You are here
Startseite ›„Der Prolog der Revolution“ - Erster Teil: Das Element der Spontanität in der Russische Revolution von 1905
Vor 120 Jahren schlug die Revolution von 1905 ein neues Kapitel in der Geschichte des Klassenkampfes auf. Sie läutete das Ende einer langen Periode des relativen sozialen Friedens in Europa ein, die der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune im Mai 1871 folgte. Obwohl es damals für kaum jemanden ersichtlich war, begann mit ihr ein neuer Zyklus des Widerstands der ArbeiterInnenklasse, der 1917 im Sieg der Oktoberrevolution gipfelte. Wie wir bereits mehrfach ausgeführt haben, bot die russische Oktoberrevolution von 1917 der ArbeiterInnenklasse zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine reale Möglichkeit, die kapitalistische Weltordnung zu stürzen. Doch die Geschichte verlief anders. Wir sind wiederholt darauf eingegangen, wie die auf einem wirtschaftlich vollkommen zerrütteten Territorium isolierte russische Revolution in der stalinistischen Tyrannei endete.(1) Heute ist es eine unsere wichtigsten Aufgabe, all die Lügen und Verzerrungen zu bekämpfen, die auf diese Niederlage in den 20er Jahren folgten, um aufzuzeigen, dass die ArbeiterInnenklasse, wo auch immer sie in ihrem Bewusstseinsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt stehen mag, die einzige Klasse ist, die das Potenzial hat, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Diese ist heute umso wichtiger, da auch wir eine lange Periode des Rückzugs der ArbeiterInnenklasse hinter uns haben. Unablässig fügt eine zunehmend selbstbewusste, wenn nicht gar arrogant auftretende herrschende Klasse dem Proletariat, das sie vollständig zu kontrollieren glaubt, immer mehr Leid und Elend zu. Die Revolution von 1905 ist auch für uns heute eine wichtige Episode, denn auch sie begann in einer wenig vielversprechenden Ausgangsposition. Daher wollen wir auf diesen „Prolog der Revolution von 1917“, wie es Leo Trotzki formulierte intensiver eingehen. Den Charakter der Sowjets oder Räte werden wir in einem weiteren Text gesondert behandeln. An dieser Stelle möchten wir uns hier auf die Entstehung der Streiks und der Bewegung konzentrieren, die im Oktober 1905 zur Herausbildung der Räte führte.
Die Revolution beginnt auf wenig aussichtsreichem Terrain
Die meisten Menschen wissen, dass der Auslöser der Revolution der sog. „Blutsonntag“ am 22. Januar 1905 war. Was viele Menschen (darunter offenbar auch Autoren wie Tony Cliff(2) oft nicht wissen, ist, dass es an diesem Tag nicht nur eine Demonstration gab, sondern mehrere, an denen Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern, Männer und Frauen mit ihren Kindern teilnahmen und zum Zarenpalast im Zentrum der Stadt zogen. Ein Korrespondent der Londoner „Times“, keinesfalls ein überzeugter Verfechter der Sache der ArbeiterInnenklasse, beschrieb die Ereignisse folgendermaßen.
Ein perfekterer und schönerer Tag dämmerte. Die Luft war frisch und der Himmel fast wolkenlos. Die vergoldeten Kuppeln der Kathedralen und Kirchen, von der Sonne glänzten im Lichte der Sonne und bildeten ein herrliches Panorama. Ich bemerkte eine deutliche Veränderung in der Haltung der Passanten. Sie alle gingen einzeln oder in kleinen Gruppen in Richtung des Winterpalast. Ich schloss mich dem Strom der arbeitenden Menschen an. Kein Beobachter konnte sich des Eindrucks des Blicks der grimmigen Entschlossenheit in den Gesichtern erwehren. Es hatte sich bereits eine Menge von vielen Tausenden versammelt, wurde aber an den Durchgangsstraßen durch berittene Truppen daran gehindert, den Platz zu betreten. Jetzt begangen die die Massen zu drängen und rückten bedrohlich nach vorne vor. Die Kavallerie rückte im Schritttempo vor und verstreute die Menschen nach rechts und links. Ein Ereignis folgte auf das andere mit solch verwirrender Schnelligkeit, dass die Öffentlichkeit erschüttert und schockiert ist. Die ersten Unruhen begannen um 11 Uhr, als das Militär versuchte Tausende von Streikenden an einer der Brücken zurückzudrängen. Das Gleiche geschah fast zeitgleich an anderen Brücken, wo der ständige Strom von Arbeitern vorwärts drängte und sich weigerte, sich den Zugang zu dem gemeinsamen Treffpunkt auf dem Palast Platz versperren zu lassen. Die Kosaken benutzten zunächst ihre Peitschen, dann die flachen Säbel, und schließlich schossen sie. In den vorderen Reihen fielen die ersten auf die Knie und flehen die Kosaken an, sie passieren zu lassen und beteuerten, dass sie keine feindlichen Absichten hätten. Sie ließen sich jedoch nicht durch die abgefeuerten Platzpatronen einschüchtern, und es wurde der Befehl gegeben mit scharfen Kugeln zu laden. Die Leidenschaften des Pöbels brach wie ein Dammbruch los. Das Volk, versuchte die Toten und Sterbenden in alle Richtungen fortzutragen, der Schnee auf den Straßen und Gehwegen war Blut getränkt, schrie laut nach Rache. Inzwischen spitzte sich die Lage vor dem Palast augenblicklich zu. Die Truppen waren nicht mehr in der Lage, die riesigen Massen, die ständig vorwärts drängten zu stoppen. Verstärkung wurden geschickt, und um 2 Uhr wurde auch hier wurde der Befehl zum Feuern gegeben. Männer, Frauen und Kinder fielen bei jeder Salve und wurden in Krankenwagen, Schlitten und Karren abtransportiert. Die Empörung und Wut aller Gesellschaftsklassen wurden geweckt. Studenten, Kaufleute. alle waren gleichermaßen entflammt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift, wird in jedem Viertel der Stadt geschossen. Vater Gapon, der an der Spitze einer großen Gruppe von Arbeitern ging, die ein Kreuz und andere religiöse Embleme trugen, wurde an Arm und Schulter verwundet. Die ArbeiterInnen sind nun in zwei Gruppen getrennt. Diejenigen auf der anderen Seite des Flusses bewaffnen sich mit Schwertern, Messern, Schmiedewerkzeugen und Arbeitsgeräten und errichteten Barrikaden. Die Truppen sind scheinbar rücksichtslos, feuern rechts und links, mit oder ohne Grund. Die Protestierenden appellieren weiter an sie, und rufen: `Ihr seid Russen! Warum spielt ihr das Spiel der blutrünstigen Geschäftemacher? ´ Schreckliche Angst herrscht in jedem Haushalt, in dem ein Mitglied vermisst wird. Aufgeregte Ehemänner, Väter, Ehefrauen und Kinder suchen nach den Vermissten. Die Chirurgen und die Krankenwagen des Roten Kreuzes sind im Einsatz. Eine Nacht des Schreckens ist absehbar.(3)
Der Pope Gapon, der diese Demonstration anführte, stand im Dienste der Geheimpolizei Ochrana. Gleichwohl seinen Auftraggebern des Zaren aus dem Ruder gelaufen. Gapon wurde verwundet, als er eine Gruppe von ArbeiterInnen zum Narva-Tor führte, das an der südlichen Zufahrt zur Stadt liegt und Meilen vom Winterpalast entfernt ist. Zar Nikolaus II. hatte sich in seinen Palast in Zarskoje Selo außerhalb der Stadt zurückgezogen, allerdings den Befehl ausgegeben, dass keine ArbeiterInnen den Winterpalast erreichen durften. Das Massaker, das viele Bolschewiki (und auch andere Sozialistinnen und Sozialisten) vorhergesagt hatten, war somit vorprogrammiert. Eine friedliche Menge, die „Gott schütze den Zaren“ sang und Bilder ihres „Väterchen Zar“ bei sich trug, war von Gapon überredet worden, dem Zaren eine von ihm initierte Bittschrift zu übergeben.
