - und dazu dieses bürokratische Ungestüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet (3).“

Pirani führt dieses Zitat nicht an, was ein wenig ärgerlich ist, da es zeigt, dass das Problem nahezu von allen gesehen wurde. Aber er hat recht wenn er sagt, dass das Wettern der Kommunisten gegen den Bürokratismus verlorene Zeit und aussichtslos war, da das eigentliche Problem darin bestand, dass die Partei nicht mehr Avantgarde des Proletariats sondern zum Rückrat des Staates geworden war.

Hier tut sich auch eine Lücke in Piranis Darstellung auf. In seiner Einleitung schreibt er, dass der Rückzug „innerhalb einiger Monate“ nach der Oktoberrevolution einsetzte, während seine Darstellung je_doch erst Ende des Jahres 1920 beginnt. So hat_ man beim Lesen unweigerlich den Eindruck, dass bei der Darstellung etwas fehlt - der fatale Fehler der Bolschewiki Staat und Partei nicht auseinander gehalten zu haben, die negativen Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die proletarische Politik und der Umstand, dass die Bolschewiki ein verhungerndes Land übernommen hatten, indem zwischen 1918- 1921 acht Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Diese materiellen Faktoren werden von Pirani zwar zur Kenntnis genommen, aber zu seinem eigenen Nachteil weitgehend vernachlässigt. Stattdessen zeichnet er den langsamen aber stetigen Prozess des Niedergangs ab 1921 nach. Die Arbeiter wählten weiterhin auch Nicht-Bolschewiken in die Fabrikkomitees und nach Ansicht Piranis ist es in Bezug auf die Periode 1922-1923

„schwer zu sagen, dass „eine bürokratische herrschende Clique Gestalt angenommen“

hätte. Dennoch war dieser Prozess war nicht zu stoppen. Um 1923 verdienten Fabrikdirektoren das 40-50fache dessen was ein Arbeiter verdiente. Bei anderen Bürokraten sah es nicht viel anders aus. Oppositionelle wurden aus der RKP/B ausgeschlossen und das Unvermögen der verschiedenen linkskommunistischen Gruppen, ob nun die „Demokratischen Zentralisten“ die „Arbeiteropposition“ oder die weitaus radikaleren Tendenzen wie die „Gruppe Arbeiterwahrheit“ oder die „Arbeitergruppe“ nennenswerten Einfluss zu gewinnen, war ein weiterer Indikator für die zunehmende Passivität der Arbeiterklasse. Zwar gab es ein gewisses Ansteigen der Löhne, gleichzeitig griff die Bürokratie jedoch immer mehr um sich.

Dazu Pirani:

„….die andere Seite der Medaille war der fortschreitende Nichtbeteiligung der Arbeiter an Entscheidungsprozessen. Während die Arbeiter 1921 noch mit guten Gewissen parteilose Arbeiter in die Sowjets wählten, bleiben sie 1923 den Wahlen einfach fern.“

Der Endpunkt für die Partei war letztendlich die Abrechnung mit ihren eigenen Dissidenten der Linken Opposition (die eine disparate Koalition von Anhängern Trotzkis und linken Kommunisten wie den Demokratischen Zentralisten“ darstellte).

Pirani weist seine Leser wohlweislich auf die Arbeiten von Graeme Gill über die sozialen Ursprünge von Stalins Diktatur hin, und komplettiert damit seine Darstellung des Degenerationsprozesses der Revolution. Damit erweist er uns einen großen Dienst. Unsere Tendenz hat seit ihrer Gründung 1943 immer wieder betont, dass die revolutionäre Partei ein politischer Bezugs- und Orientierungspunkt der proletarischen Revolution sein muss, aber dass sie niemals Staat sein (bzw. zum Staat werden darf) und den Sozialismus auch nicht alleine aufbauen kann. Letzteres ist die Aufgabe der Klasse als ganzes, indem sie ihre eigenen Klassenorgane (wie z.B. Räte) hervorbringt und kontrolliert.

Piranis Untersuchung bestätigt nicht nur diesen Bezugsrahmen, sondern zeigt eindrücklich auf, dass das Proletariat in der Lage ist seine eigenen Instrumente der Befreiung hervorzubringen. Er stellt die Frage, ob die Dinge auch anders hätten ausgehen können, und kommt richtigerweise zu dem Schluss, dass angesichts der materiellen Umstände (einschließlich der Niederlagen der Arbeiterevolutionen außerhalb Russlands) die Dinge sich kaum anders hätten entwickeln können. Gleichwohl hätte Pirani zufolge 1921 eine offenere Haltung der Kommunisten zur Arbeiterdemokratie ein leichteres Erbe hinterlassen als der Monolithismus eines angeblichen „Arbeiterstaates“. Pirani beendet seine Untersuchung mit einen ermahnenden Zitat von Victor Serge aus dem Jahre 1920:

„Die unerbittliche Logik der Geschichte hat anscheinend bisher nur sehr wenig Spielraum für den libertären Geist in den Revolutionen eröffnet. Das liegt daran, dass die Freiheit des Menschen die das Produkt von Kultur und Entwicklung des Bewusstseins ist, nicht mit Gewalt erreicht werden kann. Und dennoch ist die Revolution - auch mit Waffengewalt notwendig, um eine Entwicklung zu einer freien Assoziation freier Produzenten, zur Anarchie zu eröffnen. Daher ist es umso wichtiger in allen diesen Kämpfen den libertären Geist am Leben zu halten.“

Revolutionäre können dem nur zustimmen. Piranis Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der vielfältigen Gefahren, die wir beim Kampf für eine freie Gesellschaft überwinden müssen.

Jock

(1) Pirani, Simon: The Russian Revolution in Retreat, 1920-24 Sovjet Workers and the New Communist Elite, Oxford/New York, 2009. (ca. 25 Euro).

(2) CWO: 1917 - Party, Class and Soviets in the October Revolution.

(3) Lenin Werke, Bd. 33, Seite 275, Berlin 1985