Diese besagte Bittschrift war weniger aus der ArbeiterInnenbewegung, sondern aus dem linksliberalen intellektuellen im Umfeld des Popen Georgi Gapon hervorgegangen. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, indem sie Zar Nikolaus II förmlich anbetteltet bessere Bedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter zu schaffen. Doch sie war keineswegs von ArbeiterInnen verfasst worden, auch wenn Trotzki davon ausging, und daraus folgerte, dass sie „die schwammigen Phraseologie der liberalen Resolutionen durch die prägnante Forderungen der politischen Demokratie ersetzte, und diesen Forderungen einen Klasseninhalt gab, indem sie das Streikrecht und den Achtstundentag forderte.“
Außerhalb des Kontextes der zaristischen Autokratie hätte die besagte Bittschrift wohl kaum revolutionäre Implikationen nach sich ziehen können. Zar Nikolaus II war ein vom „Gottesgnadentum“ zutiefst überzeugter Herrscher. Den Liberalen hatte er unmittelbar nach seiner Thronbesteigung erklärt, dass die Forderung eines repräsentativen Regierungssystems „ein sinnloser Traum“ sei. Nun wollten die Liberalen (die gerade im Begriff waren ihre eigene „Partei die Konstitutionellen Demokraten“ oder kurz „Kadetten“ zu gründen) die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter nach einem besseren Leben mit ihrem eigenen demokratischen Programm verknüpfen. Der Hauptzweck der Bittschrift bestand darin, die Welle der Unzufriedenheit, die damals durch den Streik in den großen Putilow-Werken in St. Petersburg zum Ausdruck kam, in eine Kampagne für eine Verfassung einfließen zu lassen. Nahezu jede Klasse der russischen Gesellschaft konnte sich in der sehr weit gefassten Bittschrift des Popen Gapon wiederfinden. Oder wie es Trotzki formulierte „ihre historische Bedeutung lag weniger in ihrem Wortlaut, sondern in den Umständen. Die Bittschrift war nur der Prolog zur Aktion, die die Massen vereinigen sollte.“
Kurzum, obwohl es ein kluger Schachzug der bürgerlichen Intelligenz war, die ArbeiterInnen und Bauernschaft dazu zu bringen, für ihr Programm zu kämpfen und zu sterben, war das ganze Unterfangen zum Scheitern verurteilt, da es keine wirkliche soziale oder politische Grundlage für dieses Programm gab. Die Forderung nach Wahlen und verfassungsmäßigen Freiheiten war das Hauptanliegen der Liberalen (von denen die meisten in jeder westeuropäischen Gesellschaften, selbst zu dieser Zeit, als konservativ gegolten hätten). Die Forderungen nach Abschaffung der Ablösesummen (die die Bauern 57 Jahre lang als Entschädigung für ihre „Befreiung“ aus der Leibeigenschaft im Jahr 1861 an ihre ehemaligen Grundherren zahlen mussten), nach Umverteilung des Bodens und nach Abschaffung der indirekten Steuern zielten vornehmlich darauf ab, die Unterstützung der Bauernschaft zu gewinnen.
Genuin proletarische Forderungen, die Trotzki so enthusiastisch feierte, waren jedoch nicht so klar vertreten. Gapon und seine Kumpane kamen jedoch unter dem zunehmenden Druck der wenigen Sozialdemokraten, die sich Gehör verschaffen konnten, nicht umhin, einige Forderungen der ArbeiterInnen wie den Achtstundentag und das Streikrecht in die Petition einzubauen. Doch diese standen in einem ungünstigen Verhältnis zu den Forderungen nach einer Vertretung der Kapitalistenklasse, während das Gerede das Aufträge für die russische Marine nur an russische Firmen vergeben werden sollten, der Beigeschmack des nationalistische gefärbten Militarismus anhaftete, der damals in der Bourgeoisie in ganz Europa vorherrschte.
Die Lage der ArbeiterInnenklasse in Russland im Jahr 1900
Das Dokument verrät nur wenig über die Bedingungen der russischen ArbeiterInnenklasse. Trotzki verkündete in seinem Schrift über die Revolution von 1905, dass „unsere Revolution den Mythos der Einzigartigkeit Russlands zerstörte.“ Damit meinte er, dass der Klassenkampf in Russland zum ersten Mal die Gestalt des Klassenkampfes im übrigen Europa annahm.
1899 hatte Lenin in seiner Schrift „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ nachgewiesen, dass sich in Russland kapitalistische Verhältnisse durchgesetzt und sich mit einer Klasse landloser Arbeiter sowohl in der Stadt als auch auf dem Land ein beträchtliches Proletariat herausgebildet hatte. Doch die Mehrheit der Sozialdemokraten (Lenin eingeschlossen) war immer noch der Meinung, dass eine Revolution in Russland eher einen bürgerlich-demokratischen als eine proletarische Charakter annehmen würde. Die Schwäche der russischen Bourgeoisie und die entsetzlichen Bedingungen der Ausbeutung der russischen Arbeiterinnen und Arbeiter im Zarenreich sollten diese Erwartungen jedoch bald über den Haufen werfen.
Trotzki bereitete sich darauf vor, eine Revision der Sichtweise der russischen Sozialdemokratie vorzunehmen, indem er aufzeigte dass der russische autokratische Staat durch militärische Erfordernisse und Druck von außen stets gezwungen war, bei der Entwicklung der Produktionsmittel eine Führungsrolle einzunehmen:
Als unsere sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft begann, das Bedürfnis nach den politischen Institutionen des Westens zu verspüren, hatte sich die Autokratie, unterstützt durch europäische Technologie und europäisches Kapital, bereits in den größten kapitalistischen Unternehmer, den größten Bankier, den Monopolbesitzer von Eisenbahnen und Einzelhandelsgeschäften für Spirituosen verwandelt . Dabei wurde sie vom zentralisierten bürokratischen Apparat unterstützt. Der in keiner Weise geeignet war, die neuen Verhältnisse zu regeln, aber durchaus in der Lage war, systematische Repression mit erheblicher Energie anzuwenden.(4)
Die Bauern und Handwerker wurden durch massive indirekte Steuern regelrecht ausgepresst und der größte Teil der Staatsausgaben (über 80 % im 18. Jahrhundert und selbst im späten 19. Jahrhundert nie unter 50 %) floss in das Militär, nicht so sehr um auswärts Kriege zu führen, sondern um die Überwachung des Russischen Reiches sicherzustellen. Die Unfähigkeit, technologisch fortschrittlichere ausländische Feinde zu bekämpfen, zeigte sich im Krimkrieg, als Russland, obwohl es auf heimischem Boden kämpfte, einem inkompetenten Gegner gegenüberstand und trotz der Selbstaufopferung seiner Leibeigenen Armee dennoch verlor. Mitten in diesem Krieg kam Alexander II. auf den Thron, und obwohl er kein begeisterter Reformer war, kam er zu dem Schluss, dass es keine andere Möglichkeit gab, als die Leibeigenschaft von oben abzuschaffen, „bevor sie beginnt, sich von unten abzuschaffen“.
Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 setzte ein wirklicher Prozess der kapitalistischen Entwicklung ein, da viele Bauern nun zu landlosen Arbeitern und damit zu Proletariern wurden. Viele zogen in den nächsten zwei Generationen in die Städte, als Russland eine verspätete industrielle Revolution erlebte, die vom Staat und ausländischem (fast ausschließlich französischem) Kapital gefördert wurde.
Dies hatte enorme Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Gesellschaft. Es behinderte nicht nur die Herausbildung einer eigenständigen Unternehmerbourgeoisie, sondern sorgte auch dafür, dass die kapitalistische Entwicklung spät und unter der Fuchtel des Staates stattfand. Dies hatte auch Folgen für das Wesen des Proletariats im Russischen Reich. Entgegen den Aussagen einiger Historiker bildete das Proletariat bis 1905 einen bedeutenden Teil der russischen Gesellschaft. Während die meisten Historiker behaupten, dass nur 3 Millionen Menschen Proletarier waren, waren laut der Volkszählung von 1897 tatsächlich mehr als 9 Millionen Menschen in Bergwerken, Fabriken und im Transportwesen beschäftigt. Mit den von ihnen durch Familienbande abhängigen Personen stieg die Zahl auf über 20 Millionen, was 27,8 % der damaligen russischen Bevölkerung entsprechen würde. Natürlich wurden sie von offizieller Seite nicht als „Proletarier“ oder gar als „Arbeiterklasse“ eingestuft, sondern als „Bauern“, da der Zarismus diese neue Kategorie nicht einmal in der Volkszählung von 1910 anerkannt hatte (und zwei Drittel der Petersburger Bevölkerung als „Bauern“ eingestuft wurden). In der herrschenden Klasse herrschte viel Wunschdenken vor (besonders bei dem für die Industrialisierung am meisten verantwortlichen Sergej Witte). Sie glaubten Russland industrialisieren zu können, ohne ein Proletariat hervorzubringen, das wie im Westen den Ruf einer Klasse von Unruhstiftern hatte. Die Hoffnungen in dieser Richtung waren nicht ganz unbegründet. Immerhin waren 1905 40 % der russischen ArbeiterInnen als Bauern geboren worden. Da diese ArbeiterInnen viel stärker an das Land gebunden waren als ihre Kollegen im Westen, schickten viele von ihnen Geld nach Hause, um die außerordentlich hohen Steuern auf bäuerliches Gemeindeland und die Ablösesummen zu bezahlen, die die Bauern mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer „Befreiung aus der Leibeigenschaft“ im Jahr 1861 immer noch zahlen mussten. Viele kehrten für den Sommer zurück auf das Land, um bei der Ernte zu helfen, und die meisten von ihnen waren Analphabeten. Die wichtigste Grundbildung erhielten sie immer noch durch die orthodoxe Kirche, die Loyalität zum Zaren als Vertreter Gottes auf Erden predigte.
Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Um 1900 hatte die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse in der zweiten oder dritten Generation ihre bäuerlichen Wurzeln abgestreift. Darüber hinaus wurden die Schrecken der Industrialisierung, die die westeuropäischen ProletarierInnen im neunzehnten Jahrhundert heimgesucht hatten, auch noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von den russischen Arbeiterinnen und Arbeiter durchlebt. In den meisten Fällen war die Situation schlimmer als die, die Friedrich Engels in seiner Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse“ am Beispiel England beschrieben hatte. Alleinstehende Männer lebten in Wohnheimen, die oft keine sanitären Anlagen und keine Heizung hatten und in denen selbst das Recht auf ein verlaustes Bett nur für die Dauer der arbeitsfreien Zeit galt. Familien hatten oft keine Wohnung, sondern schliefen oft bei den Maschinen in der Fabrik in der sie arbeiteten. Dies erklärt mitunter das niedrige Niveau der Kinderarbeit in den Fabriken im Vergleich zu den früheren Zeiten in Westeuropa. Die Kinder unter zehn Jahren blieben in der Regel bei den Großeltern im Dorf. Dies bedeutete, dass sich das Proletariat in St. Petersburg und Moskau überwiegend aus ArbeiterInnen beiderlei Geschlechts im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren zusammensetzte. Es handelte sich um ein hochkonzentriertes Proletariat, das sich nicht nur auf einige wenige geografische Gebiete beschränkte, die mit dem Bergbau, der Textilindustrie und dem Maschinenbau verbunden waren, wie bspw. Charkow und der Donbass in der Ukraine. Die Fabriken in den Städten galten in Anbetracht des eingesetzten konstanten Kapitals und der neuesten fordistischen Organisation der Arbeitsabläufe und einer riesigen Konzentrationen von ArbeiterInnen als modern. Doch was die Arbeitsbedingungen anging, sah die Sache anders aus. Der Elfstundentag und die Sechstagewoche waren die Norm. Die Löhne konnten oft gekürzt werden (es gab hohe Geldstrafen für das geringste Vergehen). Im zaristischen Polizeistaat wurde auch der kleinste Ansatz von Protest und Organisation mit Gewehren und Verbannung beantwortet.
Der Staat versuchte bewusst, die russischen ArbeiterInnen im gleichen Zustand der Unterwürfigkeit wie die verarmte Landbevölkerung zu halten. In den Dorfgemeinschaften (Mir) waren nach 1861 die Ältestenausschüsse (die sog. „Starosti“) für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, die Neuaufteilung des Landes und die Rolle des Grundbesitzers zuständig. Für den Staat war dies wichtig, da er jemanden hatte, den er zur Verantwortung ziehen und ihm die Schuld geben konnte, wenn es Probleme oder Unruhen gab. Ab Mai 1901 beschlossen die Minister des Zaren, dass das Gleiche auch auf ArbeiterInnenklasse angewendet werden könne. Sie waren besorgt, da die Delegierten, die die ArbeiterInnen während der immer häufiger auftretenden Streiks (oft auf Wunsch der Unternehmer) wählten und ihre Forderungen vorzubringen, von denselben Unternehmern immer wieder als Rädelsführer entlassen wurden. Dies widersprach den Gepflogenheiten einer Gesellschaftsordnung die sich gerne einen paternalistischen Anstrich gab, weshalb 1903 beschlossen wurde, den ArbeiterInnen und Unternehmern das System der „Starosti“ aufzuerlegen. Die Unternehmer weigerten sich oft, sie anzuerkennen, und die ArbeiterInnen betrachteten sie mit Misstrauen. Ein sozialistisches Flugblatt der Sozialdemokraten brachte diese Haltung folgendermaßen auf den Punkt:
Kollegen! Wir brauchen keine Starost und keine Lakaien unserer Herren! Was wir brauchen, sind Arbeiterorganisationen und Arbeitervereinigungen. Sie sehen, wie sie uns mit Starost getäuscht haben ... Wir brauchen „Vereinigungs-, Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit.(5)
Die „Starosti“ erwiesen sich auch bald als unfähig eine massive Streikwelle zu verhindern, die 1902/03 in Südrussland ausbrach und an der sich 225.000 ArbeiterInnen beteiligten. Angesichts der steigende Flut von Streiks und Bauernaufständen in dieser Zeit, bat der Innenminister Plehwe den Zaren ihm 10 Jahre einzuräumen, um die wachsende ArbeiterInnenbewegung mit äußerster Brutalität niederschlagen zu können. Gleichzeitig riet er dem Zaren, das Land durch einen „kurzen, siegreichen Krieg“ zu einigen und den Patriotismus wiederzubeleben. Allerdings muss ein Krieg auch vorbereitet werden, nicht zuletzt um eine Bevölkerung auf ihn vorzubereiten, die ihn führen und letztlich ausbaden muss. Das Streben nach einem eisfreien Hafen im Fernen Osten führte zu wachsenden Rivalitäten mit Japan.
Die herrschende Klasse Russlands war davon überzeugt, dass Japan sogar noch rückständiger als Russland sei und ging mit allen diplomatischen Delegationen, die die japanische Regierung zu Verhandlungen schickte, auf äußerst provokante Weise um. Die japanische Armee startete daher einen Überraschungsangriff auf Port Arthur in China, wo die russische Pazifikflotte stationiert war. Nachdem diese zerstört war, konnten japanische Truppen nach Korea einmarschieren und schließlich der russischen Armee in der Mandschurei entgegentreten. Ein Krieg, der bei der Bevölkerung keine große Begeisterung hervorgerufen hatte, entwickelte sich für die herrschende Klasse Russlands zu einem Albtraum. Zwei ihrer brutalsten Verteidiger, der Innenminister Plehwe und der Onkel des Zaren, Großfürst Sergei, wurden von Sozialrevolutionären ermordet. Die durch den Krieg verursachte zunehmende Entbehrung und Inflation führten zu einem Wiederaufleben genau der Streiks und Bauernunruhen, die der Krieg eigentlich beenden sollte.
Die „Subatowschina“
Dies war der Hintergrund des Streiks in den großen Putilow-Werken in St. Petersburg im Dezember 1904. Der zaristische Staat war jedoch noch nicht allzu sehr besorgt, da er noch ein anderes Ass im Ärmel hatte, um die Kämpfe der ArbeiterInnen unter Kontrolle zu bringen. Im Jahr 1901 wendeten sich die ArbeiterInnen mit dem Aufkommen einer neuen Welle von Kämpfen zum ersten Mal verstärkt den sozialdemokratischen Gruppen zu. Dies und das Scheitern der „Starost“ bewegte den Direktor des Moskauer Büros der Geheimpolizei Ochrana, Sergej Subatow, mit einer neuen Methode zu experimentieren, um die Forderungen der ArbeiterInnen auf einem rein wirtschaftliches Terrain zu halten. In Moskau rief er eine „Gesellschaft für gegenseitige Hilfe für Arbeiter“ ins Leben, die sich als so erfolgreich erwies, dass sie auf andere Städte wie Kiew, Odessa, Charkow und Minsk ausgedehnt wurde. Die Versuche der sozialdemokratischen Gruppen, sich an ihnen zu beteiligen, wurden zunächst abgewehrt, da die immer noch konservativ eingestellten ArbeiterInnen ihren Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen nicht politisieren wollten. Die Polizeibeamten, die den ArbeiterInnen zur Seite standen, waren so entschlossen, die Loyalität zum Zaren aufrechtzuerhalten, dass sie den ArbeiterInnen sogar versprachen, dass die Betriebe verstaatlicht würden, wenn die Unternehmer nicht mit den Gesellschaften zusammenarbeiteten.
Ein bolschewistischer Historiker drückte es so aus
Subatows Agenten gingen so weit, zu versprechen, dass die Regierung die Fabriken bald den Unternehmern wegnehmen und den Arbeitern übergeben würde. Die Regierung, so sagten sie, sei bereit, alles für die Arbeiter zu tun, hörte jedoch nicht mehr auf die „kleine Intelligenz“. Bei einigen Streiks unterstützte die Polizei die Streikenden sogar, zahlte ihnen Unterstützungsgelder und so weiter!(6)
Die Bolschewiki hatten klar erkannt, dass das Ziel der Subatow-Gewerkschaften darin bestand, die Ausweitung der Klassenbewegung zu verhindern, und bekämpften sie. Als sich jedoch die Streikwellen und die Krise gegen 1905 häuften, erlangten diese Gewerkschaften plötzlich eine andere Bedeutung, da sie eine der wenigen legalen Möglichkeiten darstellten, in denen Revolutionäre mit der ArbeiterInnenklasse diskutieren konnten, ohne verhaftet zu werden. Lenin war bereits besorgt darüber, dass die Bolschewiki (und faktisch alle sozialdemokratischen Gruppen) unter den ArbeiterInnen im Allgemeinen wenig Einfluss hatten, und er erkannte, dass die Subatow-Gewerkschaften ihren geplanten Zweck für das Regime nicht wirklich erfüllen konnten. Er verstand, dass die ArbeiterInnen in dem Maße, wie sie sich radikalisierten, zu mehr politischem Handeln gezwungen werden würden. Er forderte daher die Bolschewiki auf, den Subatow-Gewerkschaften beizutreten und nach Möglichkeit die Führung in ihnen zu übernehmen. Dagegen wehrten sich die örtlichen Kader der Bolschewiki-Führer mit dem triftigen Argument, dass die politische Ausrichtung und Zielsetzung der Subatow-Gewerkschaften doch wohl auf der Hand liege. Ihre ersten Versuche, in ihnen Einfluss zu gewinnen trafen auf harten Widerstand und bis 1905 hatten sie kaum Fortschritte gemacht. Diese Erfahrung bietet Lehren für die RevolutionärInnen von heute. Wir müssen verstehen, dass Organisationen, in denen ArbeiterInnen vertreten sind, die aber scheinbar eine nicht gerade vielversprechend Ausrichtung haben, unter dem Druck des Klassenkampfes zu einer anderen Entfaltung kommen können. Unter bestimmten Umständen der Entwicklung des Klassenkampfs muss nicht alles so sein wie es auf den ersten Blick erscheint. Wir müssen verstehen was im tatsächlichen Klassenkampf tatsächlich vorgeht und versuchen mit den Entwicklungen Schritt zu halten.
Dass der Subatowismus nach hinten losgehen würde, wurde erstmals während eines von den Subatow-Gewerkschaften angeführten Streiks in Odessa im Juli 1902 deutlich. Er wurde praktisch von der gesamten Stadt unterstützt, was fast automatisch zu politischen Forderungen nach einem Ende der polizeilichen Unterdrückung usw. führte. Der Streik breitete sich dann 1903 auf ganz Südrussland aus. Subatow wurde entlassen und aufs Altenteil geschickt. Die Saat für die unmittelbare Zukunft war jedoch bereits gesät worden. Subatows Pläne sahen die Wahl von fabrikweiten ArbeiterInnenausschüssen in Moskau vor:
Die Vorsitzenden wurden von Arbeiterversammlungen in vielen Stadtteilen gewählt, die sich regelmäßig trafen und einen „Rat (Sowjet) der Arbeiter in der mechanischen Industrie“ bildeten. Dieser Rat war die höchste Ebene, an die sich die Arbeiter mit Problemen und Beschwerden wenden konnten: Er überwachte die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften in den Fabriken und verhandelte bei Bedarf mit Fabrikinspektoren. Nach der Liquidierung von Subatows Gesellschaft Ende 1903 kam auch die Tätigkeit des Sowjets zum Erliegen; einige seiner Mitglieder waren 1905 aktiv an der Gründung von Gewerkschaften beteiligt.(7)
Natürlich waren diese Räte oder Sowjets kaum revolutionär und verschwanden Ende 1903, aber in Ermangelung einer Gewerkschaftstradition waren sie eine der wenigen Organisationsformen, auf die die russischen ArbeiterInnen zurückgreifen konnten, als die praktischen Erfordernisse der Koordinierung einer ganzen Reihe von Streiks in einer Vielzahl von Branchen und Betrieben im Sommer 1905 zu einer dringenden Notwendigkeit wurden. Hätte die russische ArbeiterInnenklasse eine starke Gewerkschaftstradition gehabt, hätte sie wahrscheinlich nicht eine völlig neue Organisationsform in Gestalt der Räte hervorgebracht. Die entstehenden Sowjets vereinigten auf praktische Weise sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Forderungen der ArbeiterInnen. Gleichwohl sollte ihr Entwicklungsprozess noch mehrere Monate dauern.
Die Folgen des Blutsonntags
Ende 1904 war Subatow zwar verschwunden, aber seine Agenten setzten seine Arbeit fort. In St. Petersburg nannte sich die von ihnen inspirierte Gewerkschaft „Versammlung der russischen Fabrikarbeiter von St. Petersburg“ und wurde von Gapon geleitet. Ihm gelang es, das sehr widersprüchliche Klassenbewusstsein der jungen Arbeiter anzuzapfen, die SozialistInnen aus der Versammlung auszuschließen und die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, dass der Zar wirklich auf ihrer Seite gegen die Kapitalisten stand. Die Zahl der Streiks in St. Petersburg hatte Ende 1904 zugenommen, und als vier Mitglieder der Gewerkschaft von Gapon entlassen wurden, legten am 3. Januar 1905 12000 ArbeiterInnen die Arbeit nieder. Am 7. Januar befanden sich 140 000 Petersburger ArbeiterInnen im Streik. Um die Wut der ArbeiterInnen im Zaum zu halten, schlug Gapon die Prozession zum Winterpalast vor, um die besagte Petition an den Zaren zur überreichen. Nachdem ihre friedliche Bittschrift von den Säbeln der Kosaken sprichwörtlich in Stücke gehauen worden war, ging Gapon dazu über den Zaren offiziell zu verdammen und zu exkommunizieren umso seine Tarnung aufrechtzuerhalten, aber das Proletariat war ihm bereits voraus.(8) Eine in der russischen Geschichte noch nie dagewesene Streikwelle rollte über das ganze Land und erfasste 122 Städte und Ortschaften, mehrere Bergwerke im Donezbecken und zehn Eisenbahnlinien Russlands. Mehr als eine Million ArbeiterInnen streikten gleichzeitig. Sowohl Rosa Luxemburg (die sich zu dieser Zeit in Russland aufhielt) als auch Trotzki bemerkten, wie sich die Streikwelle sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht entwickelte, wobei das eine das andere manchmal überlappte. Luxemburg übertreibt den Einfluss der Sozialdemokratie auf die Arbeiterkämpfe vor 1905, um ihre Behauptung zu untermauern, dass die Aktion über die gängigen sozialdemokratischen Vorstellungen eines organisierten Generalstreiks hinausging (eine Debatte, die sie in der deutschen Sozialdemokratischen Partei führte), doch die Dynamik der Bewegung erfasste sie korrekt:
Die Januar- und Februargeneralstreiks brachen im Voraus als einheitliche revolutionäre Aktion unter der Leitung der Sozialdemokratie aus; allein diese Aktion zerfiel bald in eine unendliche Reihe lokaler, partieller, ökonomischer Streiks in einzelnen Gegenden, Städten, Branchen, Fabriken. Den ganzen Frühling des Jahres 1905 hindurch bis in den Hochsommer hinein gärte im gesamten Riesenreich ein unermüdlicher ökonomischer Kampf fast des gesamten Proletariats gegen das Kapital, ein Kampf, der nach oben hin alle kleinbürgerlichen und liberalen Berufe: Handelsangestellte, Bankbeamte, Techniker, Schauspieler, Kunstberufe, ergreift, nach unten hin bis ins Hausgesinde, in das Subalternbeamtentum der Polizei, ja bis in die Schicht des Lumpenproletariats hineindringt und gleichzeitig aus der Stadt aufs flache Land hinausströmt und sogar an die eisernen Tore der Militärkasernen pocht.(9)
Die Bewegung pochte zwar an die Tür, aber sie erhielt keine Antwort. Trotz der Meuterei an Bord der Schlachtschiffe „Potemkin“ und „Georgii Pobedonosets“ und trotz der Katastrophen im Fernen Osten blieb das Militär dem zaristischen Staat weitgehend treu und sorgte so für die endgültige Niederlage der revolutionären Welle von 1905. Aber das greift etwas vor. Für den Moment hatte der Zarismus die Kontrolle über Russland faktisch verloren. Trotzki beschreibt die Zeit nach dem Blutsonntag recht anschaulich:
Branche für Branche, Fabrik für Fabrik von einer Stadt in die andere wird die Arbeit eingestellt. Während des gesamten Frühlings 1905 und bis in die Mitte des Sommers hinein tobte im gesamten riesigen Reich ein ununterbrochener wirtschaftlicher Streik fast des gesamten Proletariats gegen das Kapital – ein Kampf, der einerseits das gesamte Kleinbürgertum erfasste und freie Berufe – kaufmännische Angestellte, Techniker, Schauspieler und Angehörige künstlerischer Berufe. Das Eisenbahnpersonal fungiert als Zünder des Streiks. Die Bahnstrecken sind die Kanäle, über die sich die Streikepidemie ausbreitet. Wirtschaftliche Forderungen werden geltend gemacht und fast sofort ganz oder teilweise befriedigt. Aber weder der Beginn noch das Ende des Streiks werden vollständig durch die Art der aufgestellten Forderungen oder durch die Art und Weise bestimmt, in der sie erfüllt werden. Der Streik kommt nicht zustande, weil der wirtschaftliche Kampf seinen Ausdruck in bestimmten klar definierten Forderungen gefunden hat; Im Gegenteil: Die Forderungen werden so gewählt und formuliert, dass sie in einem Streik münden müssen.
Kurz gesagt: Nach dem 9. Januar kannte die Revolution kein Halten mehr. Die Unternehmer gaben in dieser Zeit im Wesentlichen allen Forderungen der ArbeiterInnen nach, aber oft endete der Streik dadurch nicht, da neue Forderungen gestellt wurden. Die Morde, die in Odessa und anderswo in früheren Kämpfen in der Zeit von 1902 bis 1904 stattgefunden wurden gerächt. Es gab zu dieser Zeit so viele Streiks, dass sie kaum gezählt werden konnten. Allerdings blieben alle Streiks ökonomischer Natur. Rosa Luxemburg machte aus dieser Spontaneität eine Tugend, indem sie argumentierte, dass sich „Revolutionen nicht schulmeistern lassen.“ Damit ist lediglich gesagt, dass die Streiks, die auf den Blutsonntag folgten, keine politische Führung hatten und den russischen Staat bis zum Oktober nicht wirklich herausforderten. Luxemburg erkennt dies vage an, wenn sie argumentiert, dass „die Leitung bei Massenstreiks in einem ganz anderen Sinne der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen“ zukomme. „Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mechanismus der Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen“, sei „die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen.“
Dies kommt der Wahrheit über das Verhältnis der politischen Partei und der Klassenbewegung sehr nahe. Doch faktisch war die russische Sozialdemokratie (aller Fraktionen) zu Beginn des Jahres 1905 sehr schwach. Durch die Streiks konnte diese Schwäche überwunden werden, doch als die gelungen war, hatte der Zarismus bereits eine Überlebensstrategie ausgearbeitet.
Währenddessen stand die ArbeiterInnenklasse vor der Herausforderung auf die neuen Winkelzüge des Zarismus organisatorisch zu reagieren. Um Entgegenkommen und ihre Bereitschaft zu signalisieren, den ArbeiterInnen zuzuhören, setzt die zaristische Regierung zwei Kommissionen ein. Die wichtigste war die sog. Schidlowski-Kommission, deren Aufgabe es war, „die Ursachen der Unzufriedenheit der Petersburger Arbeiter“ zu untersuchen. Die Kommission tagte nur zwei Wochen, und forderte die Wahl von Deputierten der ArbeiterInnen die in neun Wahlbezirken je nach Branche durchgeführt werden sollten. Die SozialistInnen erkannten das Potenzial dieser Wahlen und führten Kampagnen durch, während die Menschewiki sie für den Beginn von etwas Bedeutendem hielten, versprachen sich die Bolschewiki nicht viel davon. Dennoch nutzten sie die Wahlen, um ihren Einfluss unter den ArbeiterInnen auszuweiten. Sie hatten die Lektion der Subatow-Gewerkschaften gelernt.
Die Schidlowsky-Kommission. die sich aus 400 Deputierten der ArbeiterInnen zusammensetzte, trat am 7. Februar (2. März) zusammen. Obwohl sie nur etwa 10 % der Delegierten stellten, konnten die Bolschewiki durchsetzen, dass die ArbeiterInnen eine Liste mit nicht verhandelbaren Forderungen vorlegten, darunter Rede- und Versammlungsfreiheit und die Freilassung verhafteter AktivistInnen. Folgerichtig lehnte die Regierung die Forderungen ab und löste die Kommission drei Tage später wieder auf. Laut dem Historiker Oskar Anweiler lag die eigentliche Bedeutung der Schildowkski-Kommission darin, „durch die Wahl von Fabrikangeordneten den Sowjets als Repräsentanten der Arbeiterklasse der Großstädte den Weg“ geebnet zu haben. Anweiler argumentiert weiter, dass „die Streikbewegung im wahrsten Sinne des Wortes spontan war“. In gewisser Weise hat er Recht. Sie wurden nicht von Parteien (die zu schwach waren) oder Gewerkschaften (die es nicht gab) ins Leben gerufen, aber wie wir hier zu zeigen versucht haben, kamen sie auch nicht aus heiterem Himmel. Sie waren das Produkt bestimmter Tendenzen in der Geschichte der russischen ArbeiterInnenklasse. Weil die Gewerkschaften illegal waren, weil die ArbeiterInnen mit der repressiven Macht eines Polizeistaates konfrontiert waren, gab es für das relativ junge Proletariat des gerade industrialisierten Zarenreichs keine Vermittlungsinstanzen, an die es seine unmittelbaren Forderungen richten konnte. Der „Blutsonntag“ zeigten einmal mehr, dass selbst die einfachsten Forderungen mit Massakern beantwortet wurden, selbst wenn die Bittsteller religiöse Ikonen oder Bilder des Zaren vor sich hertrugen. Lenin hat nicht übertrieben, als er drei Tage nach dem Blutsonntag schrieb:
Die Arbeiterklasse hat eine große Lektion des Bürgerkriegs erhalten; die revolutionäre Erziehung des Proletariats hat an diesem einen Tag so große Fortschritte gemacht, wie sie sie in Monaten und Jahren des grauen, niederdrückenden Alltagslebens nicht hätte machen können.(10)
Im Herbst 1905 sollte sie noch mehr Fortschritte machen, und darauf werden wir im zweiten Teil dieses Artikels eingehen.
Anmerkungen:
(1) Sie dazu bspw. 1921: Beginn der Konterrevolution: leftcom.org sowie Stalinismus ist Antikommunismus!: leftcom.org
(2) So z.B. im ersten Band seiner Lenin-Biographie
(3) James Harvey Robinson, Charles Beard (Hrsg.): Readings from Modern History, Seite 375.
(4) Trotzki:1905, S. 27
(5) Zit. nach O. Anweiler: The Sowjets, New York 1974, Seite 26.
(6) M.M. Pokrowsky, zit. Nach Tony Cliff: Lenin, Vol.1, S.150.
(7) Anweiler, a.a.O. Seite 27.
(8) Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, marxists.org
(9) Gapon gelang zunächst die Flucht ins Exil, wo er auch mit Lenin zusammentraf. Er trat der Sozialrevolutionären Partei bei und kehrte nach Russland zurück. Als seine Tarnung 1907 aufflog wurde der von Mitgliedern der Sozialrevolutionären Partei in einem Wald außerhalb von St. Peterburg gehängt.
(10) Lenin: Der Beginn der Revolution in Russland, LW 8, Berlin 1959, Seite 85.
ICT sections
Grundlagen
- Bourgeois revolution
- Competition and monopoly
- Core and peripheral countries
- Crisis
- Decadence
- Democracy and dictatorship
- Exploitation and accumulation
- Factory and territory groups
- Financialization
- Globalization
- Historical materialism
- Imperialism
- Our Intervention
- Party and class
- Proletarian revolution
- Seigniorage
- Social classes
- Socialism and communism
- State
- State capitalism
- War economics
Sachverhalt
- Activities
- Arms
- Automotive industry
- Books, art and culture
- Commerce
- Communications
- Conflicts
- Contracts and wages
- Corporate trends
- Criminal activities
- Disasters
- Discriminations
- Discussions
- Drugs and dependencies
- Economic policies
- Education and youth
- Elections and polls
- Energy, oil and fuels
- Environment and resources
- Financial market
- Food
- Health and social assistance
- Housing
- Information and media
- International relations
- Law
- Migrations
- Pensions and benefits
- Philosophy and religion
- Repression and control
- Science and technics
- Social unrest
- Terrorist outrages
- Transports
- Unemployment and precarity
- Workers' conditions and struggles
Geschichte
- 01. Prehistory
- 02. Ancient History
- 03. Middle Ages
- 04. Modern History
- 1800: Industrial Revolution
- 1900s
- 1910s
- 1911-12: Turko-Italian War for Libya
- 1912: Intransigent Revolutionary Fraction of the PSI
- 1912: Republic of China
- 1913: Fordism (assembly line)
- 1914-18: World War I
- 1917: Russian Revolution
- 1918: Abstentionist Communist Fraction of the PSI
- 1918: German Revolution
- 1919-20: Biennio Rosso in Italy
- 1919-43: Third International
- 1919: Hungarian Revolution
- 1930s
- 1931: Japan occupies Manchuria
- 1933-43: New Deal
- 1933-45: Nazism
- 1934: Long March of Chinese communists
- 1934: Miners' uprising in Asturias
- 1934: Workers' uprising in "Red Vienna"
- 1935-36: Italian Army Invades Ethiopia
- 1936-38: Great Purge
- 1936-39: Spanish Civil War
- 1937: International Bureau of Fractions of the Communist Left
- 1938: Fourth International
- 1940s
- 1960s
- 1980s
- 1979-89: Soviet war in Afghanistan
- 1980-88: Iran-Iraq War
- 1982: First Lebanon War
- 1982: Sabra and Chatila
- 1986: Chernobyl disaster
- 1987-93: First Intifada
- 1989: Fall of the Berlin Wall
- 1979-90: Thatcher Government
- 1980: Strikes in Poland
- 1982: Falklands War
- 1983: Foundation of IBRP
- 1984-85: UK Miners' Strike
- 1987: Perestroika
- 1989: Tiananmen Square Protests
- 1990s
- 1991: Breakup of Yugoslavia
- 1991: Dissolution of Soviet Union
- 1991: First Gulf War
- 1992-95: UN intervention in Somalia
- 1994-96: First Chechen War
- 1994: Genocide in Rwanda
- 1999-2000: Second Chechen War
- 1999: Introduction of euro
- 1999: Kosovo War
- 1999: WTO conference in Seattle
- 1995: NATO Bombing in Bosnia
- 2000s
- 2000: Second intifada
- 2001: September 11 attacks
- 2001: Piqueteros Movement in Argentina
- 2001: War in Afghanistan
- 2001: G8 Summit in Genoa
- 2003: Second Gulf War
- 2004: Asian Tsunami
- 2004: Madrid train bombings
- 2005: Banlieue riots in France
- 2005: Hurricane Katrina
- 2005: London bombings
- 2006: Anti-CPE movement in France
- 2006: Comuna de Oaxaca
- 2006: Second Lebanon War
- 2007: Subprime Crisis
- 2008: Onda movement in Italy
- 2008: War in Georgia
- 2008: Riots in Greece
- 2008: Pomigliano Struggle
- 2008: Global Crisis
- 2008: Automotive Crisis
- 2009: Post-election crisis in Iran
- 2009: Israel-Gaza conflict
- 2020s
- 1920s
- 1921-28: New Economic Policy
- 1921: Communist Party of Italy
- 1921: Kronstadt Rebellion
- 1922-45: Fascism
- 1922-52: Stalin is General Secretary of PCUS
- 1925-27: Canton and Shanghai revolt
- 1925: Comitato d'Intesa
- 1926: General strike in Britain
- 1926: Lyons Congress of PCd’I
- 1927: Vienna revolt
- 1928: First five-year plan
- 1928: Left Fraction of the PCd'I
- 1929: Great Depression
- 1950s
- 1970s
- 1969-80: Anni di piombo in Italy
- 1971: End of the Bretton Woods System
- 1971: Microprocessor
- 1973: Pinochet's military junta in Chile
- 1975: Toyotism (just-in-time)
- 1977-81: International Conferences Convoked by PCInt
- 1977: '77 movement
- 1978: Economic Reforms in China
- 1978: Islamic Revolution in Iran
- 1978: South Lebanon conflict
- 2010s
- 2010: Greek debt crisis
- 2011: War in Libya
- 2011: Indignados and Occupy movements
- 2011: Sovereign debt crisis
- 2011: Tsunami and Nuclear Disaster in Japan
- 2011: Uprising in Maghreb
- 2014: Euromaidan
- 2016: Brexit Referendum
- 2017: Catalan Referendum
- 2019: Maquiladoras Struggle
- 2010: Student Protests in UK and Italy
- 2011: War in Syria
- 2013: Black Lives Matter Movement
- 2014: Military Intervention Against ISIS
- 2015: Refugee Crisis
- 2018: Haft Tappeh Struggle
- 2018: Climate Movement
Menschen
- Amadeo Bordiga
- Anton Pannekoek
- Antonio Gramsci
- Arrigo Cervetto
- Bruno Fortichiari
- Bruno Maffi
- Celso Beltrami
- Davide Casartelli
- Errico Malatesta
- Fabio Damen
- Fausto Atti
- Franco Migliaccio
- Franz Mehring
- Friedrich Engels
- Giorgio Paolucci
- Guido Torricelli
- Heinz Langerhans
- Helmut Wagner
- Henryk Grossmann
- Karl Korsch
- Karl Liebknecht
- Karl Marx
- Leon Trotsky
- Lorenzo Procopio
- Mario Acquaviva
- Mauro jr. Stefanini
- Michail Bakunin
- Onorato Damen
- Ottorino Perrone (Vercesi)
- Paul Mattick
- Rosa Luxemburg
- Vladimir Lenin
Politik
- Anarchism
- Anti-Americanism
- Anti-Globalization Movement
- Antifascism and United Front
- Antiracism
- Armed Struggle
- Autonomism and Workerism
- Base Unionism
- Bordigism
- Communist Left Inspired
- Cooperativism and autogestion
- DeLeonism
- Environmentalism
- Fascism
- Feminism
- German-Dutch Communist Left
- Gramscism
- ICC and French Communist Left
- Islamism
- Italian Communist Left
- Leninism
- Liberism
- Luxemburgism
- Maoism
- Marxism
- National Liberation Movements
- Nationalism
- No War But The Class War
- PCInt-ICT
- Pacifism
- Parliamentary Center-Right
- Parliamentary Left and Reformism
- Peasant movement
- Revolutionary Unionism
- Russian Communist Left
- Situationism
- Stalinism
- Statism and Keynesism
- Student Movement
- Titoism
- Trotskyism
- Unionism
Regionen
User login
This work is licensed under a Creative Commons Attribution 3.0 Unported License.